Nach Berat, der Stadt der tausend Fenster
Wir wollen ja auch ins Osumital, zu den tiefen Schluchten dort und letztlich nach Berat, wo mein Tourenangebot an die Mitreisenden endet. Dazu müssen wir wie die beiden Radler die Piste über den Bergkamm mit dem kleinen Café nehmen, die ich 2017 in umgekehrter Richtung schon gefahren bin und wegen der schwierigen Passagen der damaligen Auffahrt aus dem Tal des Osumi, mit tiefen lehmigen Auswaschungen an den steilsten Stellen, in respektvoller Erinnerung habe. Die Ansiedlungen hier oben werden aus Permet versorgt, der Schulbus kommt von dieser Seite und deshalb ist die Straße nach oben zwar schön und exponiert, aber einfach. Zwei junge Polen stehen mit ihren Motorrädern an einer Aussichtsstelle und winken uns zu, begeistert von dieser Landschaft.
Oben angekommen werden wir von der Bäuerin, die das Café führt, mit Winken und Zeichensprache begrüßt, wir sollen doch einkehren. Wir setzen uns an den Tisch und bestellen ohne lange Diskussion alles was es gibt. Während Bauer und Bäuerin mit den Vorbereitungen beschäftigt sind, schauen wir nur staunend in die umgebende Natur ...
Die Geologie sieht interessant aus: Da die Berge hier alle aus steilen Schutthalden zu bestehen scheinen, die oberflächlich dürftig bewachsen sind, sieht man an vielen Stellen zum Teil breitflächig erosionsbedingte Rutschungen und die dunkelgrauen oder gelblichen Sandflächen treten hervor. Diese verschiedenen Farbschattierungen wirken schon fast wie Kunst, man könnte sie fotografisch sicher eindrucksvoll in Szene setzen und sie haben mich bereits vor vier Jahren fasziniert. Betreten sollte man diese Steilflächen mit dem physikalisch höchstmöglichen Schüttungswinkel allerdings besser nicht: Lawinengefahr!
Für die Abfahrt setze ich mich ans Steuer und warte auf die damals so schwierigen Erosionsrinnen. Aber inzwischen wurden diese Stellen entschärft und sind von jedem Wohnmobil zu befahren - jedenfalls bergab. Nach oben geht es wegen Steigung und Kiesbelag nur mit Heck- oder Allradantrieb, Wohnmobile auf frontgetriebenen Ducatos sind hier immer noch fehl am Platz ...
Fast unten im Tal geht es über eine kleine Brücke und drüben angekommen treffen wir die drei Fahrzeuge wieder, die wir Tage vorher am Thermalbecken schon gesehen haben: Der Wiener im Sprinter und die zwei Familien im Iveco und Mercedes-Kurzhaube. Schnell kommen wir mit ihnen ins Gespräch. Die Ivecofamilie stammt aus Italien und freut sich, mit Grazyna italienisch sprechen zu können und so erfahren wir Details aus ihrer Reisevita. Der Deutsche im blauen Benz wirkt wie ein tiefentspannter Aussteiger und relaxt im blauen Rauch ...
Nach einigen Minuten dränge ich aber zur Weiterfahrt: Gerne würde ich wieder den schönen Nachtplatz unter der Hängebrücke erreichen, den wir vor Jahren entdeckt haben. Das sind aber noch einige Kilometer, also los. An einem Köhler vorbei kommen wir zu einer gesperrten Brücke, die aber durch den Bach hindurch einfach umfahren werden kann und gelangen so ins Tal des Osumi, der für seine engen und steilen Schluchten bekannt ist. Bis zu 80 Meter geht es hier an vielen Stellen total senkrecht hinab zum Flussbett.
Nach über einer Stunde Fahrt und etwa zwei Kilometer flussabwärts vom Ort Bogove führt die Straße 200 Meter vom Osumi weg und genau hier geht eine Zufahrt nach unten zu einer Wiese neben dem Ufer. Die Hängebrücke, die man unterfahren muss, haben wir damals schon ausgemessen und die 320 cm Durchfahrtshöhe reichen heute leicht.
