Bretagne 2022Rochefort-en-Terre: Naia - Mittelalterliche Spurensuche ... |
Die Reise mit Womo LERRY, die wir nun schon seit 2021 in Portugal und später auch in Deutschland verfolgt haben, geht weiter: Mein Ziel liegt diesmal in Frankreich, und zwar in der Bretagne, die wir zuletzt vor einigen Jahren noch mit unserem Segler "pacifico" besucht haben. Während wir uns dabei seinerzeit natürlich überwiegend in Küstennähe bewegten, bleiben wir diesmal vollständig "an Land": Es geht nach Saint-Servant, ein winziges Dorf, das nur aus neun Häusern besteht.
Inzwischen ist der 31. Oktober angebrochen, langsam wird es kälter und feuchter. Die Leser meiner Geschichten, die ich hier besuche, wohnen in einer Senke, die links vom LERRY liegt mit einer sehr steilen Zufahrt. Bei dem feuchten Wetter und wegen Schotter in dieser Zufahrt entscheide ich mich, den LERRY oben an der Straße stehen zu lassen. Ich habe Bedenken, dass es das Fahrzeug von dort unten nicht mehr aus eigener Kraft zurück zur Straße schaffen könnte.
Die Straße selbst ist nur wenig breiter als mein Womo und deshalb parke ich nur so weit darauf, dass ich mit den rechten Rädern noch festen Grund habe. Sonst ist der sehr feuchte Boden schon zu weich ...
Dadurch habe ich einen ganz besonderen Parkplatz: Gleich links daneben fällt mir dieses seltsame kleine Bauwerk auf. Es sieht eigentlich aus wie ein Backofen. Aber ein Backofen mitten auf dem Feld? Da werde ich doch sehr neugierig! Nach einem regelmäßigen Gebrauch sieht der Ofen allerdings nicht mehr aus. Und etwas Besonderes hat das Bauwerk auch zu bieten: Mitten drin im Ofen steht ein dicker Baum! Nachdem ich im Dorf gefragt habe, weiß ich mehr: Das Gebilde ist tatsächlich ein Backofen. Als es hier noch keine Häuser und Straßen gab, befand sich der Ofen mitten in der damaligen Landwirtschaft. Die bewohnten Höfe lagen weit auseinander. So wurde der Backofen dafür verwendet, mitten in der Landschaft für die Höfe Brot zu backen. Also eigentlich eine Bäckerei ohne Gebäude. Als die Besiedelung dann dichter wurde, verlor der Ofen immer mehr an Bedeutung. Da man ihn nicht zerstört hat, steht er noch heute an Ort und Stelle. Seit etwa 200 Jahren ...
Wie das in der Natur so ist, fand irgendwann der Trieb eines Baumes seinen Weg durch die Steine des Ofens, und so wuchs er schließlich mitten hinein. Heutzutage kann man einen Baum nicht mehr so einfach umsägen. Gut! Außerdem steht der Backofen unter Denkmalschutz. So leben beide in trauter Gemeinschaft immer weiter. Eines Tages wird der nach wie vor wachsende Baum den Ofen allerdings in seine Bestandteile zerlegen: Bis dahin ist aber wohl noch etwas Zeit ...
Hier in Saint-Servant erfahre ich von einer Geschichte, die sich in einer kleinen und alten Gemeinde ganz in der Nähe zugetragen haben soll. So mache ich mich heute am 02. November 2022 auf den Weg nach Rochefort-en-Terre.
Rochefort-en-Terre ist ein kleiner Ort mit etwa 650 Einwohnern, der im Département Morbihan liegt. Die Bretagne ist ein sehr felsiges Gebiet und die Gemeinde liegt auch selbst auf einem großen Felsen. So bedeutet der Name des Ortes dann auch in etwa "Starker Fels am Boden". In diesem Ort findet man Gebäude, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen. Die Spuren des Mittelalters sind hier noch allgegenwärtig und werden entsprechend gepflegt. So wurde Rochefort-en-Terre im Jahr 2016 zum Lieblingsdorf der Franzosen gewählt. Auf einem großen Parkplatz vor dem Dorf werde ich von meinen Gastgebern abgesetzt, die mich der Einfachheit halber hierhin gebracht haben. Und so kann ich mich gleich auf den Weg hinein in das Örtchen machen.
