Ratter, ratter, ratter, Berg auf, Berg ab ...
Am Bahnhof erwartet uns schon der Express mit seinen einzigartigen Panoramawagen: Schaffner sind dabei behilflich, dass man den richtigen Platz findet, in unserem Fall ein schöner kleiner Tisch am Fenster, den man als "VIP-Platz" bezeichnet. Alles liegt bereit: Infos zur Reise, Kopfhörer für die Erläuterungen, Speise- und Getränkekarte. Der Wettergott soll uns gnädig sein, kein Regen, sogar etwas Sonne wird vorhergesagt ...
Unser Waggon scheint leer zu bleiben, aber das ist ein Irrtum! Ungefähr zwei Minuten vor Abfahrt stürmt eine Gruppe chinesischer Touristen herein, die sich unvorstellbar laut sehr viel zu erzählen haben. Ihre Reiseleiterin dringt kaum durch. Sie muss alle ihre Teilnehmer einzeln im Zug fotografieren. Eine eigene Unterhaltung kann man nicht mehr führen, uns wird klar: Eine ruhige Zugreise sieht anders aus ...
Das Personal ist offensichtlich mit dieser Art Touristen vertraut: Eine Mitarbeiterin kommt zu uns und erklärt uns, dass die Reisegruppe die Getränke sofort und das Essen sehr viel früher serviert bekommt als alle anderen Gäste, damit man dann für uns in aller Ruhe die Bestellung aufnehmen kann. Offensichtlich hofft man, dass Speis und Trank die Gemüter beruhigt.
Gut, dass es Kopfhörer gibt, ansonsten hätte man keine einzige Durchsage verstehen können. Die Musik entspannt etwas, die Reise beginnt ...
Die Bahnlinie existiert seit 1930 und fährt auf einer Meterspur, was sehr viel schmaler ist, als die normalen Zuggleise. Wenn es zu steil wird, kann die Bahn ihre Zahnstangen einrasten und gämsengleich die Pässe hochklettern. Der Zug rattert erheblich und man kommt bei den engen Kurven schon ins Grübeln, ob die schmalen Gleise den Zug gut halten können, aber bis jetzt ist sehr wenig passiert. Denn auch wenn der Zug der "langsamste Schnellzug der Welt" sein soll, hat man doch den Eindruck, er rast durch Berg und Tal.
Die Fahrt im langsamsten Schnellzug der Welt wird 8 Stunden dauern, dabei wird eine Strecke von 291 km zurückgelegt. Dass der Zug Verspätung hat, kann man ausschließen, denn die Schweizer Bahnen gehören zu den pünktlichsten der Welt. Da sollte man hier vielleicht mal unsere Bahnchefs ein Praktikum absolvieren lassen ..!?
Der Zug fährt über zahlreiche Galerien, 291 Brücken und durch 91 Tunnel sowie die drei Kantone Graubünden, Uri und Wallis. Eine Besonderheit sind die 10 Kehrtunnels, teils Spirale, teils Schleifen, teils funktionieren sie mit Adhäsion, teils mit Zahnstange. Ein bisschen Achterbahnfahrt durch die Alpen …
Wir starten auf ca. 1.800 m ü. M. in St. Moritz und passieren bei Chur (älteste Stadt der Schweiz) die tiefste Stelle mit 585 m ü. M. Danach klettern wir wieder bis auf die höchste Stelle - den Oberalppass – mit 2.033 m ü. M., um anschließend in Zermatt auf 1.604 m ü. M anzukommen. Wir passieren uns bereits bekannte Orte wie den Oberalppass, wo in der Nähe der Rhein entspringt, und den Ort Fiesch, wo wir bei Frankreich 2010 ganz in der Nähe gecampt hatten.
Die Reisegruppe beruhigt sich etwas, das Konzept mit Speis und Trank scheint zu funktionieren. Außerdem gibt es wirklich viel zu schauen, denn die Landschaft ist wunderschön, teilweise wie für einen kitschigen Heimatfilm inszeniert. Neben wilden Schluchten und Flüssen, malerischen Bergdörfern gibt es Weinberge, Burgen, Kirchen, Hängebrücken und Almen zu sehen.
So schön die Panoramawaggons auch sind, die Glasflächen spiegeln extrem und es wird schwer, schöne Fotos zu machen. Aber wir sind im letzten Wagen und können so hinten hinaus durch die Tür einige Bilder machen, wobei es ganz schön schwierig ist, Kamera und Fotografen einigermaßen stabil zu halten ... Immer wieder versucht man dabei auch, den eigenen Zug in der Kurve abzulichten.
So viel Schauen und Fotografieren macht hungrig und durstig. Die meisten Passagiere haben das 3-gängige Menü vorbestellt. Man kann auch à la Carte speisen. Das Personal empfiehlt uns ein Gläschen Glacier Express Johannisberg als Aperitif, den Vorschlag akzeptieren wir gerne.
Danach folgt ein Prättigauer Bauernteller als Brotzeit mit Brot und Butter, dazu ein Fläschchen Schweizer Rotwein: Dôle des Monts, das klingt nach Imbiss, ist aber reichlich. Der Dôle haut einen sicher nicht um, da gab es schon weitaus bessere seiner Art, aber das Essen zusammen mit der Umgebung gleichen seine Schwäche wieder aus ...
Der Zug rattert und rüttelt und wenn man ein wenig durch die Waggons laufen will, ist das Gleichgewicht ziemlich gefordert, damit man in den Kurven nicht unfreiwillig bei anderen Gästen auf dem Schoß, oder noch schlimmer - auf dem Tisch landet.
Im Bistrowaggon gibt es ein Gästebuch, in das wir uns natürlich eintragen, welcher andere Zug hat denn schon ein Gästebuch?
Unglaublich, was das Personal hier leistet: Erstens wird in einer winzigen Küche für die Passagiere gekocht, danach wird das Essen mit artistischer Geschicklichkeit serviert. Wir können kaum glauben, dass Saucen, Gemüse, Fleisch usw. nur auf den Tellern landet und nicht auch auf den Gästen ...
In Chur haben wir einen längeren Aufenthalt, wir bekommen eine neue Lokomotive und sind ab sofort nicht mehr letzter Waggon, sondern erster.
Vorbei kommen wir an der Baustelle zum neuen Albulatunnel, der seit 1903 mit fast 6 km Länge die Wasserscheide zwischen Rhein und Inn durchquert. Es ist der zweithöchste Tunnel der Schweiz mit dem höchsten Punkt auf 1.820 m ü. M.
Im Jahr 2010 hat man sich entschieden, neben der alten Röhre eine neue zu errichten, die alte Röhre wird dann zum Rettungstunnel. 2021 soll der neue Tunnel in Betrieb genommen werden. Leider haben wir keinen Aufenthalt, um das auffällige Informationszentrum zu besuchen.
Weiter geht es über den Oberalppass mit dem einzigen Leuchtturm der Alpen an der Rheinquelle und durch die Rheinschlucht wieder hinunter ins Tal. Auf der halben Strecke verlässt uns die chinesische Reisegruppe und eine unglaubliche, angenehme Stille macht sich breit im Waggon ...
Schon bald sehen wir das Matterhorn und pünktlich, satt, ein wenig weinselig treffen wir in Zermatt im Wallis ein ...
© 2018 Sixta Zerlauth