Arktisches AbenteuerDie Reise eines Schiffbauers zum Ende der Welt ...von Bill Lee |
Der eisbrechende Supertanker MANHATTAN unternahm in den Jahren 1969/1970 zwei Erkundungsfahrten durch die Nordwestpassage.
Der Zweck dieser Reisen war, die Möglichkeiten einer Nutzung der sagenumwobenen Wasserstraße für den Öltransport von der Prudhoe Bay in Alaska bis zur Ostküste der Vereinigten Staaten zu untersuchen.
Die während der beiden frostigen Reisen gewonnenen Erfahrungen zeigten, dass der Einsatz von Supertankern nicht so wirtschaftlich sein würde wie der Bau einer Pipeline quer durch Alaska. Letztlich baute ein Konsortium von Ölgesellschaften später die Trans-Alaska-Pipeline und die MANHATTAN wurde wieder mit konventionellen Aufgaben betraut.
Ein Teilnehmer der Reise im Jahr 1970 war David Alan Lester, ein Schiffsbauingenieur der Werft Newport News (NNS). Er stammte aus Tidewater, Virginia, und war 1967 Absolvent der Virginia Tech. Daves Reise zum Ende der Welt war sein erstes Abenteuer außerhalb der Vereinigten Staaten. Er führte ein persönliches Logbuch und machte während der Reise zahlreiche ins Auge fallende Fotos selbst oder bekam welche von anderen.
Zusammen mit seinen nach über vier Jahrzehnten immer noch lebendigen Erinnerungen reiht sich Dave Lesters zusammengefasstes Meeresabenteuer direkt neben anderem bei der Arbeit entstandenem Seemannsgarn ein, wie es schon bei vielen erfahrenen Newport News-Schiffsbauern der Fall war und ist ...
Etwas zum Hintergrund
Der Bau des eisbrechenden Supertankers MANHATTAN im Rahmen eines sehr engen Zeitplans bedingte umfangreiche und komplexe Umbauten an einem konventionellen Schiff, was die Zusammenarbeit von mehreren Werften, einschließlich NNS erforderlich machte.
Wie das in einer bemerkenswert kurzen Zeit erreicht wurde, ist im Anhang am Ende dieser Erzählung von Daves arktischem Abenteuer beschrieben. Seine Beteiligung an dieser Fahrt kam zustande, weil der Leiter der für Rumpftechnik zuständigen Abteilung der NNS jemanden für die zweite Reise suchte, vorzugsweise einen Schiffsbauingenieur mit Bauingenieur-Hintergrund, der beobachten sollte, wie sich das Schiff verhielt und sein verstärkter Rumpf auf die Belastungen bei einer Arktis-Passage reagierte.
Die erste Reise war im Sommer erfolgt, als die Eisverhältnisse am wenigsten heftig waren. Aber die zweite Reise hatte man absichtlich für eine Jahreszeit geplant, zu der die gefürchtetsten Eisbedingungen in der Nordwestpassage erwartet wurden.
Mehrere Schiffsbauer bei NNS lehnten es ab, die Reise mitzumachen. Dies tat auch Daves unmittelbarer Vorgesetzter, Clinton Dotson, Absolvent der Universität Michigan mit Abschluss als Schiffsbauingenieur. Und so erging schließlich die "Einladung", an Bord der MANHATTAN mitzufahren, an einen jungen, bärtigen, unverheirateten und relativ unerfahrenen Ingenieur. Und dem war in diesem Moment klar, dass dies eine berufliche Chance sein würde, die er nicht ablehnen konnte.
Am 03. April 1970 hatte sich Dave die wärmste Kleidung gekauft, die er finden konnte, sich von seiner Familie und den Freunden verabschiedet und war an Bord der MANHATTAN gegangen, die an einer Pier der Werft von NNS lag. Gegen 7:40 Uhr stach an diesem Morgen das riesige und deutlich andersartig aussehende Schiff schließlich mit Hilfe des Werftschleppers HUNTINGTON in See ...
Lernen und Protokolle
Neben der Besatzung des Schiffs gehörten zu Daves Arbeitskollegen ein weiterer Ingenieur der technischen Abteilung der Werft und fünf Mitglieder der Schiffstestabteilung von NNS sowie zahlreiche Beobachter mehrerer Ölgesellschaften und der Küstenwache der Vereinigten Staaten. Über hundert Männer brachen zu dieser Reise auf und erhielten dafür schwere Parkas und andere Winterschutzausrüstung.
Nach dem Passieren der Virginia Capes wurden Manövrier- und Geschwindigkeitstests mit verschiedenen Leistungsstufen durchgeführt. Schon bald wurde dabei ein Problem festgestellt: Das Schiff war mit einem Hydrauliksystem ausgestattet, das es ermöglichte, Ballastwasser mit ausreichender Geschwindigkeit mittschiffs von einem Seitentank in einen ähnlich großen Tank auf der anderen Schiffsseite und wieder zurück zu pumpen. Der Zweck dieser Anlage bestand darin, der Besatzung zu erlauben, sich mit der MANHATTAN frei zu "schaukeln", falls sie von dickem Eis eingeschlossen wäre. Beim Versuch, eine "langsame Bewegung" von einer Seite zur anderen durchzuführen, funktionierte die automatische Steuerung allerdings nicht richtig, so dass ersatzweise auf manuelle Steuerung umgeschaltet werden musste.
Dieser Notbehelf bei der Bewegung des arktischen Wassers mithilfe der Schiffs-Dampfmaschinen brachte dem Tanker bei seiner ersten Reise in die Arktis einen interessanten und ungewöhnlichen Spitznamen ein (Bild links).
