Andere Orte, andere Vogeltürme ...

Vielleicht 30 Kilometer weiter kommen wir nach Savonlinna, einer größeren Stadt, die uns aber weniger interessiert als die dortige Burg Olavinlinna, die recht trutzig mitten in einem kleinen See steht. Über die Geschichte dieser schönen Burg haben wir viel gelesen und würden auch gerne eine Besichtigung durchführen. Aber die beiden Hürden "Hundeverbot" und "Menschenauflauf" sind uns heute zu hoch, zumal wir ja auch noch eine Strecke fahren müssen zum nächsten Lintutorni. Lieber beobachte ich die beiden vermeintlichen Gänsesäger im Wasser vor der Burg und wundere mich flüchtig darüber, dass das balzende Männchen eine atypische braune und nicht dunkelgrüne Kopffärbung hat. Erst später, bei einer erneuten Begegnung mit diesen Vögeln wird mir klar, dass es sich dabei um Mittelsäger handelt, eine etwas kleinere Art, die es bei uns zu Hause nicht gibt. Ich bin eben kein "Birder-Profi", der hätte das sofort gesehen ...

Nach Savonlinna geht es auf dem Weg zum Nachtplatz an der größten Holzkirche der Welt vorbei, die in Kerimäki steht und uns nicht so beeindruckt. Da verstehe ich den Spott der Nachbargemeinden gut, die nach Fertigstellung behaupteten, die Bauleute hätten den Plan des Architekten falsch verstanden und seine in Fuß gemachten Maßangaben in Meter ausgeführt. Ein wirkliches Juwel hätte nur Bewunderung und keine üble Nachrede entstehen lassen. Aber es kann ja auch nicht jede Kirche einmalig schön und wertvoll sein. Sie ist eben groß und zweckmäßig und fasst alle Gläubigen von Kerimäki und Umgebung.

Mittelsäger vor der Burg Olavinlinna Kirchenasyl ...

Den nächsten Nachtplatz habe ich wieder aus dem englischen Feldführer abgeleitet: Der Vogelturm am See Tohmajärvi gefällt mir aber nicht, der Parkplatz dazu liegt mitten in Wald und Sumpf, von Mücken umschwärmt. Trotz dieser paar Stechviecher sei bemerkt: bisher sind die Massen an gefürchteten Plagegeistern von uns noch nicht gesichtet worden.

Wir fahren in dem winzigen Ort ein wenig umher und bleiben schließlich direkt neben der absolut mückenfreien Kirche die Nacht über stehen - Kirchenasyl! Die drei Leute, die bis zum Morgen hier vorbeikommen, stört das überhaupt nicht. Ganz in der Nähe schaue ich noch nach dem Vogelturm in Värtsilä, der auf einer Infotafel unwahr als östlichster Vogelturm in Westeuropa gerühmt wird. Egal, übernachten könnte man wie immer auch hier auf dem kleinen Parkplatz, an dem der Pfad zu diesem fast östlichsten Lintutorni beginnt. Besondere Vogelbeobachtungen gelingen mir nicht, aber ganz ohne Ausbeute komme ich auch nicht zurück: Brachvogel, Kibitze und Krickenten finden sich doch, überraschend auch 3-4 Austernfischer, so weit weg vom Meer ...

Weiter fahren wir nach Norden auf der Via Karelia, einer einsamen, aber inzwischen auch schon weitgehend geteerten Waldstraße mit der Nummer 500, immer hautnah an der russischen Grenze entlang. An einer Stelle kommen wir der Grenze mit etwa 1 km besonders nahe, die 500 macht hier einen Knick nach Westen, es ist somit der östlichste Punkt der Via Karelia.

Vogelgebiet Värtsilä Via Karelia ... Und ganz hinten ist schon Russland ...

Und hier steht ein noch östlicherer Vogelturm: Der bietet direkten Blick auf russisches Territorium, deren Wälder und Seen überraschenderweise genau so aussehen wie die auf der finnischen Seite. Wer hätte das gedacht!

