Gomera, Althippies, Aussteiger, Drogeninsel ...

Während wir in Los Cristianos auf die Abfahrt warten, lerne ich einen sehr aktiven Menschen namens Max, alias Isa kennen, er sieht aus wie der Rattenfänger von Hameln oder wie ein lustiger Hofnarr. Er erzählt uns, dass er auf Gomera zwei alte Wohnbusse besitzt, wovon er einen auch immer zur Übernachtung anbieten würde. Die Überfahrt wird eine der "wellenreichsten", die ich je erlebt habe -  ein wahrhaft herrliches Schwanken und Schaukeln ...

Angekommen in der Hauptstadt San Sebastian überrascht uns erst einmal ein großes deutsches "Nicht-mein-Kreuzfahrtschiff" von jemandem, der wie üblich behauptet, es wäre "Seines". Schon bald können wir aber glücklicherweise feststellen, dass die Insel insgesamt kleiner, weniger belebt und auch weniger befahren ist. Wir machen uns sofort auf den Weg nach Valle Gran Rey, dem touristisch wohl bedeutendsten Ort der Insel auf der gegenüberliegenden Seite. Wieder heißt es also die Berge hoch bis über 1.000 Meter und anschließend wieder die Berge hinunter. Oben auf den Bergen in rund 1.000 Meter Höhe stößt man auf einen erstaunlich grünen Regenwald, der wohl fast jeden Tag von Dunst, Nieselregen oder auch Starkregen bewässert wird ...

Ankunft in San Sebastian: Ist das wirklich "Mein Schiff"?? Altes Bild in der  Kirche von San Sebastian Auf Gomera unterwegs Richtung Westen: Berg rauf, Berg runter ...
Regenwald ... ... Nachwuchs ... Ständige Bewässerung gewährleistet ...

In Valle Gran Rey suchen wir erst einmal den Strand Playa del Ingles auf, ein bekanntes Ziel für Hippies, Esoteriker und andere. Der Strand selber ist zwar ausreichend sandig, allerdings stößt man bereits nach kurzer Zeit auf Steine, so dass Schwimmen hier nur bei sehr leichtem Seegang angeraten ist.

Auf dem Parkplatz steht heute Manu mit seinem alten 406 Mercedes Posttransporter, ein Spanier mit Gitarre, der dort bereits seit mehr als einem Jahr haust: Sein Fahrzeug ist nahezu völlig zugespachtelt an den die löchrigen Stellen, die Scheinwerfer sind blind, die Reifen brüchig. Am Strand wurden viele Steinkreise gelegt, in denen man Windschutz finden kann. Zelte sind nicht erwünscht, weshalb sich viele einfach mit Decken oder Schlafsäcken in die Steinkreise legen.

Ich suche mir eine Ginsterhöhle aus, die allerdings nachts doch zugiger ist als gedacht. Auf diese Weise hole ich mir fast eine schmerzhafte Lungenentzündung, bereits leichtes Einatmen schmerzt schon in der rechten Seite und an tiefes Einatmen ist gar nicht erst zu denken ...

In Anbetracht dieser "etwas ungünstigen" Umstände beschließen wir, uns für eine Woche oder etwa 10 Tage vom Zelten oder dem Schlafen im Auto zu erholen und uns eine kleine, günstige Pension zu suchen. Das ist allerdings kurz vor Weihnachten deutlich einfacher gesagt als getan, denn wie bereits angedeutet ist der Touristenort Valle Gran Rey bereits ziemlich überfüllt und ausgebucht ...

Wolfgang beginnt sich mit diversen Leuten zu unterhalten und meint schließlich, wir sollten mal versuchen, direkt am Meer in der blau-weißen Pension Casa Domingo eine Unterkunft zu bekommen.

Am nächsten Tag gegen 10 Uhr treffen wir den Besitzer an, einen netten, aber auch neugierigen Spanier, der die Pension von seinem Vater übernommen hat, der sie in den 1960er Jahren aufbaute. Er achtet nun sehr darauf, welche Leute er bei sich beherbergt: So fragt er uns erst einmal, von wem wir die Empfehlung bekommen hätten, danach will er wissen, was wir so  machen und tun, und nach einem langen weiteren Verhör beschließt er letztendlich, uns ein kleines Appartement für 25 Euro die Nacht zu geben.

