Zum Camp 2 und Probleme ...
08.01.2012: Materialtransport zu Camp 2, 5.800 m Höhe.
3h 40 Min, 872 Hm.
Nach dem Aufstehen stellen wir fest, dass das Wasser fast bis zum Zelteingang gekommen ist. Noch ist es kaltes, gefrorenes Eis. Sobald die Sonne ihre Kraft wieder entfaltet, wird aus dem Eis wieder Wasser. Und das wird unweigerlich in unser Zelt fließen. Also lösen wir die Heringe aus dem Boden und nehmen die Sturmabspannungen von den Felsblöcken.
Wir lassen alles andere im Zelt. Lediglich unsere Rucksäcke nehmen wir raus. Dirk nimmt das Zelt hinten, ich packe vorne an. Gemeinsam tragen wir es über einen kleinen Geröllhang zu einem neuen Platz. Dirk hat ihn entdeckt: Perfekt gelegen. Direkt hinter einem riesigen Felsbrocken. Der dient uns als mächtiger Windschutz und leistet bei den Sturmböen gute und willkommene Arbeit. Letzte Nacht sind die Böen über das Zelt gefegt, als ob ein Güterzug Kurs auf unsere Behausung genommen hätte. Durch die Kopfschmerzen habe ich nur wenig Schlaf gefunden. Das laute Zerren und Reißen an den Zeltwänden hat sein Übriges dazu getan …
Wir packen unsere Ausrüstung für das Hochlager zusammen: Essen für 4 Tage, Kletterausrüstung, unseren Gaskocher mit drei Gaskartuschen. Es geht los. Noch langsamer als sonst setzen wir uns in Bewegung. Die Bewegung tut mir gut, die Kopfschmerzen verschwinden langsam. Trotz unseres langsamen Ganges überholen wir wieder jeden, der vor uns geht. Das lange Training, die mehr als 60.000 Hm im letzten Jahr scheinen sich bezahlt zu machen.
Der Wind wird stärker. Kein Windschutz um eine Pause zu machen. Wir kauern uns hinter eine Kuppe am Hang auf 5.400 m Höhe. Dort bläst es zumindest etwas weniger. Unser Mittagessen besteht aus heißem Tee und einem Müsliriegel. Auf den letzten 100 Hm unter dem Camp 2 treffen wir auf zwei weitere Bergsteiger, die gerade am Abstieg sind und hinter einem Felsen Schutz vor dem Wind suchen. "Noch ca. 45 Minuten, dann seid ihr da! Aber Vorsicht, nach der Kuppe dort hinten erwartet euch ein Inferno aus Wind und Schnee!" Na super, sehr aufbauend.
Wir gehen weiter: Der Sturm schlägt hinter der Kuppe zu wie die Faust eines trainierten Boxers … aus Grönland. In der Ferne erkenne ich Sebi: Kurzes "Hallo", kurze Umarmung und dann muss ich in den Windschutz ihres Zeltes. Simone hat im Zelt Schutz vor dem Wind gefunden. Ich wärme meine Finger, setze meine Sturmbrille auf, ziehe dickere Handschuhe an und gehe wieder nach draußen. Dirk ist bereits dabei, den Lagerplatz von Schnee zu befreien. Die Kälte macht ihm nichts aus. Er ist wirklich ein knallharter Kerl ...
Nachdem wir unsere Ausrüstung deponiert haben, beschweren wir sie mit schweren Steinen: Sicher ist sicher. Der Wind kann hier oben zu einem regelrechten Orkan anwachsen. Kein Ort, um lange hier zu verweilen. Kein Ort, der für Menschen auf Dauer gemacht ist. Hier oben kann man Leiden lernen. Aufgrund der Kälte, die durch den starken Wind noch verstärkt wird, machen wir uns auch schon bald auf den Rückweg. In nicht mal einer Stunde sind wir wieder in Camp 1. Schnelles Absteigen im Schnee und Geröll. Die Gewissheit, dass man im Notfall recht schnell die Höhenmeter nach unten hinter sich lassen kann, ist eine Sicherheit.
Ich schaue mir immer wieder das Gelände an, spiele in Gedanken schon im Vorfeld der Expedition sämtliche Situationen durch. Notfallsituationen insbesondere. Damit mache ich mir keine Angst, ganz im Gegenteil: Das ist mein mentales Training für Sicherheit auf der Expedition. Wenn ich im Vorfeld bereits gedanklich schwierige Situationen durchgespielt habe, sind diese nichts absolut unbekanntes mehr, falls wirklich etwas passiert. Ich habe sozusagen bereits "Erfahrungen" gesammelt. Wenn ich Erfahrung mit etwas habe, also Referenzerlebnisse vorhanden sind, kann ich eine Situation besser beurteilen und auch bessere Entscheidungen treffen. Somit erweitere ich mental meine "Komfortzone" ...
