Überquerung des Polarkreises
Am Sonntag, den 12. April, erlebten Dave und die Novizen unter seinen Schiffskameraden, was ihm zwei Tage zuvor als "recht festlicher Anlass" angekündigt worden war. Im Folgenden seine Logbucheinträge zu diesem Ereignis: "König Rex, die Queen, Davy Jones, das Königliche Baby und mehrere andere Würdenträger kamen an Bord, um offiziell alle Grünschnäbel in ihr arktisches Reich einzuführen. Die Einführungszeremonie bestand aus einem nassen oder kalten Schlag auf den Po (nach Wahl) und anschließend musste jeder den Bauch des Königlichen Babys küssen. Ein Drei-Zentner Seemann spielte die Rolle des Königlichen Babys, und er hatte heiße Barbecue Sauce überall auf seinen dicken Bauch geschmiert. Danach erhielt jeder Grünschnabel ein "königliches Dokument", in dem stand, dass er den Polarkreis überquert hatte."
Zu diesem Zeitpunkt war die MANHATTAN bereits vollständig von einem scheinbar endlosen Feld geschlossenen Eises umgeben. Ein von der kanadischen Regierung beauftragter Eisbrecher, der den Tanker begleiten sollte, wurde häufig benötigt, um dem viel größeren Schiff beim Vorankommen zu helfen.
Jeden Tag verlangsamte sich das Vorwärtskommen: Am 13. April bewegte sich der eisbrechende Supertanker innerhalb von 24 Stunden nur noch rund 70 km weiter nordwärts.
Man traf häufig auf dicke Eiswälle und das Schiff musste oft zurücksetzen und mit Anlauf wieder genügend Fahrt vorwärts aufbauen, um überhaupt noch durchzubrechen und voran zu kommen. Die Dunkelheit erwies sich nicht als Problem, zumindest hinsichtlich des regulären Schiffsbetriebs. Die Sonne ging bereits um 03:30 Uhr morgens auf und völlige Dunkelheit setzte erst spät am Abend ein.
Dave notierte in seinem Logbuch, dass das Schlafen unter diesen Bedingungen schwierig wurde. Aber er merkte auch an, dass die umgebende vollkommen weiße Landschaft äußerst spektakulär war, mit riesigen Eisbergen, die oft in großer Entfernung zu sehen waren. Bei einem von ihnen schätzte Dave, dass er gut 60 Meter aus dem Wasser ragte und entsprechend der "Ein-Siebtel-Regel" für die Messung von Eisbergen musste dessen Unterwassermasse gigantisch gewesen sein.
Ein schlechter Tag: Am Dienstagmorgen, den 14. April, erhielt einer der Mitarbeiter von NNS an Bord der MANHATTAN die knappe Nachricht, dass sein einziges Kind an diesem Tag in der Schule gestorben sei. Verständlicherweise aufgewühlt wurde der Mann vom Bord-Helikopter des Schiffs nach Grönland ausgeflogen, wo Vorbereitungen getroffen wurden, ihn so schnell wie möglich nach Hause zu bringen.
Die Stimmung auf dem Schiff, widergespiegelt durch Daves Logbucheinträge für diesen Tag, konnte man nur als düster bezeichnen. Später an diesem Tag versuchte sich die MANHATTAN durch eine massive Eisplatte zu schlagen, die das Schiff gestoppt hatte.
Das umgebende Eis war schätzungsweise nur rund 1,5 m dick, aber das Schiff war hauptsächlich unter hohem Druck in einem Ausläufer eingezwängt, der sich weit unterhalb des Packeises erstreckte. Demzufolge konnte sich das Schiff nicht mehr aus eigener Kraft bewegen.
Eine Art "Rollensystem" half nicht weiter: Das Ausbreiten von Feuerlöschschläuchen auf dem umgebenden Eis führte lediglich dazu, dass sich das Schiff knapp zwei Meter vorwärts bewegen konnte. Der kanadische Eisbrecher kam am nächsten Tag heran und befreite schließlich die MANHATTAN wieder. Die Mittagstemperatur betrug an diesem Tag -20°C.
Ein paar Tage später wurde ein Eisbär mit zwei sorglosen Jungtieren gesichtet, die das Eis vor dem Schiff überquerten. Als der eisbrechende Supertanker langsam vorbei fuhr, stellte sich die Eisbärenmutter auf die Hinterbeine und reckte den amüsierten Zuschauern trotzig ihre Vorderpfoten entgegen.
Am Abend des 18. Aprils, nach einem Tag langsamen Vorankommens durch rund ein Meter dickes Eis, stoppte der kanadische Eisbrecher neben der MANHATTAN, was beiden Schiffsbesatzungen ermöglichte, sich gegenseitig zu besuchen. Während der Nacht wurde der Treibstoffvorrat des Eisbrechers vom Tanker wieder aufgefüllt.
