"Los geht´s!"
Am Morgen des 16. Mai 1919 waren alle drei Flugzeuge voll aufgetankt, aber schlechtes Wetter hielt sie am Boden. Kurz nach 17 Uhr, nachdem sich das Wetter gebessert hatte, kletterten die NC-Crews an Bord ihrer Flugzeuge, die ruhig an ihren Liegeplätzen dümpelten. Der dienstälteste Offizier der Staffel, der im Bug von NC-3 stand, gab das Handzeichen um die Motoren zu starten und brüllte: "Los geht´s!"
Acht Motoren erwachten brüllend zum Leben, aber als Stone seine Startschalter umlegte, machte keiner der vier Motoren der "Lahmen Ente" Anstalten, zu starten. Nachdem die Bordingenieure ein Zündproblem behoben hatten, hob das Trio der Amphibienflugzeuge schließlich kurz nach 18 Uhr Ortszeit ab.
Ihr Ziel war der Hafen von Horta auf den Azoren, etwa 2.200 km entfernt. Jedes Flugzeug war randvoll mit ca. 6.800 Litern Flugbenzin und wog jeweils zwei Tonnen mehr als normalerweise. Sie mussten mehr als drei Kilometer auf ruhigem Wasser beschleunigen, um genügend Geschwindigkeit zum Abheben aufzubauen.
Der Plan war, in loser Formation in einer Höhe von etwa 300 Metern
zu fliegen. Bei einer Geschwindigkeit von rund 120 km/h würde ihre Flugzeit
damit schätzungsweise etwa 15 Stunden betragen.
Fünfzehn Stunden bis Horta
Um das Geschwader unterwegs nachtanken zu können und um Navigationshilfe zu leisten, war zuvor eine Reihe von Zerstörern der US Navy entlang der Flugroute positioniert worden. Dabei handelte sich um einen gewaltigen logistischen Aufwand, da nicht weniger als 39 Schiffe dabei eingesetzt wurden, die in regelmäßigen Abständen zwischen Neufundland und Portugal lagen.
Die NC Maschinen flogen im Dunkeln Richtung Südosten. Bei jeder Annäherung an ein Schiff, von der dessen Besatzung entweder über Funk erfuhr oder durch das Dröhnen der Flugzeugmotoren, wurden dort Suchscheinwerfer eingeschaltet und Raketen abgefeuert.
In dieser Nacht traten auch Turbulenzen auf, was die Handhabung der Maschinen erschwerte. In ihren offenen Cockpits konzentrierten sich die Piloten und Copiloten auf ihre schwach beleuchteten und dürftigen Armaturen, um korrekte Höhe und Fluglage zu halten. Kompasskurse wurden ihnen von den Funkern geliefert, die während der ganzen Nacht und bis in den nächsten Tag hinein ihre Funkpeilgeräte betrieben.
Während sie die aufgewühlte Luft durchgeschüttelte und sie von Windböen sowie den Vibrationen der dröhnenden Motoren über und hinter sich gepeinigt wurden, erlitten Stone und sein Copilot regelmäßige Anfälle von Flugkrankheit. Um das auszugleichen, wechselten sie sich alle dreißig Minuten bei der Steuerung des Flugzeugs ab, während der andere die Augen schließen konnte.
Trotz dieser Einsatzbedingungen funktionierte die NC-4 gut: Im Morgengrauen des 17. Mai ließen die Turbulenzen schließlich nach und die Besatzungen der drei Flugzeuge konnten aufatmen. Um 07:45 Uhr hatte die NC-4 den fünfzehnten amerikanischen Zerstörer in der langen Reihe der zwischen Neufundland und den Azoren stationierten Schiffe überflogen ...
Und dann war da nur noch eines ...
Kurz nach Sonnenaufgang gerieten die Flugboote in dichten Nebel. Nach Instrumenten fliegend und nicht mehr in der Lage, ihre Navigationshilfen auf dem Wasser zu sehen, wurden die drei Flugzeuge schließlich getrennt und zwei scheiterten mit dem Weiterflug: Die NC-1 ging hauptsächlich dadurch verloren, dass die Zündung des Flugzeugs dessen eigenes Funkpeilgerät störte.
Der Kommandant von NC-1 beschloss daraufhin zu wassern und abzuwarten, bis sich der Nebel auflöste, in der Hoffnung, dann mit seinem altmodischen Sextanten in der Hand die Position bestimmen zu können. Später am Tag und hoffnungslos verloren im anhaltenden Nebel sowie ebenfalls wegen eines nicht funktionierenden Funkpeilgerätes entschied sich auch der Kommandant der NC-3, das gleiche zu tun, bevor er keinen Treibstoff mehr hatte.