Wir richten uns gemütlich ein, mindestens zwei von uns müssen das Lagerfeuer genauestens beobachten, damit es kein Loch in den Sandboden brennt. Die Damen im Hintergrund schnipseln Gemüse, so hat jeder seine Funktion. Da bemerke ich einen etwa 30-jährigen Mann, der am Rand unseres Platzes steht und auf eine Reaktion von uns wartet. Ich gehe auf ihn zu, begrüße ihn mit Handschlag und er erzählt, dass er mit seiner Mutter auf der anderen Flussseite wohnt und sich freut, uns hier begrüßen zu dürfen. Wobei Mamma das einzige Wort ist, das ich verstehe. Seine Mimik und Gestik sind aber unmissverständlich. Nach unserem erbaulichen "Gespräch" verabschiedet er sich, überquert über die kleine Hängebrücke den Osumi und verschwindet im Buschwerk des gegenüberliegenden Hanges.
Berat, die schönste Stadt Albaniens liegt nur 30 km flussabwärts. Aber wenn wir da erst einmal sind, kommen wir so schnell nicht wieder auf die Piste. Außerdem haben wir den knapp 2.400 m hohen Berg Tomorri direkt vor der Nase, den ich 2017 wohl sah und bestaunte, aber nicht besuchte. Deshalb müssen wir heute unbedingt da hoch! Eine im Offroadführer gelistete Route ist das noch dazu und das 3,5 Tonnen-Schild stört uns dabei wenig. Wir wollen schwächliche Brücken auf dem Weg nach oben aber kritisch betrachten ...
Doch hier hat sich seit den Scouttouren von Sabine und Burkhard Koch von der Pistenkuh eine Menge verändert: Eine breite Teerstraße bis ca. 1.550 m hoch zum Heiligtum steht kurz vor der Vollendung und am Ziel werden gerade riesige Parkplattformen fertiggestellt. Wenn in diesem August dort das alljährliche große Fressen - Verzeihung Opferfest -, stattfindet, ist die Infrastruktur dem gewaltigen Ansturm der Gläubigen besser gewachsen als früher. Mir scheint aber, die Ordensleute wollen die Besucherzahl über das ganze Jahr verteilt erhöhen und an diesem besonderen Tag entzerren.
Wäre das Wetter besser, dann würden wir die Auffahrt zur Grabstätte des Eremiten auf dem Gipfel heute auch noch wagen. Aber die Hochlagen sind von dicken Wolken verhüllt und deshalb macht das überhaupt keinen Sinn. Wir machen eine Brotzeit, schauen uns die Anlage an und fahren auf der neuen Teerstraße zurück sowie direkt weiter nach Berat.
Dort bewährt sich Andis App wieder hervorragend. Wir suchen in Berat ein wenig Komfort und der bekannte Campingplatz liegt etwa 10 Kilometer außerhalb. Das ist nicht komfortabel für Stadtbesucher. Aber Andi findet in seiner "Glasscheibe" die Adresse von einem gewissen Nico, der in seinem Garten einen kleinen privaten CP für maximal etwa 6 Wohnmobile betreibt und noch Platz für uns hat. Ein Auto pro Nacht kostet 10 EUR, ein reichliches Frühstück 2,50 EUR pro Person, alles ohne Bürokratie (also "privat" oder schwarz, wie man so sagt). Das Beste ist aber der kurze Fußweg ins Zentrum. Bei Nico bleiben wir zwei Nächte und wären gern auch länger geblieben, wenn wir die Zeit dazu hätten ...
Noch heute wollen wir die Stadt ein wenig kennenlernen und dazu eignet sich der Blick von oben hinunter wohl am besten: Die Festung auf dem Burgberg ist dafür gut geeignet und sowieso einen Besuch wert. Wir wandern also hoch und betreten die Anlage aus dem 13. Jahrhundert, die heute neben der Altstadt unten am Fluss die Hauptsehenswürdigkeit von Berat darstellt.
In normalen Jahren sind die Touristen scharenweise hier oben und die Gastronomie hat sich voll darauf eingestellt. Doch derzeit läuft der Tourismus gerade erst wieder an und noch ganz wenige Gäste verteilen sich auf viele Lokale. Die Wirte stehen vor ihren Häusern und werben mit aggressiven Methoden um Kundschaft, man könnte auch sagen, ums wirtschaftliche Überleben. Aber wir kommen nicht zum Essen hier hoch, sondern nur zum Anschauen ...
