Einsame Überfahrt in den Osten ...
Der Hafen von Sassnitz/Mukran ist der westlichste Bahnhof der transsibirischen Eisenbahn, da hier Fähranleger für die russische Breitspur zur Verfügung stehen. Bei der Einfahrt gibt es Hinweisschilder für alle Fähren: Trelleborg, St. Petersburg, Klaipeda. Nur für Baltijsk ist kein Schild zu finden.
Auf Nachfrage erfahren wir, dass man nur der Richtung "Klaipeda" folgen müsse. Beim Check In sind Pässe mit Visum und der Kfz-Schein vorzulegen, nach der Vollmacht für das Auto des Sponsors wird auch gefragt. Alles wird fotokopiert und es gibt die Boardingcards mit genauen Anweisungen, wo man hinfahren muss und wo die Einweiser die Passagiere erwarten.
Die Eisenbahnfähre VILNIUS liegt bereits am Pier. Direkt gegenüber auch ein AIDA Kreuzfahrtdampfer: Alle paar Minuten kommen Busse mit Passagieren an, die von ihrem Tagesausflug nach Rügen zurückgebracht werden. Sportlichere Kreuzfahrer brechen in Radfahrgruppen herein oder balancieren ganz modern auf elektrischen Segway Personal Transportern. Da wird offensichtlich einiges geboten auf dem Kreuzfahrtschiff, dennoch macht sich merkwürdigerweise nicht der geringste Neid breit!
Unweit von uns werden die Rohre für die Nord-Stream-Pipeline, auch Ostseepipeline genannt, verladen. In kurzen Abständen fahren die Trelleborg-Fähren rein und raus ...
Einsam stehen wir an der Zufahrt zur Fähre: Keine LKWs, keine PKWs, niemand kommt. Wir warten bis ca. eine Stunde vor Abfahrt und nutzen die Zeit, um unsere Wurst- und Käsereste aufzuessen, denn solche Lebensmittel darf man laut Merkblatt nicht nach Russland einführen. Dann folgen wir den Anweisungen zur Fähranfahrt, um schließlich auf einem riesigen leeren Platz zu landen: Wir sind die einzigen, die hier stehen!
Nach kurzer Zeit wird klar, hier werden keine Einweiser kommen. Wir fahren vorsichtig vor und hinter einem Eck wartet die deutsche Bundespolizei in einem Kleinbus: Die wollen dann auch alles sehen, die Pässe, die Visa, den Inhalt des Explorers - offenbar eine schöne Einstimmung auf zu erwartende russische Kontrollen. Nachdem wir mindestens 10 Minuten lang so durchgecheckt worden sind, pfeift der deutsche Kontrolleur einen Einweiser von Bord herbei, der uns dann in Empfang nimmt: Die 190 m lange Fähre ist fast leer! Eigentlich kann die VILNIUS auf 1.362 m Gleisen zwei komplette Züge mitnehmen und zahlreiche LKW. Doch es scheint, als ob sie diesmal kaum mehr als unseren Explorer mitnimmt ...
Da es sich um keine RoRo-Fähre handelt, muss an Bord gewendet und mehr als 100 m rückwärts in die Fähre eingefahren werden. Neben den beiden einzigen Eisenbahnwaggons lassen wir den Pickup samt Explorer allein zurück: Eine fast schon unheimliche Szenerie ..!
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An der Rezeption hat der litauische Zahlmeister sofort Einreiseformulare und Zollformulare mit Mustern für uns bereit: Eindringlich wird man darauf hingewiesen, dass man keine Fehler machen dürfe und alles in Druckschrift auszufüllen wäre. Er käme dann in 30 Minuten in die Kabine, um alles zu kontrollieren. In die Kabine kommt er tatsächlich dann allerdings alle 3 Minuten, um noch diverse Fragen zu klären (wo ist die Vollmacht zum Auto des Sponsors?) oder auch, um uns noch mit heißen Tipps zu versorgen zum Ausfüllen der Formulare. Aber der Sachverhalt mit dem Auto war dann wohl doch so kompliziert, dass er - wie sich im Nachhinein herausstellen wird - auch falsche Tipps gibt. Vieles andere ist heute ebenfalls anzukreuzen und zu bestätigen: Dass wir nicht einreisen mit Waffen, mit radioaktivem Material, mit Drogen, mit Kulturschätzen ... die gesamte Szenerie ist derart absurd, dass wir das Ganze mit viel Humor über uns ergehen lassen.
