Nuklear-Lokomotiven
Eine Fantasie der fünfziger Jahre, die niemals Realität wurde ...
Vorbemerkung der Red.: Im vierten Beitrag von Bill Lee zur Navy "History" widmeten wir uns dem radioaktiven Nachlass der US Marine. In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geschahen jedoch in der aufkommenden Euphorie um atomare Antriebe auch in anderen Bereichen ganz erstaunliche Dinge, die heutzutage oft unbekannt sind.
Wie schon bei einem früheren Beitrag von Bill zu unserer "History"-Reihe erwähnt, besteht eine enge Verbindung von ihm zu seiner früheren "Heimatwerft" Newport News Shipbuilding (NNS), wo er tätig war und auch mit der Kernenergie in Berührung kam - bei der Arbeit in und an Reaktorkammern von atomgetriebenen Schiffen der Navy.
Einer der bei der NNS gebauten Reaktoren kommt nun auch im folgenden Beitrag vor, wo uns Bill wieder eine haarsträubende Geschichte erzählt, bei der Kernenergie im Eisenbahnwesen eingesetzt werden sollte. Im zweiten Teil seiner "Nuklear-Historie" wird es in einer folgenden Ausgabe schließlich sogar noch um ähnliche Vorhaben im Rahmen der Luftfahrt gehen!
Einige Jahre nach Ende des Zeiten Weltkriegs führte die Kommerzialisierung der Kernkraft dazu, dass eine Vielzahl möglicher Anwendungen für mobile Atomreaktoren ausgelotet wurden.
Im Jahr 1954 begann ein Professor an der Universität von Utah damit, Konzepte für eine nuklear angetriebene Lokomotive zu untersuchen. Unterstützt bei seinem Vorhaben wurde er dabei von der Firma Babcock & Wilcox (B&W), eine frühe Beteiligte bei der industriellen Nutzung von Kernkraft.
Gemeinsam entwickelten sie ein konzeptionelles Design, welches als "Project X-12" bezeichnet wurde; der Hintergrund dieser Bezeichnung ist nicht überliefert. Das Herzstück ihrer Entwicklung war ein "homogener Kernreaktor", gefüllt mit flüssigem Uranoxid.
Ähnliche Reaktoren waren bereits für die Atomenergiekommission der USA (AEC) angefertigt worden, unter anderem auch einer, der von der NNS (siehe oben) im Jahr 1955 gebaut und an das zum Energieministerium gehörige Oak Ridge National Laboratory für Betrieb und Auswertung übergeben wurde.
Die Idee, nuklear angetriebene Lokomotiven herzustellen, weckte die Aufmerksamkeit von fünf amerikanischen Eisenbahngesellschaften, neun verschiedenen Herstellern und - natürlich - auch der Medien. Allerdings hatte die Nutzung von Atomenergie als Antriebskraft im Eisenbahnwesen durchaus seine Nachteile ...
Skeptiker wiesen auf die Anzahl von Zugunglücken hin, die schon stattgefunden hatten und zeigten sich besorgt über die möglichen Folgen, die eine Beteiligung von nuklear angetriebenen Lokomotiven an einem Betriebsunfall unterschiedlicher Größenordnung haben könnte.
Die X-12 Entwickler befassten sich auch mit diesen Bedenken - zumindest aus theoretischer Sicht. Der kleine Reaktorkern, der nur einen Durchmesser von rund 91 cm und eine Höhe von etwa 25 cm aufwies, sollte in einen 20 cm dicken Behälter eingekapselt werden, seinerseits noch einmal von einer 20 cm dicken Abschirmung umgeben, als Teil sorgfältig durchkonstruierter "gestaffelter Sicherheitsebenen".
Der Bereich zwischen dem Behälter und der Abschirmung sollte mit dickflüssigem Kohlenwasserstoff gefüllt werden zum Dämpfen und internen Auffangen bei unfallbedingtem Aufprall. Eine Automatikabschaltung wurde im Konzept vorgesehen, ebenso die Ableitung von Zerfallswärme, die bei einer Notabschaltung entsteht.
Und dann waren da noch einige (im wahrsten Sinne des Wortes) ziemlich "schwerwiegende" Probleme: Das X-12 Antriebsaggregat würde aus dem Kernreaktor bestehen, außerdem aus einer Frischdampfturbine zur Stromerzeugung sowie auch Dampfkondensatoren und Kühlaggregaten.