Valle Gran Rey: Strand ... ... und Promenade ... Es weihnachtet schon sehr ... ;-)) Pension Casa Domingo

In dieser Pension wohnen zahlreiche Deutsche bzw. Österreicher: Einer von diesen hat oben an den Bergen einen Platz geschaffen, um ein Boccia ähnliches Spiel auszurichten. Dorthin werden auch wir eingeladen, aber können gegen die Profis in keiner Weise bestehen: Der Gewinner bekommt meist eine Flasche Cidre, die dann die Runde macht. An dieses Getränk erinnere ich mich noch sehr gut in Zusammenhang mit einer Fahrradtour durch Nordspanien in den späten 1980er Jahren: In Asturien, dem spanischen Cidre Gebiet, wo man in den Kneipen bis zu den Knöcheln in Cidre watete, war es eine Tradition der Einwohner, das Glas mit der Flasche über den Kopf rückwärts voll zu gießen. Woraufhin ich dann auch nach kurzem Suchen einen Laden entdeckte, der eine solche 0,75 Literflasche für 1,50 Euro anbot. Dies war bei der sommerlichen Wärme immer ein gern gesehenes, erfrischendes Getränk, bevor man abends dann vielleicht auch durchaus stärkere geistige Getränke zu sich nahm ...

Nach ein paar Tagen treffe ich zufällig wieder den Österreicher Max, alias Isa, der mit seinem schweren Rucksack am Ende von Valle Gran Rey den Weg Richtung Bucht sucht. Doch dieser ist durch eine Baustelle versperrt, die den Zugang zur letzten Bucht für eventuelle Besucher erschwert, da nach einem hier üblichen Felssturz mit weiterem Steinschlag zu rechnen ist.

Ich erinnere ihn an sein Angebot, ein altes Wohnmobil zu vermieten und kündige ihm an, dass wir die Tage mal vorbeikommen würden. Er warnt uns noch ein wenig vor dem sogenannten Todesweg, schmeißt seinen Rucksack über den Bauzaun, klettert selber darüber und verschwindet danach hinter und unter den Felsen ...

Die Bucht der Felsstürze ... Aufenthalt auf eigene Gefahr! Campieren an 50 Meter hohen Felssteilwänden ...

Am Folgetag ist ein Ausflug in das Argayall Tal fällig: Um die Baustelle zu umgehen, müssen wir erst einmal einen Teil des Bergs hochlaufen und dann wieder hinunter, um uns an der Baustelle vorbei und am Felsen entlang auf die alte Straße hin bewegen zu können. Über uns drohen 50 Meter hohe Felssteilwände und man sieht auf dem Boden diverse kleinere und größere Steine, die anscheinend immer wieder mal von oben herunterprasseln ...

An der Stelle, wo der Felssturz erfolgte, führt später ein improvisierter Weg über die Steinreste hinweg zum Tal: In einer Reihe stehen dort etwa fünf Fahrzeuge, welche alle in irgendeiner Form bewohnt oder behaust sind. Vor der von "Sannyasins" gegründeten Finca Argayal stehen ebenfalls noch weitere rund 3-4 Fahrzeuge.

Schöner Wohnen am Felsen ...Eines davon ist das Wohnmobil von Max, dort trinken wir gemeinsam einen Tee und besprechen, wann wir in das erste braune Wohnmobil hinter dem Felssturz einziehen können, das ihm ebenfalls gehört. Wir versuchen anschließend noch den weiteren Weg in die Schweinebucht zu nehmen (der Name hat sich in den 1970er Jahren gebildet, da die Bucht für Nacktbader bekannt war und das die Einwohner von Gomera veranlasste, die Bucht so zu bezeichnen). Da sich dies aber nicht als Weg herausstellt, sondern eher nur als Ansammlung von großen dicken und runden Steinen, geben wir nach etwa einer halben Stunde auf und kehren wieder um.