Anschließend an die Bürokratie gibt eine Führung: Hier ist die Bar, da ist das Restaurant, dort das Geschäft, das nach dem Abendessen öffnen soll. Alle Öffnungszeiten gibt er sowohl in litauischer Zeit als auch in deutscher Zeit an. Kleine Hinweise, stets pünktlich zu sein, gibt es dazu. Bei dieser zeitaufwändigen individuellen Betreuung fragt man sich, was der der gute Mann wohl machen mag, falls die Fähre tatsächlich einmal ausgebucht sein sollte? Er hätte dann nämlich 132 Passagiere individuell zu betreuen ...
Immer noch sind wir allein an Bord, doch da kommt in einem Gang ums Eck ein weiterer Passagier. "Sind Sie das andere Auto" fragt er uns. Das andere Auto!? Wie sich später herausstellen wird, befinden sich bei dieser Überfahrt tatsächlich nur ganze 11 Passagiere und 2 Autos auf der großen Fähre - welch unglaublicher Luxus!
Bald schon werden die Diesel angeworfen und die Abgase hüllen die Fähre ein, ohne Bedauern können wir noch einen Blick auf die zurückbleibende AIDA werfen ...
Bereits kurz nach dem Ablegemanöver kommt die Durchsage, sich im Restaurant einzufinden für das Abendessen um 18:30 Uhr: Man hat ein Buffet aufgebaut mit Fisch, Huhn, Hackbraten, Frikadellen, Salaten, Gemüse usw. Alles frisch gekocht und durchaus schmackhaft. Bei exzellentem litauischen Bier genießen wir das sehr exklusive Gefühl, hier und heute an Bord sein zu können ...
Nach dem Abendessen schauen wir beim Laden vorbei, der natürlich zu hat: Auf Nachfrage an der Bar wird sofort eine Mitarbeiterin herbei gerufen, die den Laden sichtlich begeistert öffnet, den PC anwirft und dort eine Runde Patience spielt. Wir schauen uns um und finden eine Flasche armenischen Weinbrand - den kennen wir noch nicht - das wollen wir probieren, und er ist gut. Kaum haben wir bezahlt, wird wieder alles wieder verrammelt. An Bord kann man mit Euros bezahlen, litauische Litas braucht man nicht und Rubel bekommt man nicht.
An Deck genießen wir den Sonnenuntergang mit Blick auf die Kreidefelsen und fahren hinein in die Nacht über der Ostsee. Schnell findet man sich mit den wenigen Passagieren zu dem einen oder anderen Absacker zusammen und kommt dabei auch auf das Thema "Expeditionskabinen" zu sprechen. Und siehe da, einer der Passagiere hat sogar selbst schon eine Kabine gebaut, die allerdings bei dieser Reise nicht dabei ist und über die wir natürlich später einen Beitrag bringen wollen: Vom Wohncontainer unter der Plane ...
Am nächsten Morgen klopft der Zahlmeister wieder an die Tür, aber nicht um zum Frühstück zu rufen, nein, er will wissen, ob wir die Organisation, die die Einladung nach Russland ausgestellt hat, in den Einreiseantrag eingetragen haben. Zum xten Mal überprüft er alle Formulare und eilt sichtlich gestresst hinweg. Das Zollboot hat kurz nach dem Frühstück die Fähre schon in Empfang genommen und geleitet uns in den Hafen von Baltijsk, vorbei am Reiterstandbild der Zarin Elisabeth.
Man merkt, dass der Hafen eigentlich militärisch genutzt wird: Überall liegen Marineschiffe, unter anderem auch eines der größten militärisch eingesetzten Luftkissenlandungsboote der Welt, die "770 Jewgeni Kotscheschkow". Nur zwei dieser Boote der Pomornik-Klasse haben die Russen in Betrieb.
