Portugal   Weiter auf Kurs: Portugal 2022

Ossos: Knochen, die warten ...


Vorbemerkung der Redaktion

Bereits in der letzten Ausgabe begann sich abzuzeichnen, dass Portugal derzeit für einige unserer Autoren zum echten "Corona-Fluchtpunkt" werden würde.

Mit LERRY "unterwegs" ...Unter anderen reiste dort auch Autor Jürgen Sattler in diesem und letzten Jahr im Lande mit LERRY herum, seinem Womo, das er nach Verkauf des einstigen Tierschutzschiffes "pacifico" als neue Heimat bezogen hatte.

Und bei diesen Reisen besuchte Jürgen sowohl die antike Römerstadt Conimbriga als auch die Küste des Landes, wo er allerdings wenig erfreuliche Entdeckungen in Sachen Meeresverschmutzung machen musste.

Nun geht es also weiter im Land mit seinen "Abenteuern", über die er uns berichtet. In diesem Beitrag steht dabei sogar einmal - für uns ungewohnt - eine Kirche im Mittelpunkt, bei dem zweiten Bericht in dieser Ausgabe gibt es allerdings erneut leider unschöne Erfahrungen. Aber dazu später mehr ...


Ende Januar 2022: Ich mache mich auf den Weg zu vielleicht meinem nächsten "Abenteuer" in Portugal. Es könnte dieses Mal wohl wieder ein Abenteuer "der besonderen Art" werden: Mir wurde wie schon so oft zuvor "etwas erzählt", das mich neugierig macht. Mit dem LERRY mache ich mich deshalb auf den Weg in die Stadt Évora.

Auch Évora ist wie die antike Stadt Conimbriga, die wir bereits kennenlernen konnten, ein Ort mit Ursprung aus der Römerzeit. Aber angefangen mit den einstigen Königen von Portugal des 15. Jhdt., die hier ihre Residenzen hatten, bis zum Zeitraum des 16. bis 18. Jhdt. ist auch viel Späteres erhalten geblieben, weshalb Évora ebenfalls zum Weltkulturerbe zählt. Wer Zeit hat, sollte sich diese Stadt unbedingt einmal aus der Nähe anschauen, unter anderem gibt es hier sogar noch einen römischen Tempel zu sehen ...

In Évora angekommen, wird mir schnell klar, dass ich in die Kirche gehen muss für mein erwartetes Erlebnis: Aus diesem Grund besuche ich schon recht bald eine ganz bestimmte Kirche - eine ganz besondere Kirche! Gleich im Anschluss daran muss ich allerdings auch noch einen ganz besonderen Raum aufsuchen, wenn ich alles sehen möchte, das mir heute vorschwebt ...

Bei bekannten Stars spricht man von einem "Bad in der Menge", wenn sie zu ihren Fans auf die Straße gehen. Hier ist das in gewisser Weise ähnlich: Auch ich muss in diesem Raum ein "Bad" nehmen, um bei meinem "Abenteuer" weiter zu kommen ...

Auf nach Évora! Kirche des Heiligen Franziskus in Évora

Ich beschreibe das einmal so: Ich nehme ein "Bad" in einem Raum mit einem hohen Maß an Kalzium, verschiedenen Salzen wie etwa Kalziumphosphat, -karbonat, -fluorid, -chlorid und Magnesiumphosphat. Ebenso ist bei meinem "Bad" auch eine sehr große Menge an altem Kalk im Spiel. Sonderlich warm ist es bei diesem "Bad" allerdings auch nicht und ich bin dann doch froh, dass ich nicht zu lange dort bleiben muss. Obwohl, es gibt hier einen Hinweis, dass ich am besten noch sehr viel länger bleiben sollte. Aber, über Nacht hätte ich dieses "Bad" mit diesen Bestandteilen sicherlich nicht machen wollen. Auf gar keinen Fall für die Dauer, die bei diesem Hinweis genannt wird ...

Die Kirche, die ich aufsuchen muss, ist die Kirche des Heiligen Franziskus hier in Évora: Von außen sieht sie gar nicht so alt aus, nicht einmal so, wie man sich im Allgemeinen ein Kirchengebäude vorstellt. Viele glatte und schlichte Mauern ohne große Verzierungen. Diese große Kirche wurde zwischen 1475 und etwa 1550 erbaut.