Auf den ersten Blick bereits wartet hier das Mittelalter auf mich: Häuser und Straßen laden hierzu unübersehbar ein. Gleich als erstes stehe ich vor dem Rathaus des Dorfes. Da bleibt für mich nur zu hoffen, dass hier keine Sitten und Gebräuche des Mittelalters mehr gepflegt werden, die damals so "ungünstig" auf die Gesundheit Einzelner eingewirkt haben. Na, ich werde das auch überleben!
Hier in der Bretagne gibt es seit 1975 eine Art Bund der kleinen Städte mit Charakter. Das sind Ortschaften, die durch bestimmte Besonderheiten auf sich aufmerksam machen. Es sind Gemeinden, die zum Beispiel wegen ihrer Geschichte aus dem üblichen Rahmen fallen. Dazu zählt auch Rochefort-en-Terre. Hier ist die Besonderheit, dass das mittelalterliche Aussehen des Dorfes möglichst nicht verändert wird. Das hört sich im ersten Moment gar nicht so kompliziert an, doch gibt es hier im Sommer einen sehr ausgeprägten Tourismus: Das mittelalterliche Erscheinungsbild des Ortes muss also den jährlichen Strom an Touristen unbeschadet überstehen.
An der linken Seite des dritten Bildes oben lockt ein Geschäft mit Spielen und Spielzeug aus Holz, während an der rechten Seite ein Laden mit Keksen aller Art auf sich aufmerksam macht. Einige der Straßen schrumpfen zu Wegen - jetzt wie im Mittelalter und ohne richtige Beleuchtung. So werden solche enge Wege interessant!
Man stößt auf ein Café, in dem man auch die bekannten französischen Crêpes erhalten kann. Ein Stück weiter findet sich eine örtliche Brauerei, die Crêpes zum Bier anbietet. Kurz darauf ein Geschäft, das "Vergessenes" im Angebot hat: Ein Flohmarkt. So ein Schädel wie hier zu sehen ist (Bild unten rechts) würde sich hinter der Windschutzscheibe im LERRY sicher gut machen - besonders, wenn er abgestellt ist ...
Wie man gut erkennen kann, ähneln die Häuser in keiner Weise modernen Bauten. Zwar sind einige Reparaturstellen zu sehen, die auf modernere Bauformen hinweisen, doch ist das ein Mittelweg. Der grundsätzliche Erhalt dieses kleinen mittelalterlichen Dorfes ist gelungen. Das Haus auf dem Bild oben links beherbergt einen Laden für Lederartikel. Im Haus auf dem Bild oben Mitte werden sogenannte Marienkerzen angeboten: Sie finden meist sakrale Verwendung.
Der Baustil, die Umgebung und die Straßen selbst versetzen den Besucher zurück in eine andere Zeit: Eine Zeit, in der Intrigen an der Tagesordnung waren und alles, was irgendwie schneiden konnte, locker saß. In der Abenddämmerung kommt das Gefühl der Vergangenheit dann noch deutlich besser zur Geltung ...
Ein atmosphärisch aufgeladener Blick über die Dächer von Rochefort-en-Terre (Bild oben rechts): Sehr schön ist die dichte Bauweise des Mittelalters zu erkennen. Im linken Teil des Bildes sind zwei der alten Häuser auf moderne Art verputzt worden. Doch ansonsten ist noch überall die mittelalterliche Bausubstanz erhalten. Besonders auffällig in diesem Ort ist die enorm vielseitige Verwendung von Blumen und Pflanzen aller Art. Und: Die Innenstadt ist natürlich autofrei ...
