Estland, 18.08.04: Reste aus vergangenen Tagen ...
Nächster Morgen: Die Sonne scheint, der Wetterbericht von gestern galt offenbar nicht für uns! Auch der Verkehr ist heute wie auch während der nächsten Tage so, wie wir es uns eigentlich von Anfang an gewünscht hatten: Kaum Fahrzeuge unterwegs und Entspannung pur ...
Es geht weiter zur Halbinsel Pakri, früher Leetse genannt. Diese Halbinsel mit der Stadt Paldiski schaut auf eine lange Geschichte zurück: Paldiski war einst der bedeutendste baltische Hafen, aus dem sich auch der Namen der Stadt ableitet. Von diesem eisfreien Hafen aus konnten hier ganzjährig Waren von und nach Russland transportiert werden. Erst mit der Errichtung von St. Petersburg verlor Paldiski an Bedeutung.
Vor der Halbinsel liegen zwei Inseln, die zwar unbewohnt sind, jedoch der Überlieferung folgend einst von den Schweden aus Dalarna besiedelt wurden - wer hätte das gedacht!
Neuere Forschungen legen allerdings eher den Schluss nahe, dass die Siedler aus Finnland stammten. Die Inseln wurden nach dem Zweiten Weltkrieg entsiedelt und dienten für Zielübungen der sowjetischen Luftwaffe. In Paldiski befanden sich auch ein Atom-U-Boot-Ausbildungshafen der Russen und jede Menge Raketenabschussstationen: Genau diese Überreste wollen wir besichtigen. Die Beschreibung eines Rundwanderwegs mit Karte erweist sich als hilfreich ...
Ein schöner Weg entlang des Meeresufers und durch dichten Wald führt zu den Ruinen: Teilweise wird der Weg so schlammig, dass wir beim Anblick von Seilresten im schlimmsten Schlammloch froh sind, dass wir wie üblich die Sandbleche mitgenommen haben. Aber wir brauchen sie letztendlich nicht, das Redaktionsfahrzeug wühlt sich mit Untersetzung auch an den übelsten Stellen gerade noch so durch und sieht anschließend aus wie ein echter Mudracer.
So sehr die Halbinsel mit ihrem Urwald, dem Ostseestrand und den Ruinen auch verzaubert wirkt, so schwer belastet ist sie in Wirklichkeit: Neben einer massiven Bodenverseuchung durch Öl und Schwermetalle verrotten hier Metallschrott, Batterien und Asbest in der Erde der Wälder. Trotz der Nuklearanlagen, die hier einst errichtet waren, soll diese Halbinsel allerdings die niedrigsten radioaktiven Werte von Estland aufweisen ...
Durch den Wald wühlen wir uns vor in Richtung Paldiski: 16.000 sowjetische Soldaten waren hier einst stationiert. Nun beherbergt die Stadt nur noch rund 4.000 Einwohner. Vor der Hafenstadt werden große Kasernen sichtbar mit der Aufschrift "Peace Keeping Center". Eine Gruppe von solchen Peace Keeping Specialists, die irgendwie doch wie ganz gewöhnliche Soldaten aussehen, steht auf einer Wiese. Sie sind ausgerüstet mit Gewehren, die sie auf die öffentliche Hauptstraße richten, auf der wir und auch andere vorbei fahren. Zielübungen im Rahmen einer Peace Keeping Ausbildung? Soviel Friedensaktivismus wollen wir ganz schnell hinter uns lassen und richten unseren Kurs nach Padise ...
Der Weg führt uns an einem alten verlassenen Friedhof vorbei, auf dem seit 50 Jahren niemand mehr beerdigt wurde. In Padise angekommen sind die Überreste einer großen Klosteranlage ein lohnenswertes Besichtigungsziel: Bereits Mitte des 13. Jahrhunderts sollen hier die ersten Gebäude von Zisterziensermönchen errichtet worden sein (N59.227° E024.1428°).
In seiner wechselhaften Geschichte wurde das Kloster vom Deutschen Orden festungsmäßig ausgebaut und im livländischen Krieg (14. Jhdt) als Militärstützpunkt genutzt. Zu dem Kloster gehörten auch weit ausgedehnte Ländereien in Finnland. 1580 wurde das Kloster zerstört, aber seit einigen Jahren wird es wieder renoviert. Ein Streifzug durch die Gemäuer, die mehr an eine Burg als an ein Kloster erinnern, und der Blick vom Wehrturm lohnen sich auf alle Fälle.
Am späteren Nachmittag treffen wir in Haapsalu ein, das Wetter ist unverändert prächtig - die Wettergötter scheinen auch diesmal wieder bestens gestimmt zu sein.
Die weiße Frau und die Bischofsburg ...