Es hilft nichts, wer etwas wissen will, muss sich bewegen. Ich also hinein in das Gotteshaus: Bedingt durch Corona und die hier geltenden Regeln ist es überhaupt kein Problem, große Abstände zu den sehr wenigen Besuchern zu halten. Selbst eine Art Rundweg wurde hier im Innern für Besucher eingerichtet. So stehe ich in einem großen und sehr hohen Kirchenschiff, nachdem ich die schwere hölzerne Eingangstür passiert habe ...

Schwere hölzerne Eingangstür ... Großes Kirchenschiff ... ... mit beeindruckender Höhe ...
In den Seitenschiffen ... ... verschiedene Altäre ... ... an Verzierungen wurde nicht gespart ...

Die von außen eher schlicht wirkende Kirche zeigt hier im Innern das genaue Gegenteil: Zum großen Hauptschiff des Bauwerkes finden sich in den Seitenschiffen viele verschiedene Altäre. Hier wurde an Verzierungen wahrhaftig nicht gespart ..!

Da ich, was Religionen betrifft, recht ahnungslos bin, nehme ich mir die Zeit, die vielen Altäre der Seitenschiffe einmal näher zu betrachten: Was immer das auch im Einzelnen alles darstellen soll, ich weiß es nicht. Daher bewundere ich sehr viel mehr die handwerkliche Arbeit, die in diesen Werken steckt: Bis ins kleinste Detail kann man sich hier feinste Schnitzkunst ansehen. Die Seitenaltäre sind vor den vielen Besuchern durch Absperrungen geschützt. Sonst könnte man sicher noch sehr viel mehr Einzelheiten an den Altären erkennen.

Ich nehme mir sehr viel Zeit, um möglichst viele Details zu erkennen. Auch das dem Eingang gegenüber liegende Ende des große Kirchenschiffs mit dem Hauptaltar ist verschwenderisch mit unterschiedlichstem Zierart versehen. Leider ist das hier nicht so gut ausgeleuchtet wie in den Seitenschiffen. Zum Abschluss meines Rundganges folgen noch zwei weitere Seitenaltäre. Nun wird die Zeit allerdings schon etwas knapp, denn immerhin möchte ich mir auf jeden Fall noch die besondere Kapelle dieser Kirche ansehen. Das eigentliche Ziel dieses "Abenteuers"!

Das erste Bild oben zeigt die gesamte Kirche, der Teil rechts neben dem Kirchenbau beherbergt die Kapelle: Diese wurde von den drei Franziskanerbrüdern im 17. Jahrhundert errichtet. Sie misst 18 mal 11 Meter und ist auch der Raum, in dem ich mein anfangs beschriebenes "Bad" nehmen muss, um meine Neugier zu befriedigen und angabegemäß auch gestärkt wieder heraus zu kommen. Es ist die Capela dos Ossos, die "Kapelle der Knochen" von Évora ...

Hauptaltar ... Seitenschiffe besser ausgeleuchtet ... Feinste Schnitzkunst überall ...

Hier wird auf neue Knochen gewartet ...

Und hier, gleich am Eingang, finde ich auch bereits den Hinweis, dass ich gerne länger bleiben darf (Bild oben):

"Wir Knochen, die wir hier sind, warten auf die euren" ...

An dieser Stelle gilt es nun auch das Rätsel meines "Bades" aufzulösen: Was ich beschrieben habe, waren die chemischen Bestandteile alter Knochen. Alter Menschenknochen. Sehr vieler alter Menschenknochen. Und dort begebe ich mich nun mitten hinein ...

Der makabre Raum ist fast nur vom Tageslicht der Fensteröffnungen beleuchtet:  Es ist ganz still, nur eine weitere (lebende ) Person ist noch mit mir in dem Raum. Sie hält großen Abstand zu mir, obwohl ich noch lebe. Oder vielleicht gerade deshalb?! Ach ja, die Pandemie. Ich gehe natürlich langsam hinein, um mich erst zu orientieren und alles mit den Sinnen aufzunehmen: Tatsächlich, der Raum ist bis unter die Decke voll mit Menschenknochen. Kurz denke ich, gut dass ich keinen Hund dabei habe. So viele "Spielsachen"! Ein komisches Gefühl! Sonst bin ich so viele "Mitmenschen" um mich herum nur von Konzerten gewöhnt. Diese sind dann allerdings lebendig. Doch hier: Aus allen Richtungen "sehen" mich die Totenschädel an. Alles echte Totenschädel, und die Neugier siegt: Ich gehe so nah heran, wie es die niedrigen Absperrungen eben ermöglichen. Wenn man bedenkt: In einem Pharaonengrab fand man nur sehr wenige Menschen, aber hier ...