Keines der beiden Flugzeuge war in der Lage, die Mission fortzusetzen. Beide wurden bei der Landung in rauer See schwer beschädigt und ihre Crews konnten sie nicht wieder in die Luft bringen. In der Tat hatten sie noch Glück, sich selbst über Wasser halten zu können. Die Besatzung der NC-1 wurde später von einem vorbeifahrenden griechischen Handelsschiff gerettet, welches das schwer beschädigte Flugzeug in Schlepp nahm. Aber drei Tage später brach es auseinander und versank in der Tiefsee.
Die Besatzung der NC-3 versuchte dagegen, ihr Flugboot noch bis zu den Azoren zu bringen. Aber nachdem sie keinen Treibstoff mehr hatten, fanden sie mit einer beeindruckenden seemännischen Leistung heraus, wie sie mit ihrem Flugboot rückwärts SEGELN konnten, indem sie das große Heckteil des Flugzeugs als Segel benutzten. Sie brauchten zwei Tage, um rund 370 Kilometer zurückzulegen und Land zu erreichen. Nach ihrer Demontage wurde die NC-3 an Bord eines Marineschiffes in die Vereinigten Staaten zurückgebracht. Sie ist nie wieder geflogen.
An Bord der NC-4 war die Situation an diesem Morgen nicht unbedingt besser, obwohl sie in der Luft blieb. Im dichten Nebel konnte die Besatzung nicht einmal mehr die Flügelspitzen ihrer eigenen Maschine sehen. Der Kommandant des Flugzeugs entschied, dass sie über den umhüllenden Nebel aufsteigen müssten.
Als der Copilot des Flugbootes versuchte, über den Nebel zu steigen, geriet die NC-4 plötzlich ins Trudeln. Stone erkannte sofort, dass die Maschine dabei auch einen Strömungsabriss erlitt. Indem er unverzüglich die Kontrolle übernahm, konnte er eine möglicherweise verhängnisvolle Situation abwenden: Er stabilisierte die NC-4 in einer Höhe von etwa 370 Metern und ging dann erneut in einen Steigflug über.
Als sich das Flugzeug aus der Nebelbank befreit hatte, zeigte die Position der strahlenden Sonne, dass sie in die falsche Richtung flogen und kostbaren Treibstoff verschwendeten. In einer Flughöhe von rund 1.000 Metern brachte Stone die NC-4 wieder auf Kurs Richtung Azoren.
Während des Weiterfluges in südwestlicher Richtung begann sich der Nebel gegen 11:27 Uhr zu lichten. Plötzlich entdeckte der Navigator der NC-4 von seinem exponierten Platz im Bug des Flugbootes aus durch ein Nebelloch Land. Um festzustellen, wo sie sich befanden, ließ Stone die Maschine durch einen Nebelspalt sinken und kam schließlich in einer Höhe von nur etwa 60 Metern über dem Meer wieder in den Bereich klarer Sicht.
Nachdem er die Position bestimmt hatte, flog Stone schon wenig später über die Hafenstadt Horta, bevor er in der Nähe der USS COLUMBIA landete, die dort bereits vorher zum Auftanken der NC Flugzeuge stationiert worden war. Die Besatzung der NC-4 war seit dem Abflug von Neufundland fünfzehneinhalb Stunden in der Luft gewesen ...
Auf nach Portugal
Schlechtes Wetter hielt die NC-4 und ihre Besatzung für mehrere weitere Tage auf den Azoren fest. Am 27. Mai 1919 konnte die Crew ihre abenteuerliche Reise endlich fortsetzen. An diesem Nachmittag hob Stone mit seinem Flugzeug vom Wasser ab und setzte Steuerkurs Richtung Lissabon.
Einige Stunden später kam ein bedeutender Orientierungspunkt in Sicht, nämlich der Leuchtturm von Cabo de Roca, gelegen am westlichsten Punkt Europas. Nachdem sie die Nachricht vom Anflug der Maschine erhalten hatte, bereitete die Besatzung der USS ROCHESTER, die im Hafen von Lissabon ankerte, ihr Schiff auf den festlichen Empfang vor und nahm Aufstellung an der Reling. Tausende von Zivilisten beobachteten das Schauspiel von jedem möglichen Aussichtspunkt in der Nähe.
