Ins Landesinnere bis Ankara
Schon seit Tagen mault Renate leise über die alten Steine, aber nun hat sie langsam die Schnauze voll. Sie will in die Natur. Da kommt das nächste Ziel, die berühmten Sinterterrassen von Pamukkale, gerade recht: Ein Naturschauspiel allerersten Ranges, Weltkulturerbestätte und auf allen Reiseprospekten der Türkei abgebildet. Bis dahin sind es gerade einmal 200 Kilometer Landstraße, in Deutschland würde man Autobahn zu solchen Straßen sagen und es wird eine unserer leichtesten Fahretappen.
Schon Kilometer vor dem Ort sieht man weit hinten am Horizont einen hellen Fleck in der Landschaft, der beim Näherkommen größer und größer wird: Bei vollem Sonnenschein präsentiert sich der Talkessel mit den Terrassen in strahlendem Weiß, schön kontrastierend zu der bunten Parkanlage um den kleinen See. Kinder spielen in dem knöcheltiefen lauwarmen Wasser einiger Teiche und haben die größte Freude daran, sich und ihre Freunde nass zu spritzen. Wir machen es uns gemütlich und beschließen, erst morgen vor den Massen der anderen Touristen die Rampe entlang des Talschlusses hochzuwandern, noch vor der offiziellen Öffnungszeit.
Pünktlich um halb 8 Uhr stehen wir vor dem Kassenhäuschen und die Parkwächter sind schon alle da. Aber sie lassen uns nicht vor 8 Uhr, der angeschriebenen Öffnungszeit, hinein. Verärgert drehen wir um und wollen zum Campingplatz zurück. Im Pulk mit all den anderen von uns erwarteten Menschen gehen wir da nicht hoch. Da beobachten wir, wie ein Kleinbus nach dem anderen voll mit Touristen an einer bestimmten Kreuzung abbiegt und den Berg hochfährt zu einer Stelle oberhalb der Terrassen. Gut, fahren wir eben auch zum oberen Eingang, das schaffen wir noch bis um acht. Oben ist ein großer Parkplatz, aber nur etwa 10 Busse stehen im Moment da. Wir checken ein und merken bald, dass sich die rund 100 Touristen, die vor uns gekommen sind, in dem weitläufigen Gelände gut verlaufen. Es ist ja auch erst Anfang Mai und 8 Uhr früh. Wie wird das in der Hochsaison und am späteren Vormittag sein ..?
Der Blick von oben ist imposant, wieder der hübsche Kontrast der weißen Mulden mit dem Grün im Hintergrund. Aber ziemlich wenig Wasser läuft herunter und die allermeisten Terrassen sind trocken. Sicher gibt die Thermalquelle derzeit nicht mehr her, denn um so schön weiß zu bleiben, muss ständig Wasser durchlaufen und den darin gelösten Kalk bei der Abkühlung als hauchdünne Schicht ablagern. Ich kann nur hoffen, dass dieser Wassermangel ein vorübergehendes Problem darstellt. Sonst sieht die ferne Zukunft nicht strahlend aus für Pamukkale.
Die Ebene oberhalb des Terrassenabbruches ist recht weit und mit einem schön angelegten Park werden wir zum Spazierengehen animiert und kommen – wieder zu alten Steinen. Ist ja auch klar, die weißen Terrassen gibt es nicht erst seit 100 Jahren und schon die Griechen und Römer haben die vielgepriesene Heilwirkung des warmen Wassers und die magische Umgebung umgesetzt und einen Badetourismus mit den Ort Hierapolis eingerichtet - mit großem Amphitheater, Apollotempel, Nekropole etc. Aber davon haben wir vorläufig genug. Wir wollten doch in die Natur. Jetzt aber wirklich!
Richtung Osten bis etwa zur Großstadt Konya gibt es keine geradlinige Schnellstraße und wir müssen bzw. dürfen an den dazwischen liegenden großen Seen entlang und drum herum fahren. Anfangs ist es noch sehr flach und leer, der Acigöl ist sogar ein großer ausgetrockneter Salzsee. Dann rückt das Gebirge näher, ab Isparta geht es richtig bergauf und über einen Pass wieder herunter bis zu unserem Tagesziel, dem Egirdir-See, 900 Meter hoch gelegen. Dort empfehlen die Macherinnen des WoMo-Führers einige Stellplätze und wir wählen logischerweise den aus, der wegen „schwieriger Anfahrt“ nur bedingt geeignet sein soll.