Die Komfortzone beschreibt den Bereich, in dem ich mir in meinen Handlungen und meinem Verhalten sicher bin. Ich weiß, welche Ergebnisse oder Reaktionen ich darauf zu erwarten habe. Ich kann die Situation also einschätzen, weil ich im Vorfeld auf die ein oder andere Art und Weise bereits gleiche oder ähnliche Erfahrungen gesammelt habe. Ich nenne diese Erfahrungen "Referenzerlebnisse". Diese kann ich zum Vergleich, also für meine "Bewertung" der Situation heranziehen. Alles außerhalb meiner Komfortzone ist für mich Neuland und schwer einzuschätzen, da mir eben diese Referenzerlebnisse fehlen. Dementsprechend unwohl fühle ich mich, wenn ich daran denke, aus meiner Komfortzone herauszugehen. Der Grund dafür ist oftmals Angst: Angst vor dem Unbekannten. Unbekannt und somit nicht einschätzbar. Wir befürchten, dass sich das Ergebnis unserem Einfluss entzieht. Angst liegt meist in der Zukunft. Die Vorstellung von dem unbekannten Ergebnis unserer neuen Handlungen sorgt für diese Angst. Mit Angst meine ich auch einfach nur ein ungutes Gefühl, vielleicht ein flaues Gefühl in der Magengegend oder ähnliches.
Sobald wir etwas schon einmal gemacht, also Erfahrung damit gesammelt haben, ist es nichts Unbekanntes mehr und rückt somit in unsere Komfortzone oder zumindest nahe dran. Je öfter wir etwas tun, desto vertrauter ist uns die Handlung und desto einschätzbarer das Ergebnis. Umso weiter rückt diese Handlung in unsere Komfortzone. Die Angst verringert sich immer mehr und verschwindet früher oder später: Die Komfortzone ist wieder etwas gewachsen. Das ist auch der Grundgedanke meiner Trainingsfirma "Max your Limits" - Erweitern der Komfortzone. Dabei bediene ich mich gerne wirklich effektiver Outdoorübungen.
Die Nase ist trotz Sonnencreme Faktor 60 verbrannt. Ebenso meine Lippen. Der Wind und die Kälte haben ihren Teil ebenso dazu beigetragen. Mein rechtes Nasenloch blutet etwas. Simone und Sebi haben sich dazu entschlossen, die "Falsche Polenroute" zu gehen. Wir hatten uns das gestern bereits gedacht, als wir gesehen hatten, dass die beiden ihr Seil und einen Teil der Kletterausrüstung im Camp 1 gelassen hatten. Wir haben alles hochgebracht. Noch wollen wir den Polengletscher nicht aufgeben. Es liegt viel Schnee in den Vertiefungen. Bisher haben die wenigen Bergsteiger, die die Route versucht haben, alle aufgeben müssen. Wegen des Wetters, wegen des Schnees. Wenn wir Glück haben, bläst der Sturm viel Schnee weg und die Sonne sorgt dafür, dass sich der Rest setzt und verfestigt. Ansonsten haben auch wir keine Chance, 1000 Hm bei 30-40° in über 6.000 m Höhe zu machen. Wir werden sehen ...
Der Sturm wächst an: Selbst die Sonne kann nicht mehr genug Wärme spenden, um die kalte Luft zu kompensieren. Mir ist kalt. Der Kopf schmerzt wieder. Der Puls rast. Ich atme, als hätte ich einen Dauerlauf am Berg hinter mich gebracht. Nach ein paar Stunden geht es mir wieder besser. Trinken. Viel trinken. Ich habe wenig Hunger. Trotzdem. Ich esse etwas von meinem Müsliriegel und trinke Mate mit Dirk. Dirk geht es gut. Seine O2 Sättigung ist bei 94%. Meine bei 79%. Das gibt mir zu denken. Ich freue mich, dass es Dirk gut geht. Der Mann ist wirklich top fit!
Der Wind nimmt zu: Ich messe 70 Km/h! Wir legen uns noch vor dem Dunkelwerden in das Zelt. Draußen wird es ohne die Sonne zu kalt. Wir lesen. Ich höre schließlich Musik mit meinem MP3-Player, während Dirk einschläft. Wieder Kopfschmerzen … hoffentlich schlafe ich bald ein. Der Mund ist extrem trocken. Das Atmen ist unangenehm. Auch die Schleimhäute meiner Nase sind sehr trocken. Die Nase brennt, ebenso die Lippen. Hoffentlich schlafe ich bald ein … der Sturm nimmt an Stärke zu. Wieder raus aus dem Schlafsack, raus aus dem Zelt, in den Sturm, Wasserlassen … hoffentlich schlafe ich bald ein … die Kopfschmerzen werden stärker … langsam begreife ich, dass es wirklich die Höhe ist. Keine Nackenverspannungen. Ich denke darüber nach, abzusteigen. Nein, erst wenn es hell ist. Nicht bei dem Sturm. Nicht bei dieser Dunkelheit. Nicht in diesem Gelände.
Endlich - es wird hell! Ich habe kein Auge zu getan in dieser Nacht. Noch weniger Schlaf als in der Nacht davor … was ist mit mir los?
O2: 79%, Hf: 110 S/M in Ruhe.