Dramatisch beim Sonnenuntergang erschien die Silhouette der NC-4 am westlichen Himmel. Als sie sich dem Hafen näherte, wurde das Geräusch ihrer vier Liberty-Motoren von tobenden Pfiffen, Sirenen und Kirchenglocken übertönt. Um 20:01 Uhr Ortszeit setzte Stone den Rumpf der NC-4 schließlich auf dem Hafengewässer auf und nahm das Gas weg. Als das Flugboot aufsetzte, begann die ROCHESTER mit Salutschüssen zu grüßen. Es war Geschichte geschrieben worden. Stone (Bild links, oben Mitte), seine fünf US-Navy Kameraden und "Die Lahme Ente" hatten ihre Mission abgeschlossen.
Als die Besatzung aus der NC-4 ausstieg und an Bord der ROCHESTER ging, spielte die Marineband die US Nationalhymne, das "sternenbesetzte Banner". Ein anwesender Reporter der New York Times beschrieb die Szene in der für diese Zeit typischen fließenden Prosa: "Es war ein wunderbares Bild. Im Vordergrund die kleine Gruppe, die getan hatte, was kein Mensch zuvor geschafft hatte, salutierend im grellen Licht eines Suchscheinwerfers. Dazu die Reihen von Marine- und Militäroffizieren in Uniform, und eine dunkle Masse von Zivilisten, gesprenkelt mit der Farbe von Frauenkleidern. Auf der linken Seite zauberhafte farbige Lichter zwischen hellfarbenen Fahnen schimmernd, und in der Mitte sowie rechts im Hintergrund die Gesichter der Matrosen - die ernst und ehrfürchtig ihrer Nationalhymne Ehrerbietung erwiesen - die sich über ihnen höher und höher erhob, bis sie sich dort in der Dunkelheit verlor ..."
Mit dem Wasserflugzeug nach Plymouth
Nachdem die tagelangen Feierlichkeiten in Lissabon beendet waren, bereiteten sich Stone und seine Kameraden darauf vor, zu ihrem endgültigen europäischen Ziel zu fliegen - nach Plymouth, England. Plymouth war bereits vorher als der Ort ausgewählt worden, wo die NC-4 für die Verschiffung zurück in die Vereinigten Staaten zerlegt werden sollte. Dieser Ort war auch als Geste für die anglo-amerikanischen Werte gewählt worden, denn Plymouth war drei Jahrhunderte zuvor auch Ausgangspunkt für die Fahrt der MAYFLOWER, als diese die Pilger nach Amerika brachte.
Auch diese letzte Etappe der Odyssee der NC-4 war nicht ereignislos. Der Kühlwassermantel eines Triebwerks bekam ein Leck und machte erforderlich, dass Stone in seichten Gewässern vor der spanischen Küste landete. Während man auf die Reparatur wartete, wurde das Flugboot auf eine Sandbank getrieben. Nachdem die Reparatur abgeschlossen war, ließ Stone die Triebwerke des Flugzeugs mit voller Kraft laufen, während seine Kameraden in gefährlicher Weise auf der unteren Tragfläche der NC-4 hin und her liefen, um den Rumpf aus dem Sand zu schaukeln.
Am 31. Mai 1919 erreichte die NC-4 schließlich Plymouth, wo ihrer Besatzung erneut ein großer Empfang bereitet wurde. Sie hatten 23 Tage gebraucht, um von Neufundland nach England zu fliegen. Während dieser Zeit war die NC-4 mehr als 52,5 Stunden in der Luft gewesen und und hatte rund 7.300 Kilometer zurückgelegt.
Wie geplant wurde der NC-4 in Plymouth zerlegt (Bild rechts) und nach Amerika zurücktransportiert, wo sie zur Erinnerung von der Regierung konserviert wurde. Nach Ehrungen bei zahlreichen Feierlichkeiten in England kehrte die Besatzung schließlich wieder mit dem Schiff nach Amerika zurück.
Ihre Leistung wurde bereits im folgenden Monat durch die erfolgreiche Nonstop-Überquerung des Atlantiks durch zwei britische Flieger schnell überschattet. Acht Jahre später eroberte Lindberghs Nonstop-Alleinflug die Welt endgültig, und die NC-4 und ihre Crew wurden größtenteils vergessen ...
© 2018 Bill Lee, Deutsche Übersetzung: Explorer Magazin