Es ist ein herrlicher Platz und dass wir endlich in der Natur sind, sehen wir an den ausgesprochen zahlreichen Schwalben in der Luft und an den noch zahlreicheren Mücken, auf die es die Vögel abgesehen haben. Renate bekommt schon ein wenig Panik, aber ich kann sie beruhigen: es sind fette Eintagsfliegen, die gerade in Millionenzahl geschlüpft sind und die Schwalben so verrückt machen. Wenn sie auch nicht stechen, so machen wir doch alle Luken dicht und trotzdem werden wir noch über Tage hinweg in allen Ritzen und Ecken die verendeten oder noch zuckenden Fliegenleiber entdecken ...
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Dann kommen plötzlich viele, viele Ziegen dahergelaufen, von einem Hirten mit seinen beiden Söhnen mehr schlecht als recht gesteuert. Wir sprechen den älteren der beiden Jungs grüßend an und der etwa 12-Jährige kramt sofort die drei englischen Worte aus, die er in der Schule schon gelernt hat. Aber er hat auch gelernt, wo man nachschauen muss, wenn man etwas nicht weiß und mit Hilfe seines Smartphones und dessen Wörterbuch kommt sogar eine kleine Unterhaltung zustande. Sofort sind Vater und Bruder zur Stelle und da der Hirte sich sehr für mein kleines Fernglas interessiert, lasse ich ihn einmal durchschauen.
Wahnsinn! Der Mann kann seinen Augen kaum trauen: Wieder und wieder nimmt er das Glas hoch und schaut dort hin und dann da rüber. Durch ein so gutes Glas hat er noch nie geschaut und das stimmt wohl auch. Als Vogelbeobachter habe ich tatsächlich eines der besten Taschenferngläser, das es gibt, ein Leica 8x20.
Sein Sohn übersetzt dann seine wichtigste Frage: was kostet das? Etwa 1.000 Türkische Lira. Das ist ihm aber zu viel und ich brauche mein Glas auch selber. Ungern gibt er mir das Glas zurück und ich lenke ihn ab und zeige den Dreien mein Wohnmobil von innen. Da staunen sie weiter, aber das Glas kann ich damit nicht toppen. Er schreibt sich den Namen Leica auf und wird sicher beim nächsten Chai seinen Freunden erzählen, wie wahnsinnig gut deutsche Ferngläser sind ...
Ich habe von dem ganzen Treffen heimlich viele Bilder gemacht mit meiner neuen Ricoh GR mit Kabelfernauslöser in der Hosentasche, aber leider kann man den Fernauslöser unbemerkt ausschalten und so war der natürlich gerade ausgeschaltet. Kein einziges Bild habe ich deshalb von den Dreien, so ein Mist. Nun ist aber der Schalter des Fernauslösers auf Stellung "Ein" festgeklebt - das passiert mir nicht noch einmal!
Wir haben eine ruhige Nacht und einen wunderschönen Blick bei hellem Mond auf den See. Am nächsten Tag werden wir wieder begrüßt von den Millionen Eintagsfliegen, die offenbar doch länger als einen Tag leben, außerdem von dem Himmel voller Schwalben, die gerade ihr Frühstück einnehmen, danach brunchen, lunchen, dinieren sie. Und so wird das wohl den ganzen Tag weiter gehen bis sie platzen ...
Wir fahren weiter den See entlang nach Norden, dort über einen Bergrücken nach Osten und wieder in südliche Richtung zu dem nächsten großen See, dem Beysehir Gölü. Dort gibt es zwei im Führer empfohlene Kulturtips, die sich beide als ausgezeichnet erweisen. Zuerst kommen wir zu einem hethitischen Quellenheiligtum namens Eflatum Pinar, wenige Kilometer östlich des Sees, und es ist der erste Kontakt mit den Hethitern auf dieser Reise, wenn man von Troja absieht, das ja auch stark unter hethitischem Einfluss gestanden hatte.
Mich faszinieren diese ganz alten Kulturen noch mehr als die griechische und römische Geschichte, die ich ja schon seit der Schulzeit bestens kenne. Speziell die Entdeckung des Hethitischen Großreiches durch die Archäologie im Laufe des 20. Jahrhunderts ist ein faszinierendes Kapitel und liest sich in dem Buch von C.W.Ceram wie ein Krimi (Enge Schlucht und Schwarzer Berg – Entdeckung des Hethiter-Reiches, siehe rechts oben).