Ein Hochleistungs-Schwerlastgetriebe müsste vorgesehen werden, um die Turbinenwelle mit vier Stromgeneratoren zu koppeln, die zusammen 7.000 PS erzeugten. Die Lokomotive würde ein Gewicht von 360 Tonnen erreichen, gut doppelt so viel wie das Gewicht einer konventionell mit Dampf betriebenen Maschine, die für dieselbe Aufgabe geeignet wäre ...
Allein die Abschirmung des X-12 Reaktors käme auf ein Gewicht von rund 200 Tonnen. Ein derartiges Höchstgewicht würde erfordern, den größten Teil des amerikanischen Schienennetzes zu verbessern und auszubauen.
Der Triebkopf samt seinem Tender, der gewaltige Kühlaggregate für den Turbinendampf befördern müsste, käme auf eine Länge von fast 50 Metern, was weitere Fragen aufwarf bezüglich der Fähigkeit, kurvige oder steile Abschnitte der existierenden Strecken zu bewältigen.
Die Kosten einer nuklear angetriebenen X-12 Lokomotive wurden auf ca. 1,2 Millionen US $ (in $ von 1954) geschätzt, was doppelt so hoch war wie die Kosten von vier zeitgenössischen Dieselmaschinen. Diese würden - zusammengekoppelt - dieselbe Anzahl von PS bringen wie die X-12.
Ein Witzbold brachte es auf den Punkt: "Die Kosten lasten genau so schwer auf den Gedanken der Eisenbahn-Manager wie es die X-12 auf den Gleisen tun würde."
Trotz der offensichtlichen Nachteile meldeten die Erfinder der X-12 im Jahr 1955 ein Patent für sie an. Ihr Antrag wurde schließlich im Jahr 1964 genehmigt; zu einer Zeit, als andere Nuklearprogramme bereits fortgeschritten waren und Probleme mit sich gebracht hatten. Weitere Minuspunkte betreffend Betankung, Fernwartung und Entsorgung machten mittlerweile deutlich, dass eine nukleargetriebene Lokomotive wohl doch keine so gute Idee wäre ...
So wurde schließlich das Projekt X-12 nur eine weitere Fußnote in der Geschichte der Atomkraft. Doch hin und wieder versucht immer irgend jemand dieses Rad neu zu erfinden. Und das trotz des heutzutage erhöhten Problembewusstseins in Hinblick auf solche Konzepte in Bezug auf Sicherheit, mögliche Auswirkungen auf die Umwelt sowie Gefahren durch Terrorismus.
Das letzte derartige Vorhaben wurde von den Russen vorangetrieben: Diese hatten die Vorstellung, man könne die Ermittlung der genauen Position ihrer Interkontinentalraketen erschweren, wenn man Züge als mobile Abschussrampen verwenden würde. Aber solche Züge würden etliche konventionelle Lokomotiven erfordern, um derartig schwere Lasten zu bewältigen. Ihre gesamte Hitzeabstrahlung und auch Abgasstruktur würde dabei verräterische Zeichen geben.
So wurde vor einiger Zeit berichtet, die Russen würden darüber nachdenken, für diese Aufgabe nukleargetriebene Lokomotiven zu entwickeln und zu bauen. Würde so etwas funktionieren? Ja ... falls die Schienenstränge ausreichend verstärkt würden, um solche Höchstlasten zu tragen. Würde so etwas unentdeckt bleiben? Sicherlich nicht ... Kernreaktoren haben ebenfalls spezifische Hitzeemissionen. Würde so etwas sicher sein? Nun ... dies war eine Idee des Landes, das uns Tschernobyl brachte ...
© 2013-2017 Bill Lee, Deutsche Übersetzung: Explorer Magazin
- Zu Nuklear-History (2): Als die Kernenergie einen Höhenflug hatte ...
- Zu Nuklear-History (3): Erstes nuklear angetriebenes Handelsschiff
- Zu US Navy "History" (1): TDR-1 - Wie es anfing mit der "Drohne"
- Zu US Navy "History" (2): Spionageschiffe - Über die NNS Krieger des Kalten Kriegs
- Zu US Navy "History" (3): Epidemie auf See ...
- Zu US Navy "History" (4): Trench 94 - Ruhestätte für Navy-Atomreaktoren
- Zu US Navy "History" (5): Das "Steinerne Schlachtschiff" ...
- Zur Übersicht Hinterlassenschaften: Auf den Spuren der Weltkriege und historischer Stätten