Bis unter die Decke gefüllt mit Knochen ... Sorgsam geordnet ... Jede Menge ehemaliger "Mitmenschen" ... Blick von Angesicht zu Angesicht ... Kunstvolle Anordnung ...

Man muss es gesehen haben: Tapeten wurden hier wirklich nicht gebraucht. Alles ist fein säuberlich, ja sogar kunstvoll an den Wänden und Decken angebracht. Da hat man sich richtig Mühe gegeben. Die Knochen an den Säulen wurden mit Zement befestigt. Hier und da ist aber schon mal wieder einer herausgefallen. Die Überreste von mehr als 5.000 Menschen sollen hier in diesem Raum von 18 mal 11 Metern "untergebracht" sein. Ein Ort des Gruselns. Sollte man meinen. Ganz unerwartet beginne ich über mein eigenes Leben nachzudenken ...

Dann finde ich heraus, dass diesen Knochen hier eine möglichst würdige Unterkunft bereitet werden sollte: In der Zeit, als die "Kapelle der Knochen" entstand, herrschte Frieden. Es gab also keinen Krieg oder keine Krankheit, die diese Menschen getötet hat. Der Gedanke zur Knochenkapelle entstand einfach daraus, dass es auf dem Friedhof von Évora nicht mehr genügend Platz gab. So wurde schließlich umstrukturiert: Die Toten des Friedhofs siedelten in die Kapelle um. Ihre übersichtliche Unterbringung ist die Würde, die man den Gebeinen noch mitgeben wollte. Deshalb ist hier auch alles sauber und ordentlich anzutreffen. Es liegt nichts einfach so herum. Eine ganze Zeit lang schaue ich verschiedenen Schädeln direkt "in die Augen" und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich kann nicht sagen, ob ich dabei einen Mann oder eine Frau vor mir habe. Eines ist allerdings sicher: Sie alle sind seit über 350 Jahren tot ..!

Wirklich von allen Seiten sehen mich die Schädel der Verstorbenen an und ich erinnere mich an den Spruch am Eingang:

"Wir Knochen, die wir hier sind, warten auf die euren" ... Unwillkürlich fühlt man sich an eine Inschrift erinnert, auf die man im österreichischen Burgenland stoßen kann: "Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind, das werdet ihr ..."

Also, ich finde das ist noch zu früh. Ich lehne die Einladung dankend ab. Vielleicht ein anderes Mal!

"Unterkunft" für 5.000 Menschen ..?

Hier warten etliche auf Neuankömmlinge ... Knochen so weit das Auge reicht ... Auch komplette vertrocknete Skelette vorhanden ...

Die Motive der Decken dieses Raumes sollen an den Tod erinnern. Jeden wird er eines Tages treffen. Doch mit diesen Motiven soll auch darauf aufmerksam gemacht werden, wie zerbrechlich, vergänglich, und deshalb für jeden Einzelnen enorm wertvoll das Leben ist.

Man schaue sich die Wände des Raumes an: Menschliche Knochen so weit das Auge reicht. Da viele der Knochen bis unter die Decke angebracht sind, ist es fast unmöglich, mit den Augen einen Bereich zu finden, der keine Knochen zeigt. Es gibt hier auch zwei komplette, vertrocknete Skelette zu sehen.

Der Mönch António da Ascenção hat einmal ein Gedicht über die Capela dos Ossos geschrieben. Darin heißt es unter anderem: "Wenn du durch Zufall einen Blick auf diesen Ort werfen darfst - halte ein, um deiner Reise willen. Je länger du verweilst, desto länger wird deine Reise weiter gehen."

Der Mann hat recht! An diesem Ort kommen die Gedanken über die Reise durch das eigene Leben ganz automatisch. Je länger man an diesem Ort verweilt und auch einmal in die "Augen" der "Anwesenden" schaut, um so mehr denkt man über diese seine eigene Reise nach. Um so mehr wird einem klar, welchen enormen Wert das Leben hat. Für sich selbst und auch für alles andere, was lebt und dem man dadurch begegnen darf. Deshalb: Freut euch des Lebens. Es ist wirklich das Wertvollste, das ihr habt! Ich habe mir in dem Raum mit dem vielen alten Kalzium und Kalk Zeit gelassen und es hat bei mir gewirkt. Ein "Abenteuer", das ich bestimmt niemals mehr vergessen werde!

Auch meine Reise mit dem LERRY geht nun weiter in den Süden Portugals Richtung Algarve ...


© 2022 Jürgen Sattler


Anm. der Red.: Weitere Beiträge von Jürgen Sattler finden sich in unserer Autorenübersicht!