Auf glattem Geläuf ...
Was schon am Ankunftstag unangenehm aufgefallen ist, erweist sich im Folgenden als Desaster: Kurze Zeit vor unserem Eintreffen auf Spitzbergen hatte es tatsächlich geregnet - ja, sowas kommt selbst in arktischen Regionen wie diesen im Winter vor und ganz besonders zu Zeiten des Klimawandels! Natürlich war der Regen ein echter "freezing rain" gewesen und hatte blitzschnell zu einer gigantischen Eisplatte geführt, die die ganze Umgebung überzog. Und während bei uns zu Hause die Streudienste solchen regionalen Erscheinungen genau so schnell wie den Unterböden der Autos den Garaus machen, so ist das in diesen Regionen weder üblich noch möglich. Die Konsequenz: Noch wochenlang nach diesem Regen gleicht die ganze Umgebung einem Eispalast und Mensch und Tier müssen sich wohl oder übel daran gewöhnen ...
Und so ist es auch wohl diesmal gewesen, denn Splitt ist zwar vor allen möglichen Eingängen zu sehen, aber wahrhaftig nicht flächendeckend selbst im Ort gestreut. Und trotzdem: Immer wieder sehen wir unglaublich zügig gehende Menschen im Ort und ab und zu taucht sogar manchmal ein Jogger in der Dunkelheit auf - selbstverständlich ordentlich beleuchtet mit Kopflampe.
Überhaupt, die Beleuchtung! Nicht nur forsch ausschreitende Fußgänger fallen auf, sondern ganz besonders fällt auch der Blick auf deren Bekleidung: Kaum jemand, der nicht mit einer grellen Warnweste in der Dunkelheit unterwegs und teils selbst auch aktiv beleuchtet ist mit diversen Lampen und Reflektoren. Warum das Ganze, erschließt sich dem Betrachter in kürzester Zeit: Zwar gibt es auf Spitzbergen (großzügig gerechnet) nur ein insgesamt rund 40 km langes befahrbares Straßennetz, aber dennoch ist im Ort und seiner Umgebung der Autoverkehr deutlich spürbar. Und später werden wir auch hinter dem Steuer erleben, wie unangenehm es sein kann, wenn überall in der Dunkelheit auch außerhalb der vorhandenen Straßenbeleuchtung dunkle Fußgänger unvermittelt auftauchen und damit für sich und die Autofahrer zur ständigen Gefahr werden können.
Also läuft jeder, der selbst zur mittäglichen Dunkelheit draußen unterwegs ist, sicherheitshalber mit Warnweste und/oder beleuchtet herum, eine durchaus sinnvolle Angewohnheit in der Polarnacht!
Was ebenfalls auffällt, ist einer der Gründe für durchaus zügiges Gehen mancher Fußgänger trotz unübersehbaren Eisplatten. Die meisten von ihnen verraten durch ein knirschendes Geräusch bei jedem Schritt, warum sie so unerschrocken trotz des Eises unterwegs sind: Fast alle tragen Spikes unter ihren Schuhen, auch das hier und heute wohl unverzichtbar ..!
Dennoch versuchen wir einen ersten kurzen Ausflug: Wir wollen die gut erkennbar hell beleuchtete Kirche von Longyearbyen aufsuchen, die auf einer Anhöhe vor dem nun nahezu unsichtbaren schneebedeckten Berg dahinter liegt - ein sehr interessanter Ort, den wir von unserem Sommeraufenthalt in bester Erinnerung haben, kann man hier doch nicht nur Zeitung und mit WLAN Emails lesen. Auch gibt es Kaffee und Tee im Ausschank und überhaupt ist diese Kirche ein durchaus gastlicher Ort, selbst wenn man hier ebenfalls - natürlich - seine Schuhe am Eingang zurücklassen muss.
Also machen wir uns auf den Weg durch die Dunkelheit hin zum vermeintlich nahen Ziel. Der eiskalte Gegenwind bläst uns ins Gesicht, während wir uns vorsichtig Meter für Meter hinauf über eisigen Untergrund in Richtung Kirche vorkämpfen. Doch schon bald ist der Kampf zu Ende: Auf dem Untergrund kommen wir so gut wie überhaupt nicht voran mit unseren Stiefeln, die offensichtlich nicht für Glatteis gemacht wurden. Und die widrigen Windverhältnisse machen zusätzlich deutlich, dass für uns selbst dieses nahe Ziel so gut wie unerreichbar ist - also heißt es Umkehren, vorsichtig den Rückweg versuchen und zu überlegen, was nun getan werden kann.