Hier ist aber ein besonderer Vogel, ein Wachtelkönig, am Fuße des Turms zu hören: wie "crex crex" klingt seine Stimme und genau so lautet der lateinische Artname. In Deutschland ist er fast ausgestorben und die wenigen Habitate sind sehr geschützt und verhinderten schon bedeutende Baumaßnahmen. Damit hat der Wachtelkönig bei uns sehr polarisiert und viele Feinde bekommen. Hier in Finnrussland darf er ungestört crexen. Ich sitze einige Zeit unbeweglich auf dem Turm, das Fernglas im Anschlag, und kann die etwa 15 Meter entfernte Stelle, wo es alle paar Minuten zweimal crext, akkustisch sehr genau lokalisieren. Aber vom Vogel sehe ich nicht die kleinste Feder: Das ist typisch für den Wachtelkönig und es gibt auch nicht viele Bilder von ihm. Gehört gilt also als gesehen, basta!

Gegen Mittag kommen wir in der kleinen Stadt Ilomantsi an und besuchen als erstes den Hügel Parppeinvaara, den Folklorehügel, eine Art gelebtes Freilichtmuseum mit ein paar alten Holzhäusern und einem Restaurant mit typisch karelischer Küche.

Piroggenbäckerin ...Es ist unser erster gepflegter Restaurantbesuch und wird auch einer der besten bleiben: Ein Büfett wird angeboten, bei dem man nach Bezahlen eines Festpreises essen und trinken kann, was man schafft. Zum Trinken gibt es neben Wasser zwei veschiedene Saftgetränke und "homebrewed beer", das wie verdünntes Maggi schmeckt - lecker ..?!

Aber die Platten am Büfett enthalten echte Spezialitäten: Highlight sind kleine gebratene Fischlein aus den umliegenden Seen, Fische, die als Rotaugen bezeichnet werden. Ich dachte immer, Rotaugen wären die Grätentiere aus unseren heimischen Seen. Aber hier sind keine störenden Gräten zu entfernen. Echt lecker!! Und als Nachspeise gibt es neben Kuchen, Früchten oder Käse die berühmten karelischen Piroggen, absolut frisch in Schmalz ausgebackene Käsetaschen. Obwohl dieses all-inclusive Essen mit knapp 30 Euro pro Person nicht ganz billig ist, treffen wir einige Einheimische beim Mittagessen, teilweise in Arbeitskleidung, Handwerker in der Mittagspause vermutlich. In jedem Fall ist dieser Ort eine Empfehlung für alle hungrigen Reisenden!

Danach folgen wir einer weiteren Empfehlung des WoMo-Führers und fahren zu dem einzigen Campingplatz im Nationalpark Petkeljärven, östlich von Ilomantsi und wieder ganz an der russischen Grenze. Aber dieser Platz ist mehr für Backpacker, Paddler oder Radler geeignet, also für Zelter. Wohnmobilen ist die Zufahrt verwehrt und sie werden auf einen geschotterten Parkplatz mitten unter Bäumen verwiesen und drängen sich dort eng zusammen. Das ist nach den herrlichen Plätzen an den einsamen Lintutorni nicht mehr unser Niveau: Wir verzichten also auf die viel gepriesenen Wanderungen am dortigen Seeufer und fahren die Straße nach Ilomantsi zurück.

Einsames Campen auf einsamen Plätzen ...

Wenige Kilometer vor der Gemeindegrenze sehen wir am Straßenrand ein Hinweisschild nach rechts zu einem Campingplatz namens Ruhkaranta und biegen ab: Wir kommen zu einem Seeufer mit Ferienhäuschen unter russischer Leitung, mit einigen Blockhütten im Wald und zwei kleinen Campingwiesen direkt am Wasser (N62.653116°, E31.062571°).