Der Ort wird das ganze Jahr über ansehnlich gehalten, während der Sommermonate mit sehr vielen Blumen. In den anderen Monaten findet sich sehr viel Kunsthandwerk hier. Auch in der Weihnachtszeit wird der Ort ganz besonders geschmückt. Auf dem Bild oben Mitte blicke ich auf das alte Waschhaus von Rochefort-en-Terre: Die Geschichte erzählt, dass die Frauen jahrhundertelang hier am Bach ihre Wäsche gewaschen haben, eine Stelle, an der damals auch der tägliche Tratsch und Klatsch stattfand. Ich denke allerdings, dass sie nicht immer hier waren, sondern dabei auch Pausen machten ... Ein Sonnenuntergang beim Waschhaus verursacht wunderbare Farben und Lichtreflexe ...
Ein weiterer Ort wartet in der kleinen Stadt jetzt noch auf mich, nämlich ein ganz besonderes Schloss (Bild oben rechts): Im 11. Jahrhundert wurde es hier aus verschiedenen, auch strategischen Belangen notwendig, eine Burg zu bauen. Im 12. Jahrhundert wurde dann diese Burg schließlich fertiggestellt. Bis ins 16. Jahrhundert befand sie sich im Besitz der Familie von Rieux - Rochefort. Die umsichtige Herrschaft dieser Familie machte den Ort letztlich wohlhabend. Rochefort-en-Terre hat noch sehr viel von dem Aussehen aus dieser Zeit. Doch wie das mit solchen Bauwerken häufig geschieht, wurde auch diese Burg während der französischen Revolution bereits zum dritten Mal zerstört. Im 17. Jahrhundert erfolgte der erneute Aufbau der Anlage. Doch mit der Pflege der Gebäude wollte es nicht so richtig klappen, so verfiel die Burg schließlich wieder im Laufe der Zeit ...
Allerdings hatte die Burg von Rochefort-en-Terre ein weiteres Mal Glück: Im Jahr 1907 kaufte der amerikanische Maler Alfred Klots die Burgruine. Er hatte sich in den Ort mit den vielen schönen erhaltenen Häusern verliebt. Die alte Burg wurde sein Domizil. Durch ihn entstand dieses Schloss aus den Ruinen der Burg, aus denen er auch eine Villa baute. Die Nebengebäude wurden zu edlen Landhäusern.
Als Maler lockte er natürlich weitere Künstler an, so dass sich Schloss und Ort heute zu einem Treffpunkt der Künstler entwickelten. Doch auch der neue Besitzer lebte nicht ewig. Inzwischen wurde das Schloss im Jahre 1976 von der öffentlichen Hand übernommen und kann nun auch besucht werden.
Ich bin jetzt sehr neugierig auf dieses Gebäude: Wie bereits erwähnt, haben sich die Familien Rieux und Rochefort zweckmäßig verbunden, genauer gesagt durch eine für die Zukunft der Familien sinnvolle Heirat zweier Abkömmlinge. Das Gebäude im Bild oben rechts ist nun der Rest der ehemaligen Burg der Familie Rieux. Irgendwie hat sich wohl niemand gefunden, diese Anlage wieder instand zu setzen.
Die Burg Rieux umgibt aber ein Geheimnis, das bisher nicht abschließend aufgeklärt werden konnte, nämlich um eine Frau namens "Naia". Vom Ende des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts soll diese Frau innerhalb der Ruine der Burg der Familie Rieux gelebt haben. Einem französischen Schriftsteller und Fotograf, Charles Géniaux, soll es gelungen sein, Naia zu zwei Fotos zu überreden. In seinem Buch über diese Frau geht er darauf ein: "La vieille France qui s'en va" (1903).