Eines steht fest: Zwar erscheint die Reise in die Polarnacht von Spitzbergen unter den herrschenden Verhältnissen jetzt tatsächlich wie eine real gewordene Schnapsidee, aber das alles hilft nicht wirklich weiter. Auf diese Weise wie jetzt können wir den Aufenthalt hier vollkommen vergessen und deshalb ist sofortiges Handeln angesagt: Als Erstes brauchen wir ebenfalls Warnwesten und Beleuchtung, wie wir sehr schnell gemerkt haben, und zum anderen Spikes - und das alles sofort!
Wir schaffen den "langen", schwierigen Rückweg bis zur Ortsmitte und das ganz ohne Sturz und Fußbruch, wie wir dankbar feststellen und stehen schließlich vor dem einzigen und größten Supermarkt von Longyearbyen und Spitzbergen, den wir ebenfalls noch in bester Erinnerung haben. Der Rundgang im Laden, zum Glück wieder "ganz normal" möglich, ist leider aber ernüchternd: Spikes sind ausverkauft, wird uns mitgeteilt, und niemand weiß genau, wann die erwarteten Lieferungen wieder eintreffen werden. Aber man solle es doch mal in der Apotheke des Ortes versuchen, dort habe man angeblich noch Exemplare der ersehnten Ware. Kaum zu glauben, auch wenn man sich hier und heute problemlos vorstellen kann, warum es diese heiß begehrten Gerätschaften ausgerechnet in einer Apotheke geben soll - wo denn sonst ..?
Bevor wir uns schnellstens auf den Weg dorthin machen, bevor die kostbaren Teil auch da nicht mehr erhältlich sind, beenden wir aber unseren Pflichtrundgang im Laden: Draußen sind zwar wie immer die üblichen Verbotstafeln zu sehen, die Mitnahme und Tragen von Waffen in diesem Laden verbieten, aber auch das Zeitschriftenangebot hat es in sich: Hier kann sich der echte "Kriger" durchaus mit passendem Lesestoff versorgen, wenn er vom kleinen Stoffeisbären bis zum Gemüseeinkauf alles erledigt hat!
Die Apotheke ist zum Glück nicht weit entfernt und schon bald stehen wir in dem kleinen Laden: Hoch erfreut hören wir von der Verkäuferin, dass sie noch ein paar Exemplare von Spikes vorrätig hat, aber bei den Größen ist sie nicht ganz sicher, wie umfangreich das verbliebene Angebot noch ist ...
Mit schlimmsten Befürchtungen warten wir auf ihre Rückkehr, aber dann macht sich Erleichterung breit: Die Teile, die sie uns freundlicherweise probeweise über die Schuhe zieht, passen zum Glück! Erst kurz vor der Rückkehr wird sich allerdings herausstellen, das eines der Paare aus unterschiedlichen Größen besteht, aber wer will in diesen Zeiten da schon allzu genau sein ..?!
25,- EUR (pro Person für die Spikes) später und nach weiteren Ausgaben für den Rest treten wir mit neuer Ausrüstung wieder hinaus in die Polarnacht: Wir reflektieren nun wie alle, haben zusätzlich aktiv blinkende Beleuchtung am Ärmel und unter den Füßen diese grandiosen Spikes! Zwar noch vorsichtig wie vorher, aber mit zunehmendem Mut schreiten wir draußen durch die Dunkelheit, das vertraute Knirschen bei jedem Schritt bezeugt, dass wir nun offenbar auf bestem Weg sind, unseren Aufenthalt hier unbeschädigt zu überstehen - was will man mehr?!
Erneut machen wir uns auf den Weg zur Kirche und der Glaube an den Erfolg scheint durch dieses Ziel bestätigt zu werden, auch wenn der eisige Wind keine Anstalten macht, uns anders als entgegen zu kommen - Herausforderungen müssen eben sein!
