Italien: Westalpen, Oktober 2020
Die Jahresabschluss-Tour ...
Vorbemerkung
In unseren beiden Vorberichten zu Westalpentouren im Jahr 2020 war Hans-Jörg Wiebe mit seinem Toyota HZJ 78 unterwegs - einem idealen Fahrzeug für anspruchsvolle alpine Bergstraßen mit zweifellos großem "Abenteuerfaktor". In unserem dritten Bericht zu einer Westalpentour im Jahr 2020 steht nun ein größeres Fahrzeug im Mittelpunkt und damit ergeben sich andere Rahmenbedingungen für entsprechende Touren - mit ganz eigenen Vor- und Nachteilen.
Berg- und Almstraßen zu befahren gehört auch zu den besonderen Vorlieben unseres Autors Sepp Reithmeier, weshalb er sich im Jahr 2010 beim Bau seines Wohnmobils auf geländegängigem Fahrgestell für den kurzen und schmalen Bremach entschied und die Wohnkabine so niedrig wie möglich konzipierte.
Bei geforderter Stehhöhe von 175 cm erreichte das Gefährt aber insgesamt dann doch eine Höhe von 285 cm und war damit zu hoch für manche alpinistischen Leckerbissen, über die im "Großen Alpenstraßenführer" von Denzel ausführlich berichtet wird. Außerdem macht der große Wendekreis in den Bergen zu schaffen, wo häufig sehr enge Kehren zu bewältigen sind. Ein Suzuki Jimny oder sogar ein Fiat Panda 4x4 schlagen sich eindeutig besser in diesem Gelände. Aber man kann darin eben nicht wohnen, und schon gar nicht wie im Bremach hier.
An traumhaften Nachtplätzen dieser Region haben es die Insassen gemütlich: Man hat Stehhöhe, eine entsprechende Heizung und eine ambitionierte Küche, die in diesem Fall sogar mit Klappbackofen und Pizzasteinen ausgerüstet ist. Es gibt Betten wie zu Hause und nicht zu vergessen die ebenfalls schon vorgestellte TTT - für bequeme oder ältere Leute punktet der Bremach also mit Komfort.
Autor Sepp war bereits 2011 allein mit Hund und mit seinem damals nagelneuen T-Rex vor Ort in den Westalpen und konnte seinerzeit ziemlich locker den Col del Colombardo (Denzel Nummer D 354) und die Assietta (D 366) fahren - und anschließend allerdings dann gar nicht mehr so locker den Colle Sommeiller (D 358) mit seinen sehr engen und ausgesetzten Kehren hochkriechen ...
Dieses Mal wollte er es besser machen und hatte für die Tour seinen Bremachfreund Erich als Mitfahrer gewonnen: Hauptziele waren die beiden Kammstraßen Varaita-Maira (D 375) und Maira-Stura (D 380, 26. Auflage von 2016. D 378 in der aktuellen 27. Ausgabe). Beide Pisten kommen bereits in unserem Westalpenbericht September 2020 vor und auch in zahlreichen weiteren Berichten und Kommentaren wird geschildert, dass es sich um schmale Bergstraßen mit verhältnismäßig wenigen Ausweichstellen handelt (siehe dazu auch unseren Nachtrag!).
Adrenalin pur ...
"Weiter rechts, du hast nur noch 5 cm bis zur Abbruchkante!" schrie ich. Doch oben rechts kratzte schon ein überhängender Felszacken am Kabinendach meines Bremachs: Erich am Steuer behielt die Nerven und scherte sich wenig um das Kratzen am Aluwinkel, schließlich wollte er nicht abstürzen. Auf den letzten Drücker kam er mit Blessuren an der Stelle vorbei. Leider war das eine Sackgasse und wir mussten da wieder hinunter ... Und wie immer an riskanten Passagen war mein Adrenalinspiegel so hoch, dass ich während der zentimetergenauen Einweisung das Fotografieren völlig vergaß. Schade, es wäre so leicht gewesen, spektakuläre Bilder zu machen ...
Mein T-Rex hat nun auf beiden Seiten auf 280 cm Höhe einen tiefen durchgehenden Kratzer. Der soll aber bleiben als Erinnerung und Ehrenabzeichen ...
Unsere Westalpenwoche fing ja gut an! Nach einer netten kleinen Wanderung im größten Zirbenwald der Alpen am Südhang des Monte Viso oberhalb von Casteldelfino hatte ich auf der gegenüberliegenden Seite des Varaita-Tales eine ganz kleine Fahrstrecke ausgewählt und wollte nur auf der Almstraße Denzel 372 eine Anhöhe erreichen, das Coletta di Battagliola mit optimalem Blick auf den Giganten Viso (3.841 m) und hinunter auf den Stausee Lago di Castello. Der Führer schreibt lapidar: Einspuriger Fahrweg mit nur wenigen Ausweichen, besonders schmal, seitlich etwas zugewachsen und verläuft ohne Randsicherung an senkrechten Felswänden entlang.
Nach dem Passieren der für unser Fahrzeug zu engen Stelle wollte ich vor lauter Schreck nicht mehr hoch zum Viewpoint fahren, so dass wir die nächste Wendemöglichkeit nutzten, erneut um die Schlüsselstelle herumkrochen und uns einen ruhigen Nachtplatz im Tal suchten. An dieser Stelle noch einmal ein Kompliment an Erich, den kaltblütigen Fahrer!