Bei diesen Fotos soll Naia einmal mit einem Holzstock auf einer Bank gesessen haben. Das zweite Foto zeigt Naia bem Handlesen einer jungen Frau. Das Foto von Naia mit dem Stock auf einer Bank gibt es im Internet tatsächlich. Wie es bei solchen Erzählungen fast üblich ist, wurde Naia auch gleich als Hexe bezeichnet. Natürlich dürfen dann auch ungewöhnliche Fähigkeiten nicht fehlen. Das Treffen von Charles Géniaux mit Naia brachte ihm auch Informationen zu ihr selbst: So soll Naia unempfindlich gegen Schmerzen gewesen sein und die Gabe besessen haben, an mehreren Orten gleichzeitig sein zu können. Was für ein Stress! Die Fantasie der Menschen ist einfach manchmal enorm ..!
Charles Géniaux fragte auch in der Bevölkerung nach, was über Naia so bekannt sei. Die Menschen glaubten, dass sie nicht essen oder trinken musste. Sie konnte die Zukunft vorhersagen und änderte ihr Aussehen nie. Sie sah zwar wie eine ältere Frau aus, aber alterte angeblich nicht weiter.
Naia soll auch eine sehr gute Bildung gehabt haben. Sie soll Lesen und Schreiben beherrscht haben und war sehr gut informiert über die Pflanzenwelt und die Wirkungen bestimmter Pflanzen. Nur die Ältesten der Alten, so der Schriftsteller, konnten sich an die Herkunft von Naia erinnern ...
Über diese Herkunft finde ich zwei Geschichten: In der ersten wurde sie in der Nachbarstadt Malansac geboren. Ihr Vater war in der damaligen Zeit ein sogenannter Knochensetzer. Das Knochensetzen ist eine traditionelle Heilmethode, bei der Gelenke mobilisiert und zur besseren Funktion angeregt werden. Das betrifft den gesamten Bewegungsapparat des Menschen. Aufgrund dieser Herkunft könnte die "Hexe" Naia bereits sehr viel Wissen erworben haben.
In der zweiten Geschichte tauchte die "Hexe" Naia eines Tages in Rochefort-en-Terre auf und verschwand auch eines Tages wieder. Sie wird hier folgendermaßen beschrieben: schwarzes Haar, rötliche Haut und blaue Augen. Solche Menschen gibt es in Europa allerdings nicht. Es klingt eigentlich wie die Beschreibung einer Indianerin aus Nordamerika. Doch wie soll eine echte Indianerin nach Rochefort-en-Terre gekommen sein?
Die Antwort lautet – Buffalo Bill. Buffalo Bill tourte tatsächlich mit einer Westernshow zu dieser Zeit durch Europa. Dabei besuchte er im Jahre 1889 auch Frankreich. Bei seiner Show durften natürlich auch keine Indianer fehlen. So scheint diese Geschichte schon einen recht hohen Gehalt an Wahrheit zu haben. Tatsächlich könnte also eine Indianerin hier in Rochefort-en-Terre aufgetaucht sein. Den Grund für ihren Aufenthalt in diesem Ort konnte ich allerdings nicht herausfinden. Während Buffalo Bill weiter durch Europa tourte, blieb Naia in Rochefort-en-Terre. Auf dem Rückweg nahm Buffalo Bill sie dann schließlich wieder mit nach Hause, nach Amerika. So könnte sie also tatsächlich einfach verschwunden sein. Doch wie man die Geschichte von Naia auch liest, es bleibt immer ein Zweifel. Und ihre tatsächliche Geschichte bliebt für immer Naia´s Geheimnis.
In der Bretagne fällt nun immer häufiger Regen: So packe ich schließlich den LERRY wieder für eine Fahrt nach Süden. Wir beide wollen dem Regen doch irgendwie entkommen und fahren deshalb gleich ein großes Stück weiter - bis nach Spanien. Dort werde ich mich einmal in der Stadt Burgos umsehen. Die Stadt hat in ihrer Mitte einen recht großen Parkplatz für Wohnmobile eingerichtet, vielleicht ganz passend für mich. Und dann heißt es erneut wie schon so oft: Auf nach Portugal!
© 2023 Jürgen Sattler
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