09.01.2012: Abstieg von Camp 1 ins Basislager, 4.200 m Höhe.
1h 20 min, 773 Hm Abstieg.
Nachdem es hell geworden ist und Dirk aufgewacht ist, teile ich ihm meine Entscheidung und meine Gründe mit, für einen Tag abzusteigen. Eigentlich wollten wir heute umziehen. Auf 5.800 m Höhe, ins Camp 2. Dirk versteht mich. Er wartet hier oben einen Tag auf mich. Morgen in der Früh werde ich wieder aufsteigen und dann werden wir nach einer Pause weiter ins Camp 2 gehen.
Ohne Frühstück, das besteht täglich aus Kaffee, Müsli mit Milch- und Eiweißpulver (545 Kcal.), steige ich ab. Ich habe keinen Hunger, geschweige denn Appetit. Das ist ungewöhnlich für mich. Mit weichen Knien gehe ich los. Die Sturmböen machen meinen Gang auf dem Geröll noch unsicherer. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen. Muss ich mich übergeben?
Nach einer Stunde und zwanzig Minuten komme ich im Basecamp an: Ich habe länger gebraucht als sonst. Ich fühle mich elend. Unten angekommen lege ich mich ins Zelt. Es hat dem Sturm standgehalten. Sicher war ich mir nicht. Als die Sonne stärker wird, wird es unerträglich warm im Zelt. Ich muss raus. Dort weht starker Wind. Die Kopfschmerzen verschwinden langsam. Soll ich zum Arzt gehen? Später, zu viel Betrieb gerade. Ich koche etwas Wasser und esse mein Frühstück. Diesmal erst gegen Mittag. Langsam kommt der Appetit wieder. Ja, ich habe Hunger. Trinken fällt mir heute schwer.
Ich gehe zu Daniel Lopez Expeditions ins Basislagerzelt, setze mich auf einen Stuhl. Geschützt vor Sonne und Wind lese ich in Manfreds Buch. Bald habe ich es durch. Wieder kommen mir Gedanken in den Kopf. Zweifel. Ängste? Wofür mache ich das? Was sind meine Beweggründe, auf den Gipfel zu gehen? Ich kann die Fragen aktuell nicht beantworten. Ich weiß, was meine Beweggründe waren. Aber was sie gerade sind, kann ich nicht sagen. Meine Stimmung ist am Tiefpunkt angelangt. Ich kann mich nicht motivieren. Weshalb gelingt es mir nicht? Ich kenne genug Techniken aus dem NLP.
Was ist mit mir los? Bin ich ein Versager? Ein Feigling? Nein, bestimmt nicht. Ich habe genug Referenzerlebnisse, um vom Gegenteil überzeugt zu sein. Also, was ist mit mir los? Was stimmt nicht? Ich denke an meinen Partner Dirk. Ein Lächeln erscheint auf meinen Lippen. Dirk ist motiviert, gut drauf und strotzt vor Energie.
Ich sollte ihn fragen, was ihn antreibt. Ihm Energie gibt. Was kann ich von ihm lernen, das mir in meiner Lage hilft. Schließlich geht es in der "Expedition Persönlichkeit" um das Erreichen von Zielen und das Aufbringen eben der Motivation, die nötig ist, um diese Ziele zu erreichen. Und ich kann mich selbst nicht motivieren. Meine Gedanken drehen sich. Ich stelle Fragen und bekomme keine passende Antwort ...
Die Wolken werden dichter, die Sonnenstrahlen verlieren an Kraft. In meinem Zelt wird es kühler. Ich lege mich noch einmal hin. Versuche zu schlafen. Gedanken kreisen in meinem Kopf … Schluss jetzt! Ich schlafe ein …
Zwei Stunden später wache ich wieder auf. Ich gehe zu Daniel Lopez, besorge mir einen Kugelschreiber und arbeite ein Teamtraining aus, Schwerpunkt Kommunikation. Das tut mir gut. Ich bin motiviert, die Arbeit macht mir Spaß. Stunden später bin ich fertig. Müde und befriedigt. Ich habe Hunger. Zurück am Zelt werfe ich den Kocher an. Der Koch ist wieder Lyofood: Diesmal gibt es Schweinelende in Dillsauce. Lyo, du hast wieder einmal meine Erwartungen übertroffen. Zum Nachtisch gibt es heute Milchreis in Vanillepudding. Warmes Wasser als Teeersatz, da unsere Teevorräte in den Hochlagern sind ...
Nach dem Essen und getaner Arbeit schlafe ich glücklich und zufrieden ein. Morgen geht es wieder hoch auf den Berg … das Wetter soll besser werden. Der 11. und 12. Januar könnten die idealen Gipfeltage werden. Sturm ist nur noch für morgen angesagt. Mit Bonos Stimme im Ohr schlafe ich ein. Ich schlafe die Nacht durch. Tut das gut …
O2: 85%, Hf: 78 S/M.
© 2012 Marco Plass
- Weiter: Erneuter Versuch und Ende ...
- Zur Reiseübersicht