Wegen der Bedeutung des Wassers für das Überleben sind Quellen als dessen Ursprung etwas Besonderes und wurden von den Hethitern überall verehrt. Sie bauten an manchen Quellen richtige Heiligtümer, die dann auch besucht und gefeiert wurden und eines dieser Heiligtümer findet man hier nahe Beysehir. Es ist noch in hervorragendem Erhaltungszustand, aber bevor wir uns der Kultur widmen können, müssen wir erst an zwei Frauen vorbei, die einen Berg von selbstgestrickten Socken, Handschuhen, Mützen, Schals etc. herangekarrt hatten, sobald sie unser Auto kommen sahen. Alles furchtbar bunt bis kitschig. Aber einige Teile entsprechen unserem Geschmack und billig sind sie auch. Also können wir unser Eintrittsgeld bezahlen und die Matronen geben den Weg frei – alles in freundlichem Ton und natürlich ohne Zwang ...
Als Wache hatten die Hethiter drei Stiere hingestellt und dahinter folgt das befestigte Quellbecken von 30x34 Metern, das von einem 7x7 Meter großen Mosaikstein überragt wird, in welchem mehrere Gottheiten eingehauen sind. Ohne Respekt vor der Heiligkeit des Ortes springt unser Vierbeiner gleich in das kühle Quellwasser.
Nur wenige Kilometer weiter steht in Beysehir eine der schönsten Moscheen des Landes, die Esrefoglu Camii: Erbaut 1297 n.Chr. ist sie die größte Holzmoschee der Türkei und mit Meisterwerken der Seldschukischen Holzschnitzkunst ausgestattet. Die Farbe des alten Holzes und das über eine teilweise offene Kuppel eindringende Tageslicht ergeben eine interessante Stimmung. Vor der Moschee wird meine "Aysche" noch fachgerecht mit einem Kopftuch bekleidet, damit der Besuch nicht ganz kostenlos bleibt. Anschließend sind wir aber absolut alleine in der Moschee, was den Zauber noch erhöht und ein dauerhaftes Bild in die Erinnerung einprägen wird.
Auf der Weiterfahrt nach Konya fängt es zu regnen an und es kühlt deutlich ab. Konya ist mit über 2 Millionen Einwohnern eine richtige Großstadt, aber man merkt es bei einem Besuch kaum.
Wenn der Trabantengürtel mit den hohen Häusern einmal durchfahren ist, wirkt die Innenstadt durch ihre relativ niedrige Bebauung richtig heimelig und gemütlich. Berühmt ist die Stadt wegen ihres Ordens der tanzenden Derwische, die aus dem Mevlana-Kloster stammen.
Heute ist in dem Bau mit dem grünen Kegeldach ein Museum, aber offenbar komplett auf türkische Besucher oder Ausländer mit türkischem Führer ausgerichtet. Ausschließlich türkische Hinweisschilder sind am Eingang angebracht und die Männer am Kassenhäuschen sprechen kein Wort Englisch oder Deutsch.
Die Eintrittspreise sind gestaffelt von 5 Lire bis 65 Lire und wenn ich den Türken an der Kasse richtig verstanden habe, kostet es für Türken 5 Lire und für Ausländer 65 Lire.
Ganz kann ich diese Diskrepanz zwar nicht glauben, aber 2 x 65 Lire, immerhin 43 Euro, hinlegen für ein Museum, in dem ich dann wieder nichts verstehe, will ich auch nicht. Dadurch haben wir Zeit für einen Altstadtbummel gewonnen und genießen die Atmosphäre der kleinen Gassen und vollen Läden mit allen möglichen Dingen, die es bei uns schon lange nicht mehr zu kaufen gibt ...
Es wird später Nachmittag und wir verlassen Konya mit Ziel Catal Höyük, etwa 40 Km südöstlich der Stadt. Das kennen die Wenigsten, für mich ist es nach Studium der vorbereitenden Literatur aber einer der Höhepunkte der ganzen Reise und der Grund, die Route über Konya gewählt zu haben. Hier wird gerade eine jungsteinzeitliche Siedlung ausgegraben, die vor etwa 9.000 Jahren bis zu 8.000 Menschen beherbergt haben soll. Jericho, die als älteste Stadt der Menschheitsgeschichte gilt, ist einige hundert Jahre jünger. Also könnte man den Titel von Jericho anzweifeln, wenn, ja wenn Catal Höyük überhaupt eine Stadt war. Die Siedlung war zwar größer als alles andere zu dieser Zeit, sie hatte aber keinerlei Stadtmauern, keine Art von Befestigung oder städtischer Bauwerke, Tempel, Paläste etc. Auf engstem Raum stand dort Lehmhaus an Lehmhaus, nicht einmal Straßen gab es dazwischen. Die Bewohner betraten ihr Haus über eine kleine Dachöffnung und eine Leiter in den Raum nach unten. 8.000 Einwohner ist jedoch eine gewaltige Zahl für die damalige Zeit.