Einer von Daves Logbucheinträgen an diesem Tag prophezeite wohl bereits die Entscheidung, künftig nicht zu versuchen, mit einem Tanker Öl von Alaska bis an die Ostküste der Vereinigten Staaten zu transportieren: "Wenn sich die Eisverhältnisse noch weiter verschlechtern als jetzt, wird es extrem lange dauern, bis wir unseren Auftrag erfüllt haben. Jeder ist überrascht, dass uns das Eis so viel Ärger bereitet, und es scheint, dass das Wintereis deutlich härter ist als das durch höhere Temperaturen angetaute Sommereis."
Überlegungen zu künftigen Konstruktionsmerkmalen
Das Verfahren, mächtige Eisschollen zu rammen, dann zurückzusetzen um Fahrt aufnehmen zu können und die ständige Wiederholung dieser Versuche, voran zu kommen, führte zu ähnlichen Überlegungen hinsichtlich des modifizierten Designs der MANHATTAN. Kurz gesagt, sie brauchte einfach mehr Leistung für einen arktischen Einsatz.
Die Beobachter an Bord wie auch die Besatzung kamen letztlich zum Schluss, dass die 43.000 PS auf der Antriebswelle für ein Schiff dieser Größe in eisigen Gewässern mindestens verdoppelt werden müssten. Vielleicht wären sogar bis zu 200.000 PS erforderlich, um eine vertretbare Fahrzeit unter winterlichen Bedingungen zu ermöglichen.
Ebenso unzureichend erschien die ausgesprochen schwache Leistung bei Rückwärtsfahrt: Die Zwillingsturbinen erbrachten dabei nur etwa 15.000 PS, was sich als zu wenig erwies, um das riesige Schiff wieder zu befreien, wenn es nach Rammen widerspenstiger Eisschollen steckengeblieben war. Das "Ad-Hoc" Konstruktionsteam an Bord der MANHATTAN kam zum Schluss, dass das Schiff deutlich mehr Leistung bei der Rückwärtsfahrt brauchte und bescheinigte dem kanadischen Eisbrecher ein wesentlich besseres Antriebskonzept. Dieses Schiff verfügte über Antriebsmotoren, die für die Rückwärtsfahrt genau so viel Leistung wie für die Vorwärtsfahrt erzeugen konnten.
Flüge aufs Eis
Am 22. April starteten Dave und einige andere von der ganz hinten am Heck angebrachten Helikopterplattform der MANHATTAN zu einem von ihm als "allgemeine Erkundung" bezeichneten Vorhaben. Nachdem sie ein Gebiet gefunden hatten, das groß und flach genug war um dort zu landen, verließen sie den Hubschrauber und installierten Gerätschaften, um einige Bohrproben vom Eis zu nehmen.
In Sichtweite des Schiffes fanden sie eine Stelle, an der das Eis eine gleichmäßige Dicke zu haben schien und bohrten ein knapp eineinhalb Meter tiefes Loch hinein. Die entnommenen Proben deuteten darauf hin, dass das Eis äußerst "hart" war und Dave spekulierte in seinen Aufzeichnungen, dass sich das noch weiter nördlich vorhandene Eis als zu heftig für die MANHATTAN erweisen könnte.
Solche Aktivitäten wurden später auf der Reise noch mehrmals wiederholt. Bei jedem derartigen "Ausflug" war einer der Männer dazu bestimmt, auf Eisbären aufzupassen und war deshalb mit einem Gewehr ausgestattet. Auch Dave wurde diese Aufgabe einmal zugewiesen und er musste später noch lachen, als er sich daran erinnerte, wie er seinerzeit bezweifelt hatte, auch nur annähernd in der Lage zu sein, einen angreifenden Eisbär mit einer Art "Bolzenschussgewehr" zu treffen ...
Bei einem zweiten Flug an diesem Tag entdeckten sie einen Bereich kurz vor dem Schiff, der für eine normalere Fahrt und relativ leichtes Manövrieren geeignet erschien. Nach der Rückkehr zum Schiff wurde Dave mit einer Technik vertraut gemacht, die als "Fass-Test" bekannt ist. Die Helikopter-Crew stellte dabei etwa eineinhalb Kilometer vor dem Schiff ein leeres Ölfass auf das Eis.
Die MANHATTAN dampfte daraufhin in Richtung des Fasses, so als ob sie dort längsseits gehen legen wollte, ähnlich wie beim Anlegen in einem vereisten Hafen. Aber beim Versuch dieses vermeintlich einfachen Kunststücks blieb das Schiff wieder stecken, umgeben von riesigen Eiswällen.
Mit Hilfe der Kanadier wurde der Tanker am nächsten Tag erneut befreit und setzte seine langsame Fahrt entlang der Küste Grönlands Richtung Norden fort. Am 25. April hatte die MAHATTAN Richtung Nordwest gedreht, um die Baffin Bay zu durchqueren. Häufig musste der kanadische Eisbrecher einen Weg hinter der MANHATTAN frei machen für ausreichend Platz zur sicheren Rückwärtsfahrt sowie anschließenden Beschleunigung, damit das Schiff das Eis wieder mit genügend Kraft rammen konnte für irgend ein Weiterkommen.