Wir sind die einzigen Gäste und können uns den besten Platz aussuchen - das ist unser Niveau! Hier gibt es ebenfalls schöne Spaziergänge im magisch wirkenden hochbeinigen Kiefernwald, gelegentlich den Uferstreifen tangierend und an rustikalen kleinen Holzhütten vorbei, wovon eine als urige Sauna zu erkennen ist, und am Ende des Weges wartet die "Hexenkote" ...

So mögen wir es! Blick in die Gute Stube ... "Unser" Strand in der Abendsonne ... Nicht wasserscheu: Herr und Hund ...
Wanderung im magischen Stangenwald ...
Rustikale kleine Holzhütte ...
... entpuppt sich als urige Sauna ...
... und am Ende des Wegs wartet eine finnische "Hexenkote"

Direkt vor unserer mobilen Hütte ist ein kleiner Sanduferstreifen, der zum Sitzen, Baden und Paddeln einlädt und wegen der leichten Brise ziemlich mückenarm ist. Da kann man es aushalten, lesen, entspannen und über den Sinn des Bootfahrens nachdenken. Ich muss lange überlegen und es fällt mir kein Sinn ein. Jedenfalls ist es ziemlich langweilig, auf einem Stillgewässer ohne Transportaufgabe herum zu paddeln. Abgesehen von einem netten Blick auf unseren Platz vom See aus erkenne ich keinen Nutzen. Die Ufer sehen fast alle gleich aus: hohe Bäume und z.T. dichtes Unterholz bis direkt ans Wasser.

Flohbisse sind viel unangenehmer ...Ja natürlich kommen hier abends die Mücken: Aber nicht als Massenplage, sondern als einzelne Hungerleider, die auch etwas zu Essen haben wollen. Im Freien kann man sie gut beherrschen und mittels Autan oder Antibrumm sicher auf Distanz halten. Echt störend sind nur die vier Viecher, die den Weg ins Innere unserer Einzimmerwohnung geschafft haben und mich nachts mit ihrem Sirren direkt vor meinem Ohr nicht schlafen lassen.

Dass wir auch gestochen werden, erkennen wir fast nur daran, dass manche Mücken, die wir erschlagen, einen Tropfen Blut an der Wand hinterlassen. Wesentlich unangenehmer sind die zahlreichen schmerzhaften Flohbisse an meinen beiden Unterschenkeln: Dieses Mistviech hatte den Wirt gewechselt, als es ihm bei Kasper wegen seines Zeckenhalsbandes zu ungemütlich wurde. Erst eine aufwändige Reinigungsaktion in unserem Mobilheim bringt Ruhe an dieser Front ...

Aber egal, der Platz an sich ist ausgezeichnet und wir bleiben noch zwei Tage. Sogar die Sauna lassen wir gegen eine geringe Gebühr anheizen und ich verstehe danach gut, was die Finnen an dieser Einrichtung so toll finden: Gut aufgeheizt ist es ein Genuss, in das kalte Wasser zu springen. Es dürfte sogar noch viel kälter sein, eiskalt bitte. Und danach wieder zurück in die wohlige Wärme. Bitte noch einmal.

Als Nackter habe ich leider keine Kamera dabei und kann keine Bilder aus der Hitzekammer liefern - nur vom Tag vorher ...

Nach diesen ruhigen Tagen am Seeufer geht die Reise weiter und als erstes besuchen wir heute die Wirkungsstätte der 2001 verstorbenen Holzbildhauerin Eva Ryynänen in Vuonisjärvi, einem Weiler im Gebiet der Stadt Lieksa. Dort steht heute ein Museum mit vielen der wichtigsten Werke der Künstlerin, die in erster Linie große Holzskulpturen, aber auch originell geformte Gebrauchsgegenstände aus einheimischen Hölzern produziert hat. Ihr Hauptwerk und selbst gemachtes Denkmal ist eine kleine Kapelle, die neben ihrem Wohnhaus und ihrer Werkstätte zu besichtigen ist. Aufmerksam wurde ich auf diese Künstlerin durch einen Reisebericht des von mir sehr geschätzten Arztes und Weltreisenden Eike Uhlich, der Eva Ryynänen noch lebend und unermüdlich schaffend angetroffen hat. Sein Bericht ist lesenswert!