Der Ort ist berühmt für seine Bischofskirche mit Bischofsburg. An den Fenstern der Kapelle soll man in Vollmondnächten im August eine weiße Frau sehen können: Sie war einst die Geliebte eines Chorherren und besuchte diesen der Legende nach in Mönchsgewändern getarnt, da nur Männern der Zugang zur Bischofsburg gestattet war. Sie wurde entdeckt und lebendig in der Bischofsburg eingemauert, den Chorherren ließ man angekettet in einem Verlies verhungern. Leider ist heute Nacht kein Vollmond, so dass uns das Spektakel verwehrt bleibt. Haapsalu veranstaltet im Gedenken an die weiße Frau regelmäßig eine ganze Reihe von kulturellen Veranstaltungen.
Wir gehen zum ersten Mal in Estland einkaufen: Im Supermarkt gibt es alles, was das Herz begehrt. Vor den Bierregalen ist Erstaunen angesagt: Es gibt kaum Bier mit 5% Alkohol, wie wir es kennen, nein hier scheinen Biersorten mit 7%, 8% und sogar 10% erheblich beliebter zu sein. Auch scheinen sich Esten nicht mit Halbliterflaschen abzugeben: PET-Flaschen mit 1 Liter und 2 Liter sind hier durchaus normal. Auch wir versorgen uns natürlich sofort mit einer 2-Liter-Pet-Bombe mit dem viel versprechenden Namen Turbo-Disel, das allerdings nur über schlappe 7,5% verfügt, sowie zum "Ausgleich" mit einer Auswahl von 10%-tigem Bier ...
Auch beim Fleisch geht es deftig zu: Koteletts sind hier mindestens doppelt so dick wie bei uns. Und selbst die Schweinenackensteaks sind von geradezu beängstigender Dicke. Wir nehmen diese Steaks mit und sind später beim Abendessen angenehm von der Fleischqualität überrascht: Es ist zart und sehr schmackhaft.
Eine Landkarte für 3 EUR wird ebenfalls erstanden, die selbe Karte wurde auf der Fähre für 14,50 EUR angeboten. Und dann entdecken wir sogar noch die passenden Batterien für unseren Suunto. Das Glück ist perfekt: Nicht nur dass es die Batterien gibt, sondern auch den Preis können wir kaum glauben, als die Verkäuferin umgerechnet nur 1,30 EUR dafür verlangt. Das Preisniveau ist hier ist (noch) recht niedrig: Benzin, Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs sind zum Teil erheblich günstiger als bei uns (siehe dazu auch die Euro-"Extratour" Estland).
Als wir an der Kasse feststellen, dass man uns zu viele Bierflaschen abgerechnet hat, zeigen sich die ersten Verständigungsprobleme: Obwohl die Kassiererin recht jung ist, versteht sie kein Englisch und bei Russisch wird sie sichtlich unwirsch. Erst nachdem wir ihr die Anzahl der Flaschen mehrfach in Englisch und Russisch vorgezählt haben, drückt sie uns den Fehlbetrag in die Hand.
Die Verständigungsprobleme sind hier typisch. Die Leute würden gerne Englisch sprechen, können es aber oft gar nicht oder nur sehr schlecht. Russisch können dagegen viele sprechen, wollen es aber offensichtlich nicht, es sei denn, sie sind russischer Herkunft, wie es bei ca. 30% der Bevölkerung der Fall ist.
Nach dem Einkauf geht es zum Kämping Pikseke: Der Campingplatz liegt etwas außerhalb vom Stadtzentrum Haapsalus und ist sehr liebevoll gestaltet (N58.92798° E023.5374°E). Obwohl es nur eine Dusche und zwei Toiletten für alle Campinggäste gibt, ist alles sehr sauber. Die Küche ist ausgestattet mit Mikrowelle und Kühlschrank, auch eine Waschmaschine steht zur Verfügung. Hier handelt es sich um einen der Campingplätze in Estland mit Komfortausstattung, der zusätzlich noch so ausgeschildert ist, dass man ihn leicht finden kann, was wahrhaftig keine Selbstverständlichkeit ist. Er wird von einer geschäftigen Finnin geleitet, deren heranwachsende Tochter jeden ankommenden Campinggast herumführt und auf Englisch alles erklärt, was man wissen muss.
Die gehobene Ausstattung lockt offensichtlich Womos an, neben einigen deutschen insbesondere auch solche aus Finnland: Er wird der einzige Campingplatz in Estland bleiben, den wir mit Womos teilen. Nach einem Spaziergang durch das abendliche Haapsalu lassen wir heute natürlich den Abend mit einer Bierprobe ausklingen ...
© 2004 Text/Bilder Sixta Zerlauth