In der Bar sollen wir mit den Dokumenten warten, die Kontrolleure kämen bald. Der Zahlmeister läuft aufgeregt funkend hin und her, zählt immer wieder seine 11 Passagiere durch, aus dem Funkgerät ertönt dann ein "O jey jey jey jey", und schon beginnt der lange Einmarsch der Bediensteten im Namen der Einreise. Sie bevölkern das gesamte Restaurant (was diese Menge an Leuten hier eigentlich genau macht, erschließt sich uns nicht). Jeder Passagier wird einzeln gerufen, um dessen Pass, Visum und Formulare zu prüfen. Nun - bei 11 Passagieren ist das relativ schnell abgewickelt, obwohl wir ein Einreiseformular neu ausfüllen müssen, die gestern eingetragene Passnummer war zu lang ...
Dann wird man von einer Dame der Fährbesatzung schließlich zum Auto geleitet: Das "andere" Auto der Mitpassagiere ist schon weg. An der Ausfahrt der Fähre werden wir gestoppt. Wieder werden Pässe und Formulare geprüft. Aus allen Ecken kommen Uniformierte und Zivilisten herbei gelaufen: Einer bittet darum, den Explorer zu öffnen. Alle gucken rein, man bedankt sich. Da es keine Schilder gibt, fragen wir, wo wir nun eigentlich hinfahren sollen. Ein freundlicher Grenzbeamter malt uns eine Skizze auf unseren Notizblock und berät uns in Englisch: Um die Container herum fahren und schon wären wir beim Zoll.
Ein Mitarbeiter der Fährgesellschaft und eine junge, hübsch zurecht gemachte Frau (Studentin im Ferienjob?) erwarten uns vor dem Schalter, hinter dem der Mann vom Zoll sitzt: Wieder werden Pässe und Formulare geprüft. Alle unsere Unterlagen liegen am Schalter bereits fotokopiert vor (offensichtlich aus Sassnitz). Prompt gibt es ein Problem: Die Fährgesellschaft hatte den falschen Fahrer gemeldet, nun passen Vollmacht, Zollerklärung und Angaben der Fährgesellschaft nicht zusammen. Die russische Bürokratie muss sich beraten. Der Mitarbeiter der Fährgesellschaft verliert die Lust und die Nerven und verschwindet fast fluchtartig, dabei lässt er die komplette Passagierliste liegen, die wir zur Erinnerung mitnehmen ...
In der Zwischenzeit wird schon einmal bei Geocamper in Kaliningrad angerufen, wo wir die Kabinenfertigung besuchen wollen. Dabei macht die junge Frau zum Zeitvertreib Smalltalk: Wohin wir wollen, warum wir nur so kurz bleiben usw. Sie will wissen, wo wir schlafen: Im Explorer!?? Riesengroße Augen, großes Entsetzen: Im Auto? Fassungslosigkeit! Für diese Art von Urlaub kann man wohl diese junge russische Dame nicht wirklich begeistern ...
Mittlerweile hat man beschlossen, dass ein neues Zollformular ausgefüllt werden muss. Wir tun dies. Fast entschuldigend meint die junge Dame, man müsse schon mal in den Explorer schauen, er wäre doch so groß. Ein Blick hinein, man schaut ziemlich ratlos auf das Gerümpel (Drachen, Wasserflaschen, Campingstühle usw.). Ein kurzer Dank und wir erhalten die Einreisegenehmigung mit der Urkunde, dass wir den Explorer bzw. den Ford Ranger wieder ausführen dürfen. Eine Autoversicherung müssen wir nicht abschließen, Rubel können wir hier ebenfalls nirgendwo kaufen. Man reagiert erstaunt auf die Frage nach einer Bank, einer Wechselstube oder einem Bankomaten: Oft scheinen Touristen hier nicht nach Rubeln zu fragen, man rät uns, nach Baltijsk oder nach Kaliningrad zu fahren. Alles in Allem ist das aber eine schnelle und relativ unkomplizierte Einreise.
Wir sind in Russland! Also auf nach Kaliningrad, wo wir im Nordwesten Pavel treffen wollen in der Annahme, dass sich dort am Stadtrand auch sein Betrieb befindet. Denn eines wollen wir ganz sicher nicht unbedingt: Heute Mittag noch durch Kaliningrad fahren ..!
© 2009 Text/Bilder Sixta Zerlauth