Die Nacht war mit knapp unter 0°C die kälteste
Nacht der Woche und während ich zweilagig bekleidet und mit Socken
an den Füßen in meinem Daunenschlafsack etwas fror, lag Erich fast
unbekleidet unter seiner Bettdecke und schwitzte noch. Auch tagsüber
trug er nur offene Sandalen ohne Socken und obenrum lediglich ein
flattriges T-Shirt. Frieren, was ist das? Die Kombination
Bergtauglichkeit und Kälteresistenz kann doch nur eines bedeuten: Es
muss ein Yeti in Erichs Familie seine Gene hinterlassen haben ...
Varaita-Maira-Kammstraße
Ein paar Abendbiere und ein ruhiger Nachtschlaf später sah die Welt wieder ganz passabel aus: Wir hatten schon erfahren, dass die Tiefausläufer der letzten Tage katastrophale Überschwemmungen in manchen Regionen des Piemont verursacht hatten, doch unsere Flüsse Varaita und Maira führten wenig Wasser und die Hochlagen bis 3.000 Meter waren schneefrei und auch weitgehend frei von Touristen. Deshalb hielten wir an unseren Plänen fest, fuhren das Varaita-Tal flussabwärts und bei Melle das Valmala-Tal hoch zum Beginn der Varaita-Maira-Kammstraße (D 375) am Colle di Valmala.
Anfangs führte die mäßig steile Naturstraße den Südhang entlang, verlangte aber schon die volle Konzentration. An einer harmlosen Stelle kurz vor dem Colle Birrone muss ich etwas abgelenkt gewesen sein, als ich einen am bergseitigen Straßenrand liegenden knapp 20 cm hohen Stein übersah und mit etwa 15 km/h darüber fuhr. Der Aufprall riss mir das Lenkrad aus der Hand und mit maximalem Lenkereinschlag zur Bergseite fuhr der Bremach gegen die steile Böschung, wo der Motor abgewürgt wurde. Weiter nichts passiert, aber man fragt sich schon, was gewesen wäre, wenn der Stein am talseitigen Straßenrand gelegen wäre und der Wagen zum Tal hingefahren und abgestürzt wäre. Meine Antwort darauf: Einen am talseitigen Fahrbahnrand liegenden Stein kann man eigentlich nicht übersehen. Bergseitig liegt dagegen öfter mal so ein Brocken herum und ich bin wohl zu nah an der vermeintlich sicheren Böschungskante gefahren ...
Nach diesem hoffentlich letzten Fahrfehler der Woche musste ich mich zunächst einmal nervlich erholen und bat Erich deshalb ans Steuer. Am Colle Birrone (1.700 m) machten wir kurz Rast und genau hier kam uns ein Schweizer Landy entgegen, das einzige Fahrzeug des Tages. Nach kurzem Erfahrungsaustausch starteten wir in die schwierigste Passage der Kammstraße, die auf einem ruppigen Waldweg über mehrere Serpentinen bergauf führt. Danach öffnet sich die Landschaft und oberhalb der Baumgrenze kletterten wir kontinuierlich höher und höher an steilen Hängen entlang bis zum Bassa d´Ajet in 2.310 m Höhe. Dort legten wir eine Fahrpause ein und wanderten ganz locker die 200 Höhenmeter auf den Monte Nebin, von dem aus ein fantastischer 360°-Rundblick möglich ist.
Bis zum Colle di Sampéyre, einem Übergang vom Maira- zum Varaita-Tal, war es danach nicht mehr weit. Wir fuhren aber nicht ins Tal hinunter, sondern folgten einer Stichstraße mit erheblichen Erosionsrinnen bis zum Endpunkt, dem Colle Bicocca (2.286 m). Hier hat man wieder eine herrliche Aussicht und wir beschlossen, die Nacht zu bleiben. Bis kurz vor Einbruch der Dunkelheit wanderten wir noch am Ostgrat unseres "Hausberges" entlang, dem über 3.000 m hohen Pelvo d´Elva und starteten danach das tägliche Abendprogramm: Kochen, Abendessen mit Bier und dann bis tief in die Nacht Wein und Musik. Wir hatten entdeckt, dass wir das Interesse an Free Jazz und Ornette Coleman teilten, aber auch dem jeweils anderen unbekannte Musiker und Werke auflegen konnten. Mit Smartphones und Bluetooth-Lautsprecher geht das technisch auch sehr einfach ...
Die aufgehende Sonne ließ unseren Hausberg rot leuchten und wärmte die Osthänge zur Freude der grasenden Gämse und eines Steinbocks, die wir im Fernglas lange beobachten konnten. Nur schwer konnten wir uns von diesem Anblick und der schönsten Stelle der ganzen Reise trennen, aber der Magen knurrte bereits.
Deshalb sorgten nun Kaffee, Kekse und Müsli für unser leibliches Wohl, sodass wir gestärkt die Talfahrt über das kleine Bergdorf Elva und eine enge Galerienstraße antreten konnten. Dass diese Straße wegen Steinschlaggefahr für Touristen und Fußgänger eigentlich gesperrt war, erkannten wir erst im Tal ...
© 2020 Sepp Reithmeier, Bilder: Erich Junker, Sepp Reithmeier