Estland, 19.08.04: Der Ruf der Inseln ...
Wir verlassen Haapsalu. Doch vorher müssen wir noch zum alten, wunderschön restaurierten Bahnhof der Stadt mit einer beachtlichen Sammlung von alten Loks: Der Bahnhof, zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut, war einst berühmt für Europas längsten überdachten Bahnsteig. Hier fühlt man sich in vergangene Zeiten zurückversetzt und kann fast die raschelnden langen Röcke der reisenden Damen hören. Das Herumklettern auf den alten Loks scheint nicht verboten zu sein, doch kaum diskutieren wir über mögliche Absturzgefahren, sehen wir schon, wie einer der Kletterer sich im letzten Moment noch abfängt: Hier ist offensichtlich jeder für sich selbst verantwortlich ...
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Die Geschichte von Ungru Manor ...
Es ist an der Zeit, die Fahrt fortzusetzen Richtung Rohuküla, dem Fährhafen zur Insel Hiiumaa, die es heute zu erreichen gilt. Auf der Strecke dorthin liegen die verfallenen Ruinen von Ungru Manor, zu Deutsch Lindenhof. Das Anwesen wurde 1523 gegründet und hundert Jahre später vom Schwedenkönig Gustav Adolf II als Geschenk an Otto Reinhold Ludwig von Ungern-Sternberg übergeben, um den sich eine Vielzahl von Legenden ranken.
Das Anwesen blieb nicht in Händen der Ungern-Sternbergs, jedoch brachte es im 19. Jahrhundert Evald von Ungern-Sternberg wieder zurück in den Familienbesitz. Es sollte ihm jedoch kein Glück bringen: Ende des 19. Jahrhunderts verliebte sich Evald bei einem Besuch des Schlosses in Merseburg heftig in die Tochter des Schlossherren. Sie mochte jedoch das Merseburger Schloss so sehr, dass sie es nicht verlassen wollte, weshalb Evald versprach, ihr eine Kopie des Schlosses zu bauen. Als die Tochter des Schlossherren ihm daraufhin die Ehe versprach, eilte Evald nach Ungru Manor, um das Werk 1893 zu beginnen. Die Bauarbeiten zogen sich hin, aber man war immerhin schon mit den Innenausbauten beschäftigt, als Evald 1908 bei einer Reise nach St. Petersburg erkrankte, wo er bald darauf verstarb. Seinem Wunsch entsprechend wurde er zurück nach Ungru Manor gebracht, wo er als Leiche seine erste und einzige Nacht verbrachte. Beerdigt wurde er jedoch bei seinen Vorfahren auf Hiiumaa ...
Bild: Läänemaa Museum |
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Zu der düsteren Geschichte passt der weitere Verlauf: Das herrenlose Anwesen begann im ersten Weltkrieg zu verfallen. Während des Sowjetregimes wurde es durch Militärs und Anwohner zusätzlich zerstört, da die Steine als Baumaterial verwendet wurden oder man verborgene Schätze suchte - eine Ruine blieb zurück. Je nach Winkel der Fotos kann man hier die Illusion eines verzauberten Märchenschlosses schaffen, aber die Wirklichkeit ist auch hässlich: Denn in direkter Nähe haben die Russen einen Militärflughafen gebaut, dessen Überreste nun den gleichen Weg der Verfalls gehen wie einst Ungur Manor ...
Von Ungur Manor ist es nicht mehr weit nach Rohuküla: Wir sind bereits zwei Stunden vor Abfahrt der Fähre am Hafen und haben genug Zeit, die Tickets zu kaufen. Wir haben nicht vorgebucht und sind dennoch optimistisch, dass wir mitgenommen werden, obwohl am nächsten Tag für die Esten ein langes Wochenende mit ihrem Nationalfeiertag beginnt (20.08.: Wiederherstellung der Unabhängigkeit). Überall sind Männergruppen zu sehen: Esten und Finnen mit jeder Menge Bier (Starkbier natürlich), die sich aufmachen zu einem fröhlichen Ausflug nach Hiiumaa. Wir treffen Andreas Bläse und Ute Vogel aus Berlin (früher "Cruising Silkroad"), die ihre Passagen reservieren wollen und besorgt sind, dass die Fähren bereits ausgebucht sein könnten.
Für den Kartenkauf benötigt man unbedingt den Kfz-Schein. Unserer wird zigfach hin- und hergewendet: Erst nach dem Hinweis, dass das Fahrzeug 5 m lang sei, geht der Verkaufsvorgang weiter und wir erhalten die Tickets.
Zwei Autoschlangen warten auf die Fähre. Welche könnte die richtige sein? Die kürzere, die längere? Die eine Spur ist mit "Bron" gekennzeichnet. Wir fragen und haben Glück: Ein russischstämmiger Este erklärt uns mit russischer Wortgewalt, dass "Bron" von Autos genutzt wird, die vorreserviert haben, während wir uns hinter ihm in die längere Warteschlange einreihen müssen.
Das Redaktionsfahrzeug wird schließlich trotz längerer Warteschlange noch auf die Fähre St. Ola gewunken, die schon bald zu der rund zwei Stunden langen Überfahrt ablegt. Die Fähre bietet eine Cafeteria an, die von den Mitreisenden auch heftig frequentiert wird ...
Der Hafen Heltermaa auf Hiiumaa (N58.8656° E023.0464°) besteht überwiegend aus einem Hafengebäude: Wir beschließen, unsere Fährpassage von Söru auf Hiiumaa nach Triigi auf die Nachbarinsel Saaremaa für den nächsten Tag sicherheitshalber schon einmal vorauszubuchen. Das geht ganz einfach: Das Autokennzeichen und die Fahrzeuglänge werden eingetragen. Das ist schon alles.
Die Fahrt beginnt Richtung Käina quer durch die Insel in den Nordwesten. Die Landschaft ist bezaubernd: Die völlig einsame Schotterstraße führt durch wunderschöne Kiefern- und Mischwälder, die sich mit Heidelandschaft und deren typischen Wachholderbüschen abwechseln. Am Straßenrand stehen Schilder mit Hinweisen zum nächsten Internetanschluss - wir sind schließlich in E-stonia!
Ein Zwischenstopp wird eingelegt, um Blaubeeren für den Nachtisch und Pfifferlinge für die Schweinenackensteaks zu sammeln, die Zeit in dem abgelegenen Waldgebiet vergeht wie im Fluge ...
Ganz im Nordwesten auf der Halbinsel Köpu bei Kalana liegt das Surfer’s Paradise: Ein uriges Camp mit riesigen Tipis, einem alten PC an der Einfahrt und dem Hinweis, man betrete eine Webcamzone, die jedoch nicht immer online ist. Für Surfer ist es sicher optimal, denn der Wind fegt ungehemmt durch die Bucht. Wir fahren wieder ein Stückchen zurück und suchen uns am Ufer der Ostsee ein idyllisches Plätzchen, das auch noch windgeschützt liegt. Die ganze Region ist ein großer wilder Campingplatz für Windsurfer, Internetsurfer und Nichtsurfer.
Der Platz am Strand ist traumhaft, wir haben Glück: Das Wetter ist nach wie vor gut, es gibt kaum Wind, so dass dies das richtige Plätzchen ist, um den Sonnenuntergang, den lauen Abend und die hereinbrechende Nacht mit Blick auf die ruhige Ostsee bei einem Gläschen Tempranillo zu genießen ...
© 2004 Text/Bilder Sixta Zerlauth, Schwarzweißbild Schloss Lindenhof: Läänemaa Museum
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