Trotz aller Hindernisse rückt die Kirche näher und als wir schließlich durch die Eingangstür treten, wissen wir, was Glaube tatsächlich bedeutet - es ist geschafft!
Zwar muss man nun seine Schuhe samt heiß begehrten Spikes am Schrank in der Nähe des Eingangs zurücklassen, aber da die Kirche bis auf uns leer ist und sicher auch - falls überhaupt - heute Mittag nur von Gutmenschen bevölkert wird - kann man es sicher riskieren, mit eigenen Pantöffelchen das Gebäude aufzusuchen. Die freundliche Kirchenmitarbeiterin verlässt gerade wohl zur Mittagspause ihr Büro, lächelt uns noch zu und verschwindet - wir sind allein in den angenehmen Räumlichkeiten, die hier und heute tatsächlich ein Gefühl von Willkommenskultur und Wohligkeit vermitteln, auch wenn es im Winter keine Getränke gibt, wie wir schnell feststellen.
Der ausgestopfte Eisbär erwartet uns wie im Sommer und auch die sonstige Einrichtung verströmt eine Atmophäre, die zum Verweilen einlädt: Die hier zu findende Literatur, die Bilder an den Wänden und überhaupt die übrige Einrichtung, das alles vermittelt das Gefühl, unbedingt noch länger bleiben zu wollen!
Irgendwann müssen wir aber auch dieses gastliche Haus verlassen und uns wieder auf in die nächtliche Nachmittagsumgebung machen: Als Tribut an die legendäre Serie "Game of Thrones" machen wir noch einen (nicht ganz ernst gemeinten) Eintrag ins Gästebuch der Kirche: "Die Nacht ist dunkel und voller Schrecken!" erscheint heute als passender Beitrag, der auch in allen Staffeln der Serie von großer Bedeutung ist ...
Wie bereits in unserem Fotobeitrag Svalbard / Winter (1): Januar in Longyearbyen zu erkennen ist, gibt es auch in der Dunkelheit an diesem Ort eine Menge zu besichtigen und zu entdecken, mit Spikes kein großes Problem mehr, auch wenn unverändert mit Vorsicht zu genießen!
Und so machen wir uns also auf, Bekanntes und Unbekanntes neu zu entdecken, was nicht allzu schwer fällt: Selbst die vertrauten Berge in der Umgebung wirken nun völlig anders, die weißen schneebedeckten Hänge leuchten schwach in der Dämmerung und sind teils nur mit Mühe wiederzuentdecken.
Und bei diesen Rundgängen, die uns von der Umgebung des Ortes bis hinauf zu den Resten der historischen Seilbahnanlagen führen, bieten sich wieder fantastische Ausblicke in die nächtliche Landschaft samt Ort und Meeresbucht. Eines aber ist auf jeden Fall klar: All das sollte man schon einmal an einem dieser wunderbaren lichtdurchfluteten Polartage gesehen haben, um die ganz und gar andere Wirkung heute zu verspüren. Umso erstaunlicher, dass ein kurzer Januartrip nach Spitzbergen nun bei Skandinaviern ein wenig in Mode gekommen zu sein scheint: Immer wieder stoßen wir bei unserer Winterreise auf Besucher von dort, die eine solche Kurzreise nach Spitzbergen zum ersten Mal machen - und das in der Polarnacht, in der man draußen zumeist nicht allzu viel zu sehen bekommt von der einzigartigen Landschaft, die man eigentlich auch wahrnehmen sollte ...
Fotografieren während dieser Erkundungsgänge wird in der Dunkelheit problematisch: Wenn man nicht ganztags mit einer Profiausrüstung samt Stativ durch die Gegend laufen will, was für uns nicht in Frage kommt, bleibt nur der "Schnappschuss" in die Dunkelheit - und die nachträgliche Bearbeitung und Aufhellung, um überhaupt sichtbar zu machen, was man da eigentlich fotografiert hat.
Und so machen wir es auch während dieser Reise später noch sehr oft: Wir fotografieren fast wie gewohnt und stellen hier dazu die überarbeitete Version. Auf diese Weise bekommt auch der unvoreingenommene Betrachter einen Eindruck von dem, was da eigentlich in der Polarnacht so zu sehen gewesen ist - oder zu sehen gewesen wäre ..?
© 2018 J. de Haas