Das Wesentliche dieser Ausgrabungen ist jedoch die vermutlich zwingende Interpretation der Funde dort, nämlich vorwiegend Skulpturen von Muttergottheiten: Es bestand eine Gesellschaftsform ohne Patriarchat. Die Mütter waren Dreh- und Angelpunkt in den Familienzellen und die vermutlich wechselnden Väter ihrer Kinder lebten nicht mit ihnen zusammen, sondern kamen aus der Nachbarschaft. Die Familie bestand aus der Mutter, die mit ihren Eltern und Geschwistern zusammenlebte und die gemeinsam die Kinder fremder Väter aufzogen. Ihre Brüder hatten wohl auch leibliche Kinder, die in deren Mutterhaus aufwuchsen. Man kann annehmen, dass den Menschen damals nicht klar war, wer ihr Vater war, ihre Mutter kannten sie logischerweise alle. Das nennt man nicht Matriarchat, sondern Matrilinearität, denn die Mütter waren nicht automatisch Familienoberhaupt, die über ihre männlichen Familienmitglieder zu bestimmen hatten. Aber die Linie der Mutter wurde fortgesetzt, väterliche Linien waren unbekannt.
Diese Interpretationen sind natürlich etwas spekulativ, aber naheliegend, da es auch heute noch einige kleine Gesellschaften gibt, in denen eine Matrilinearität ähnlich der oben beschriebenen praktiziert wird. Zur weiteren Information sei die interessante Seite der deutschen Außenseiter-Archäologin Gabriele Uhlmann empfohlen.
In Catal Höyük wird an zwei Siedlungshügeln etwas verschiedenen Alters gearbeitet und während der Grabungszeiten im Sommer sind um die 100 Archäologen aus der ganzen Welt, meist junge hochmotivierte Leute vor Ort und wohnen und arbeiten in den Baracken neben den Grabungsstätten. Man kann sich vorstellen, dass es zu den aufregendsten Dingen im Leben dieser jungen Wissenschaftler gehört, hier über den Beginn der menschlichen Gesellschaft forschen zu dürfen. Und natürlich auch junge Archäologinnen und Archäologen aus der ganzen Welt kennen zu lernen. Als touristische Sensation ist der Ort noch nicht so bekannt. Das wird sich aber bald ändern, da Catal Höyük seit 2012 den Titel Unesco Weltkulturerbestätte führt als älteste Großsiedlung der Menschheitsgeschichte ...
Im Hethitermuseum in der Altstadt von Ankara sind die Originale der ausgegrabenen Stücke ausgestellt, hier in Catal Höyük sehen wir in einem Ausstellungsraum nur vereinfachte Nachbildungen, die aber vermutlich informativer als die Originale sind. Die türkische Hauptstadt ist ohnehin unser nächstes Ziel, da auch unsere Freundin Ellen am 10. Mai nach Ankara einfliegen und uns die nächsten zwei Wochen durch die Osttürkei begleiten wird. Und Ellen möchte auch noch einen Eindruck von Catal Höyük gewinnen, ohne die 300 km nach Konya fahren zu müssen.
In Ankara beginnt der zweite Teil unserer Reise zu bedeutenden Zielen: Hattuscha, der Hethiterhauptstadt, nach Kappadokien, zum Nemrut Dagi, zur Abraham-Stadt Urfa und dem Uralt-Heiligtum Göbekli Tepe nahe Urfa, in die Altstadt von Diyarbakir, der kurdischen Metropole, in die Natur des Munzur Tals oberhalb von Tunceli, zum Museum für moderne Kunst nahe Bayburt und zuletzt zum berühmten Sumelakloster bei Trabzon.
Auch auf dieser Reise in die Osttürkei kann man uns im Folgenden begleiten ...
© 2014 Sepp Reithmeier