Ich bin als Erster mit meiner Rundtour fertig und suche am Vorplatz der Festung eine Bank, um auf die Freunde zu warten. Es gibt zwei Bänke, auf einer sitzt bereits ein ausgemergelter alter Mann, auf der Bank daneben eine dicke alte Frau. Ich entscheide mich für den Mann, wir begrüßen uns mit einem Lächeln und schweigen. Nach einigen Minuten will ich eine Konversation beginnen und sage irgendetwas Belangloses, mit Zeichensprache natürlich und bayrisch vertont. Der Mann lächelt jedoch nur freundlich zurück, aber die Dicke auf der Nachbarbank, sie ist wohl seine Frau, ist neugierig. Ganz untypisch für Frauen, nicht wahr ..?
Wir kommen ins Gespräch, verstehen gegenseitig natürlich nur die Schlagworte, aber dass sie die Diktatur und den Kommunismus verdammt, ist nicht zu überhören. Ja, Diktatur schlecht, Demokratie gut, sage ich zustimmend. Da verbessert sie mich gleich: Nicht Demokratie, nein, Theokratie sei gut. Und dann ist sie in ihrem Element und erklärt mir ausführlich die Rangordnung im Himmel: Jehova sei ganz oben. Weit dahinter auf halber Höhe stehe Jesus und wir Menschen ganz unten. Letzteres hätte ich auch noch gewusst. Ihr Mann sagt dabei kein Wort und lächelt nur vergeistigt. Anders wird er es daheim nicht aushalten, vermute ich. Ich muss das auch nicht lange aushalten und werde durch das Eintreffen meiner Freunde erlöst ...
Es ist spät geworden und unsere Leute haben schon ein Lokal zum Einkehren ausgewählt. Erfreut werden wir in das Speisezimmer im Obergeschoss geführt und von einem jungen Mädchen bedient, das recht gut Englisch spricht. Wir lassen uns von ihr die Speisekarte erklären und Tipps für albanische Gerichte geben. Am meisten Spaß haben wir aber mit ihrem T-Shirt, auf dem ein deutsches Sprichwort abgedruckt ist, dessen Sinn dem Mädchen nicht bekannt ist. Sie erlaubt mir auch, ein Bild von ihr und dem Shirt zu machen. Dass sie noch nie als Model tätig war, erkennt man sofort an ihrem ungeschickten Gebaren. Ich frage sie nach ihrem Namen. "Angie" ist die Antwort, und "wie heißt Du?" die nächste Frage: Sepp, das ist die Kurzform von Joseph. Nun nennt sie mich Sip. Klar, die Kurzform von Josip eben.
Es wird so spät, dass wir bei Dunkelheit den Weg in die Unterstadt finden müssen. Aber es ist ja eine Stadt, Licht gibt es überall und das Handy nimmt uns die Navigation ab. Nur gehen müssen wir noch selbst ...
Den nächsten Tag verbringen wir recht unspektakulär in und um die Altstadt am Fluss und abends lassen wir uns von einem Reiseführer ein Speiserestaurant empfehlen. Das kleine Lokal Lili mitten in dem verwinkelten Stadtteil mit den vielen Fenstern hat nur 3 Tische und man müsste unbedingt reservieren. Aber derzeit gibt es noch relativ wenig Touristen, so gehen wir auf gut Glück hin und wir haben auch Glück: Nicht nur mit dem freien Tisch, sondern auch mit der Wahl des Lokals.
Der Wirt spricht mehrere Sprachen, neben albanisch am besten wohl italienisch und ist damit bei Grazyna sehr gut aufgehoben. Sie ist zwar gebürtige Polin, hat aber 12 Jahre in Rom studiert und gearbeitet und spricht vermutlich besser italienisch als deutsch. Jedenfalls ist sie uns eine große Hilfe in Albanien, viele Albaner verstehen sie und umgekehrt.
Zurück zum Wirt: Ständig wuselt er um uns herum, kommentiert wieder die Speisekarte, stellt kurz seinen Sohn vor, der mit erheblich geringerer Begeisterung mithilft, und erzählt auch einige kleine Anekdoten. Am Schluss erklärt er uns das spezielle Ritual seines Lokals: Dass nämlich der Wirt bei der letzten Runde Raki ein Glas mittrinkt. Das Beste von allem aber ist seine Mutter - wir bekommen sie zwar nicht zu Gesicht, aber sie ist die Köchin der vorzüglichen Gerichte, die wir hier verspeisen. Ausgezeichnet - der Reiseführer hat mit dieser Empfehlung nicht übertrieben!
© 2021 Sepp Reithmeier, Fotos: Sonja Ertl, Erich Junker, Marie Schömer