Während dieses ersten Tages auf See lernte Dave noch andere Geräte kennen, die zur Unterstützung der Aufgaben des Schiffes installiert worden waren. Darunter befanden sich eine Vielzahl von Dehnungsmessgeräten und anderen Instrumenten, deren Anzeigeergebnisse mit seinerzeit modernsten Geräten in einem Transportfahrzeug aufgezeichnet werden konnten, das direkt hinter dem Mittschiffsaufbau des Tankers festgezurrt war.
Dave erfuhr auch, dass eine der täglichen Aufgaben darin bestand, 45 Tanks unterschiedlicher Größe und Zweckbestimmung zu sondieren und entsprechend der Ergebnisse Tiefgang und Trimmung des Schiffs zu berechnen. Gelegentlich beteiligte er sich auch an der Ermittlung von Biegemomenten und Spannungsanalysen der Rumpf-Stahlträger. Dave nutzte dabei einige von der Werft vorgesehene gelbe Musterbögen zur Aufzeichnung seiner täglichen Aktivitäten und Feststellungen. Alle seine Einträge erfolgten akribisch per Hand und auf mehreren Seiten fügte er eine oder mehrere technische Skizzen hinzu, um strukturelle Konstruktionsmerkmale zu illustrieren, die mit seinen Feststellungen zusammenhingen (Bild unten links).
Am Ende des ersten Tages hatte sich Dave bereits daran gewöhnt, auf See zu sein und schloss seine Logbucheintragungen für den 03. April mit dem folgenden "seemännischen" Vermerk ab: "Das Wetter war sehr gut, klarer Himmel, milde Temperaturen, sanfte Fahrt." Er ergänzte diese Angaben mit einem Foto des ersten Sonnenuntergangs auf See, den er je erlebt hatte (2. Bild unten links).
An ihrem zweiten Tag auf See hatten Dave und seine Kollegen schnell eine routinemäßige Runde zur Erledigung der täglichen Aufgaben eingerichtet, die gelegentlich an die Bedürfnisse ihres Auftrags angepasst wurde. Mehrmals war Dave mit beim NNS-Testteam im Instrumentenwagen und half bei der Datenaufzeichnung, als der technische Direktor der Reise ihn darum bat. Bei anderen Gelegenheiten inspizierte er die verschiedenen strukturellen Verstärkungen des Schiffsrumpfs, um nach Anzeichen von Schäden oder Ausfall von Geräten zu suchen.
Während der nächsten Tage dampfte die MANHATTAN stetig weiter nach Norden. Als sie sich später der westlichen Seite Grönlands näherte, wurde das Wetter zunehmend kälter und schließlich sahen sie erste Eisberge sowie Ansammlungen von Treibeis auf der Meeresoberfläche (Bild oben rechts).
Dave notierte diese neue Erfahrungen in seinem Logbuch und fotografierte die Szenerie. Eine seiner täglichen Routineaufgaben im Beisein des Repräsentanten von Atlantic Richfield erwies sich bald als unangenehm, wie der Tagebucheintrag vom 05. April zeigt: "Als wir begannen, den Schwund in 45 Tanks festzustellen, blies der Wind mit 30 bis 40 Knoten aus Nord. Die Tanks auf dem Vordeck vor der Brücke erwiesen sich dabei als Herausforderung: Hier kam die Gischt der Hochseewellen beim Stampfen des Schiffs über die Seiten des Decks."
Die Ergebnisse ihrer mühsamen, den Elementen ausgesetzten und später durch Berechnungen ergänzten Arbeiten wiesen insgesamt darauf hin, dass das Schiff nicht das richtige Konzept darstellte für einen beladenen Tanker, der die Nordwestpassage zu durchqueren versuchte.
Noch wichtiger aber war im Augenblick, dass die MANHATTAN durch zusätzlichen Ballast einige Meter mehr Tiefgang bei Absenken des Vorschiffs bekommen musste, damit sein dort erheblich verstärkter Eisschutz besser wirken konnte.
Nach Rücksprache mit dem Kapitän wurde beschlossen, das Schiff auf einen mittleren Tiefgang von gut 15 Metern abzusenken bei Trimmung von rund einem Meter achtern Richtung Heck. Dies erforderte zusätzliche 35.000 Tonnen Seewasserballast, gezielt platziert in den verschiedenen Tanks für den gewünschten Tiefgang samt Trimmung.
Am 10. April erblickte Dave nur noch ununterbrochen Eis: Sein Logbuch sagt aus, dass es zumeist aus großen Schollen bestand, aber er sah und fotografierte auch mehrere prächtige Eisberge. Er notierte außerdem, dass sie nun erwarteten, bald auf Packeis zu stoßen und Tests zu folgenden Fragen und Einsatzbedingungen durchführen zu können:
- Anhaltende Fahrt durch Oberflächeneis
- Auftreffen auf dickes Eis
- Prüfung der Manövrierfähigkeit des Schiffs bei allen Eisbedingungen.
Am nächsten Tag wurde ein Eisfeld entdeckt mit einer geschätzten Dicke von rund einem halben Meter. An diesem Nachmittag vermerkte Dave, dass die Lufttemperatur nur noch weniger als -14°C betrug bei einer Windgeschwindigkeit von gut 30 km/h, was einen Windchill von ca. -35°C ergab.
Nach erfolgreichem Dauertest stoppte die MANHATTAN schließlich und viele Besatzungsmitglieder nutzten die Gelegenheit, auf das Eis gehen. Dies tat auch Dave: "Das Eis erschien solide wie ein betonierter Gehweg. Auf dem Eis lag auch eine 10 bis 15 cm dicke Schneedecke. Das alles war eine recht neuartige Erfahrung und wir haben viele Fotos von dem Schiff und unserer Eisparty gemacht."
© 2012-2018 Bill Lee, Deutsche Übersetzung: Explorer Magazin