Dave vermerkte in seinem Logbuch eine allgemeine Übereinstimmung an Bord, dass jeder zukünftige eisbrechende Tanker einen Bug benötigen würde, dessen Konstruktion wie bei üblichen Eisbrechern ein Aufgleiten und anschließendes Zerkleinern des Eises ermöglichte, anstatt zu versuchen, mit roher Gewalt durchzubrechen.
Darüber hinaus hatten Dave und andere mit entsprechenden technischen Kenntnissen mittlerweile Bedenken hinsichtlich des Zustands vom Bug nach den wiederholten absichtlichen Kollisionen mit dickem und überraschend starkem Eis, was sie als gute Bedingungen für mögliche Sprödbrüche am stählernen Rumpf einstuften. Sie hatten erfahren, dass bei der ersten Versuchsfahrt des Schiffs in der Nordwestpassage ein Loch seitlich in den Rumpf unweit der Eisverstärkung geschlagen worden war, so dass ihre Befürchtungen mehr als nur akademischer Natur waren.
Mehrmals während seiner täglichen Sondierungsarbeiten an den Tanks betrat Dave die wesentlich verstärkte Vorpiek, den Bugruderraum, um dort nach Anzeichen von Strukturrissen zu suchen. Unzureichende Beleuchtung und die hinzugefügten eng beieinander stehenden Bauteile machten diese Inspektionsgänge schwierig, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass dieser Teil des Schiffs nicht beheizt war.
Dave bewunderte die schiere Größe der Verstärkungen: "Die Versteifungen schienen eineinhalb Meter tief zu sein. Die Verbindungsstege waren sicherlich 4 Zentimeter dick und die Flansche 25 cm breit und 2 cm dick. Sie scheinen in rund 60 cm Abstand angebracht zu sein. Sich in diesem Bereich zu bewegen, war sehr schwierig."
Politik auf dem Eis
Am 27. April besuchten der Bruder des damaligen Präsidenten Nixon sowie drei Offizielle von Humble Oil das Schiff, ihre Ankunft erfolgte mit einem Helikopter aus Thule, Grönland.
Um diese Besucher unterzubringen, wurden Dave und seine Kollegen von NNS aus ihrer komfortablen Unterkunft mittschiffs in einen weniger bequemen Bereich nach achtern umquartiert. Wenige Tage später verließen die VIPs das Schiff wieder. Dave hatte dabei weder den Bruder des Präsidenten getroffen, noch konnte er anschließend wieder in sein vorheriges Quartier zurückkehren. Stattdessen blieb dieser Bereich nun frei, außer wenn er von Führungskräften der verschiedenen Ölgesellschaften belegt wurde, die diese Erkundungsfahrt finanziert hatten.
Analytiker in der Arktis
Während sich das Schiff langsam weiter nach Westen bewegte, untersuchte Dave einige Zeit lang die Art und Weise, wie der Bug der MANHATTAN mit dem Eis zusammenspielte. Er machte seine Beobachtungen, während das Schiff den Elementen trotzte und sich durch das Eisfeld bewegte; er stand dabei etwas gefährdet auf einer Plattform, die auf der Steuerbordseite in der Nähe vom Bug meterweit hinausragte.
Von diesem ungewöhnlichen Standort aus hatte er einen ungehinderten Blick auf den Schiffsrumpf, der sich langsam durch das eiskalte Wasser bewegte und dabei relativ dünnes Eis zerquetschte oder beiseite schob ...
Bei anderen Gelegenheiten, wenn das Schiff angehalten wurde, gingen er und andere auf das Eis hinunter und inspizierten den Bug direkt an der Wasserlinie und Eiskante, um festzustellen, ob es irgendwelche äußerlichen Anzeichen von Schäden aufgrund des wiederholten Eisrammens gab.
Dave nutzte die langen arktischen Tage, um über seine Beobachtungen zu grübeln. Er entwickelte eine Reihe von Schlussfolgerungen und Gedanken über zukünftige Konstruktionen, die er niederschrieb und damit mehrere Seiten seiner Dokumentationsunterlagen füllte. Er fügte etliche Querschnittskizzen hinzu, die Eigenschaften von Eis verdeutlichten, das während der Fahrt an den Seiten der MANHATTAN aufgebrochen wurde. Zusätzlich machte Dave für die mögliche künftige Verwendung Skizzen, wie er sich einen besser konstruierten Bug von eisbrechenden Supertankern vorstellte. Alles gute Sachen, aber offensichtlich niemals bei einem zukünftigen Design und einem verbesserten Nachfolger der MANHATTAN realisiert ...
© 2012-2018 Bill Lee, Deutsche Übersetzung: Explorer Magazin