Innenraum der Kapelle Garderobe am Eingang zum Wohnhaus Ausdrucksvolle Züge: Die damals 19-jährige Künstlerin

Im Innenraum der Kapelle beeindruckt zuerst der schöne Holzfußboden, der aus 10 cm dicken Baumscheiben von ausgesuchten russischen Rotkiefern besteht und von Eva und ihrem Mann weitgehend alleine gelegt und gefugt wurde. Der Altar hat auch eine besondere Geschichte. Durch Blitzschlag wurde seinerzeit einer der ältesten und berühmtesten Baumveteranen Finnlands gefällt und die Künstlerin bekam nach intensiven Bitten den Wurzelstock zur Verarbeitung zu diesem einzigartigen Altar. Der Baum und sein Mythos konnten damit weiterleben ...

Über kleine Gemeindestraßen geht es danach 60 km zum berühmtesten Panorama Finnlands, zu den Kolibergen. Der Blick von dort oben auf das Seengebiet des Pielinen gilt als "das Ansichtskartenmotiv" überhaupt und heute ist gerade der 24. Juni, der Freitag nach dem Mittsommertag, als wir ankommen: An diesem Wochenende von Freitag bis Sonntag feiert das ganze Land das wichtigste Fest des Jahres und viele Finnen meinen wohl, ein Besuch der Koliberge gehöre vor dem großen Besäufnis noch dazu. Jedenfalls finden wir auf dem großen Parkplatz kein Plätzchen für unseren winzigen Bremach und als wir die lange Schlange vor der Talstation der Bergbahn sehen, brauchen wir auch keinen Parkplatz mehr: Heute gehört der Koli den Finnen selber!

Zum letzten Vogelturm ...Wir fahren in Kareliens Hauptstadt Joensuu und wollen ein Ladegerät für den leer gewordenen Akku der Canon kaufen. Anfangs sind wir noch naiv und wundern uns über diese ruhige Stadt. Aber dann stellen wir fest, dass alle, ja wirklich alle Geschäfte geschlossen haben, nachmittags um 16 Uhr: Mittsommerruhe!

... mit grandioser Aussicht ...Dann suchen wir eben einen Nachtplatz irgendwo am Ufer des großen Sees westlich von Joensuu und klappern zahlreiche Stichstraßen zum Ufer ab. Hier ist die topographische 50k-Karte, die in unserem Car-PC steckt, zum ersten Mal wirklich hilfreich: Die Wegdarstellung ist sehr genau und vollständig.

Aber das hilft uns überhaupt nicht: Ausnahmslos alle diese Waldpfade enden auf einem Privatgrundstück mit Hütte und Sauna, ungeeignet für uns zum Übernachten. Also zurück nach Ylämylly, wo wir vorher beim Vorbeifahren am Straßenrand ein Schild mit der Aufschrift "Lintutorni" gesehen haben.

Und auch hier lässt uns die bisherige Erfahrung damit nicht im Stich: Am Beginn eines Pfades zu diesem Vogelturm ist wieder ein legaler Parkplatz. Auf dem frei zugänglichen Gelände des örtlichen Wasserwerkes zwar, aber absolut menschenleer und mückenarm. Passt!

Der erste Teil, nämlich "meine" Hälfte unserer Finnlandreise, geht mit diesem Vogelturm zu Ende und von nun an übernimmt Renate die Reiseleitung. Für die nächsten beiden Tage haben wir uns die 450 km lange Querung in Richtung Westen zur Ostseeküste vorgenommen. Einige im WoMo-Führer empfohlene Sehenswürdigkeiten wollen wir dabei noch mitnehmen und brechen deshalb schon früh auf ... 


© 2016 Sepp Reithmeier