Ein paar Tage später machen wir uns wie verabredet mit leichtem Gepäck auf den Weg zu unserem neuen Urlaubsdomizil, dem alten Wohnmobil in der Bucht hinter dem Felssturz: Max hat uns eine Powerbank hingestellt sowie frische Bettlaken, ein improvisiertes Klo draußen, eine Lampe und eine Gaskochgelegenheit. Nach dem langen Weg lege ich mich erst einmal auf die Matratze und beginne ein Buch zu lesen, derweil Wolle sich draußen auf einem Stuhl bequemt ...

Mit Gepäck nur bei Ebbe begehbar ...Kurz darauf höre ich ein leises Pfeifen und einen lauten Knall, ich rufe: "Wolfgang, hast du eine Flasche fallen lassen?" Er meint nein, hier sei eben ein großer Stein runtergekracht. Ich gehe nach draußen und tatsächlich sehe ich eine Einschlagstelle, ungefähr anderthalb Meter neben dem Stuhl, auf dem Wolle gesessen hatte. Nach kurzer Zeit finde ich auch den Stein, der mehr als faustgroß ist: "Nun", sage ich gelassen in seine Richtung, "das war wohl ein Begrüßungsstein!"

So vergehen dann die Tage an der Felswand, manchmal auch mit ein paar kleinen Steinen, vor denen sich hier etliche mit Bauhelmen zu schützen versuchen - mir ist das egal, nach der alten Devise: Sei fair, gib dem Tod eine Chance ...

Jeden Tag geht einer von uns den sogenannten Todesweg in die kleine Stadt, um einzukaufen. Ich entdecke bei der Gelegenheit den einfachen Weg gleich unten am Meer entlang, welcher aber mit Gepäck nur bei Ebbe begehbar ist. Der eigentlich gute Strand befindet sich allerdings in Richtung des anderen Endes der Stadt, weshalb ich mich manchmal zu Fuß und ab und zu auch mit meinem Auto dorthin begebe, um ein wenig mit den dort auch besseren Wellen zu spielen - Bodysurfing ...

Hier gibt es auch einen kleinen Platz vor der Kapelle, auf dem sich abends junge und alte Hippies und Aussteiger treffen, Musik spielen, Joints rauchen und am Strand Feuerspiele veranstalten. Die meisten sind Rainbow Enthusiasten, Klima Idealisten, von weitem gesehen könnte man sie auch Die Kinder von Torremolinos nennen (nach dem bekannten Buch von James Michener (1971), später hatte J.G. Ballard das Thema nochmal aufgegriffen in Cocaine Nights (1996) ...

Eigene Nische suchen auf Gomera?Auf diesem kleinen Platz vor der Kapelle kommt es oft zu interessanten Gesprächen und Diskussionen, auch wenn ich den Idealismus der Meisten hier nicht teilen kann. Sehr gut verstehen kann ich dagegen, dass man der heutigen Gesellschaft sehr kritisch gegenüber steht, aus Deutschland weg wollte und für sich selbst eine Nische auf der Insel Gomera sucht. Auch hier ist natürlich Corona ein Thema, aber dazu mehr an anderer Stelle ...

In den Tagen freunde ich mich mit einem der Wohnmobilinsassen hinter dem Felssturz an, einem Namensvetter von mir, ebenfalls ein Michael. Er hat mein Coupé mit den lettischen Kennzeichen in der Stadt gesehen und fragt mich, ob ich denn auch Deutsche in Lettland kennen würde. Ja, sage ich, einige davon, z.B. Micha Chittka aus Riga, der leider vor ein paar Jahren verstorben ist. Unglaublich, sagt er, mit dessen Schwester war er früher mal zusammen, und auch den Chittka selbst, einen alten Ganoven, kennt er gut. Ja, meine ich, der hat auch einmal mein Coupé gefahren und es gegen Rost behandelt ...

Michaels Wohnmobil ist noch eines der besten, das hinter dem Felssturz steht und er überlegt sich, das Fahrzeug noch einmal in Betrieb zu nehmen, um es ein wenig zu bewegen: Das Problem ist allerdings, dass der Motor nur mit externer Treibstoffzufuhr anspringt. Ich schaue mir das Ganze mal genauer an, er besorgt derweil eine neue Batterie und wir machen schließlich die ersten Startversuche.

Da kein Sprit von hinten ankommt, stecken wir eine Spritleitung in einen Kanister und heben den so weit hoch, dass der Sprit besser in den Motor hineinlaufen kann. Irgendwann springt er auch mit fürchterlichem Gequalme an: Wir lassen ihn eine Weile laufen und stellen ihn dann wieder ab, aber bereits nach einer halben Stunde Standzeit will er erneut nicht anspringen. Alles klar meine ich, das liegt am defekten Rücklaufventil und das Einfachste wäre, ein zusätzliches Ventil einzubauen, welches man per Hand auf- und zumachen kann.

Kurz vor Neujahr haben wir das Ventil eingebaut und machen eine kurze Fahrt durch das schmale Tal bis zum Ende der kleinen Privatstraße, an der etwa 5 bis 6 Häuser liegen.

Oben am Ende der Straße befindet sich noch ein kleiner Trampelpfad, der weiter in die Berge zu abgelegenen Terrassen führt, auf denen Jorgi, ein ca. 70 Jahre alter Mann, sein kleines Tipi Zelt aufgeschlagen hat, umkleidet von Palmzweigen, und dort immer für ein halbes Jahr im Winter auf Gomera haust.

Es fährt wieder ..! Mitfahrt gewünscht? Dann bitte einsteigen! Jörgi-Unterkunft mit Palmzweigen ...

Die schon erwähnte Sannyasin-Finca hält sich bei Kontakten bedeckt, nur mit einem der Besitzer komme ich in ein längeres Gespräch. Mir war bereits bekannt, dass sie ursprünglich in der Bhagwanzeit der 1980er Jahre errichtet wurde und so unterhalten wir uns länger über jene Zeit. Santini, wie er sich nennt, meint, diese ideologische Ausrichtung wäre schon lange vorbei, heutzutage würde man nur noch allgemein esoterische Ziele vertreten wie Meditation, Einklang mit der Umgebung und Natur und so weiter. Von Autarkie kann man hier nicht sprechen, da die 1,1 Hektar bei Weitem nicht ausreichen, eine Mannschaft von etwa 20 bis 30 Personen zu unterhalten zuzüglich der immer wieder neuen Gäste, die aus Sicherheitsgründen nur mit dem Boot in die Bucht und wieder weg gebracht werden. Diese Gäste können für eine oder mehrere Nächte ein Zimmer bzw. ein kleines Holzzelt mieten. Die billigste Unterkunft für eine Nacht einschließlich Verpflegung, natürlich vegetarisch, kostet 80 Euro. Santini räumt auch ein, dass nur ein touristisches Konzept mit vielen Gästen diese kleine Kolonie am Leben erhalten würde ...

Ich nutze die lange Zeit am Meer auch, um einige interessante philosophische Bücher zu studieren, so z.B. über die chinesische Philosophie. Dabei kann ich den ersten Anarchisten in zwei Büchern ausfindig machen, nämlich Yang Tschu, der um 400–300 v.Chr. in China lebte. Von ihm an dieser Stelle einige Weisheiten:

"Recht und Moral sind etwas Äußerliches, womit sich ein Staat höchstens eine Zeitlang regieren lässt, aber sie stehen im Gegensatz zu den inneren Gesetzen der Persönlichkeit, die darunter leidet, daher fort mit diesen äußeren Eingriffen in die Menschennatur.“

"Vier Chimären sind es, denen die Menschen nachjagen und sie nicht zum ruhigen Lebensgenuss kommen lassen: das Verlangen nach langem Leben, nach Ruhm, Ehre und Reichtum."

"Durch Strafen und Belohnungen werden die Menschen gehemmt und angefeuert, durch Ruhm und Gesetze angetrieben und zurückgehalten, so dass sie in beständiger Erregung sind. Indem sie sich um den eitlen Ruhm einer Stunde abmühen und für den Glanz, der ihren Tod überdauern soll, Sorge tragen, gehen sie einsam ihres Weges. Dabei aber verlieren sie die glücklichsten Augenblicke der Gegenwart und vermögen sich nicht einmal eine Stunde frei ihren Gefühlen hinzugeben. Wie unterscheiden sie sich von kettenbeladenen Sträflingen?"


© 2022 Michael Gallmeister