40 Wagen ostwärts ...
oder: Es hätte alles auch viel schlimmer kommen können
"Steh' auf, wenn Du ein Deutscher bist, und nimm die Sache
in die Hand."
(Unionsfraktionschef Volker Kauder,
in Anlehnung an einen Fußball-Fan-Gesang, Juni 2006)
Zehn Jahre später, Herbst 2016: Wie schon seit vielen Jahren schienen die Deutschen zufrieden mit ihrer Regierung zu sein - die Große Koalition würde wohl wiedergewählt werden, wie die Politbarometer mit fast 52% der Stimmen zeigten. Insbesondere Kanzlerin M. und Vizekanzler S. erfreuten sich gewisser Beliebtheit, von Parteifreunden wie Feinden als "SM-Duett" bezeichnet: Politisches "Sado-Maso Paar".
Die Deutschen mochten einfach keine Konflikte und auch die Erfolgsbilanz der wiederholten Großen Koalition konnte sich nach 8 Jahren Regierungszeit durchaus sehen lassen: So war endlich ein erster Durchbruch in der Gesundheitsreform erzielt worden, was zufällig genau während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 gelang und sich nicht nur auf die Einführung des "Gesundheits- und Pflegefonds" erstreckte.
In nicht weniger als fünf mutigen Reformschritten hatte man schon bald danach die Finanzknappheit der Gesundheitskassen, wie sie nun alle hießen, abgewendet: War noch der erste Schritt mit Einführung des "Gesundheits-Soli" (Nachfolger der im Jahr 2013 auf Drängen der "Null-Prozent-ist noch-zuviel-Partei" im Rahmen von "unbürokratischen Reformen" abgeschafften Praxisgebühr) von 100,- EUR allgemein umstritten (Opposition: "Abzocke!"), so trafen die in den Jahren darauf folgenden Erhöhungen auf 200,- EUR, 300,- EUR, 400,- EUR und schließlich 500,- EUR auf weniger Widerspruch.
Und in diesem Jahr sollte endlich die lang erwartete Strukturreform im Gesundheits- und Pflegewesen folgen: Entschlossen hatte die Bundesregierung unter dem Beifall beteiligter Lobby- und sonstiger Interessengruppen verkündet, dass nun der solidarische Gesundheits-Soli für alle Arbeitnehmer folgen würde, den man aber bei 999,- EUR stabil halten wolle und der nur in Monaten mit ungeraden Tagen fällig würde bis zu einer Gesamthöhe von 71,5% des versicherungspflichtigen Bruttoeinkommens. Auch die Pflegeversicherung für kinderlose Paare in Höhe von 998,- EUR in den Monaten mit geraden Tagen wurde von Bundeskanzlerin M. als echter Durchbruch gefeiert.
Der nach dem Vorbild des Gesundheits- und Pflegefonds eingeführte "Deutschland- und Wohlstandsfonds" hatte sich ebenfalls bewährt: Er war Pflicht geworden für alle Bevölkerungsgruppen mit einem Jahreseinkommen bis 150.000,- EUR. Nach Einbehaltung der Beiträge zum Gesundheits- und Pflegefonds wurden deren gesamte Restbezüge vom Arbeitgeber nun direkt beim Bundesamt für Fondsverwaltung und Vermögensverteilung (BAFVVT) eingezahlt, das man mit 240.000 Mitarbeitern neu geschaffen hatte. Das BAFVVT wiederum vergab dann gemäß HARTZ42 Regelleistungen an Anspruchsberechtigte (Vizekanzler M.: "Diese Personengruppe von Geringverdienern, die ohnehin die meisten staatlichen Leistungen bezieht, muss nun keinerlei Steuern mehr zahlen. Außerdem bieten wir nach dem Motto `Fordern statt fördern´ damit einen Anreiz zu Mehrleistung und höherem Verdienst.").
Mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 62% (Bundesregierung: "Unser Ziel bleibt die langfristige Senkung der Steuerlast!") hatte Deutschland im Vorjahr endlich wieder eine Spitzenrolle in der EU übernommen.
Und mehr noch: Nach der Einführung einer Superreichensteuer von 0,1% auf Einkommen über 1.000 Milliarden EUR pro Jahr (Finanzminister S.: "Die Menschen im Lande wollen Gerechtigkeit und schon bald wird der Erste diese Steuern zahlen!") konnte man ein weiteres Projekt erfolgreich realisieren - die vollständige Abschaffung von Erbschaftssteuern und Grundsteuern war in Deutschland gelungen.
Auch der Ersatz des Ehegatten-Splittings durch das Vermögens-Splitting für Immobilien- und Kapitalvermögensbesitzer ab fünf Millionen Euro wurde in manchen Kreisen der Bevölkerung begrüßt. "Besitz soll sich endlich wieder lohnen" lautete die vieldiskutierte Zielsetzung.
Alle leisteten nun ihren Beitrag zur Gesundung der Staatsfinanzen: Mehr als 28 Millionen "Null-Euro-Jobber" werkelten fleißig rund um die Uhr und hatten die Arbeitslosenzahlen weiter gesenkt. Der öffentliche Dienst hatte sich bereit erklärt, ab dem Jahr 2150 wöchentlich 38,95 Stunden zu arbeiten und auch arbeitslose Topmanager sollten nun endlich zum Spargelstechen eingesetzt werden.
Die vollständige Abschaffung des Sparerfreibetrags und die Erhebung einer Pendlerpauschalgebühr von allen Arbeitnehmern wurde als umfassender solidarischer Beitrag gefeiert. Auch die durch Bahn, Post und Telekom bedingten Frühpensionierungen mit 52 Jahren konnten erfolgreich gegenfinanziert werden durch die allgemeine Rente mit 88. Insgesamt war die Aufbringung von mittlerweile rund 860 Mrd. EUR für die Beamtenbesoldung und -versorgung sowie die Beihilfen für deren Krankenversicherung und die ihrer Angehörigen somit gesichert (Bundesregierung: "Nur eine gesunde Beamtenschaft kann Deutschland voran bringen!").
Besonders stolz war man in Berlin in diesem Zusammenhang auf ein weiteres erfolgreiches Projekt: Im Laufe der letzten Jahre war es gelungen, die (nach der ägyptischen Verwaltung) zweitgrößte Behörde der Welt zu schaffen, die sich ausschließlich mit Bürokratieabbau befasste. Fast 6 Millionen Beamte arbeiteten in dem neu geschaffenen Superministerium ausschließlich an der Abschaffung von überflüssigen Vorschriften und Gesetzen. Man war sehr optimistisch im Regierungslager, dass man bereits im nächsten Jahr einer breiten Öffentlichkeit die erste abgeschaffte Regelung werde vorstellen können. (Bundeskanzlerin M.: "Wenn wir es nicht schaffen, Bürokratie in weniger als 100 Jahren zu halbieren, haben wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden.").
Die vollständige Überwachung des Internets und die regelmäßigen Online-Durchsuchungen sämtlicher PC´s der Bevölkerung, die zur Abwehr terroristischer Gefahren und Kontrolle privater verfassungs- und kapitalismusfeindlicher Homepages eingeführt worden waren, funktionierten mittlerweile recht gut: Die Erfahrungen bewährter Fachkollegen aus der Volksrepublik China, mit der die Zusammenarbeit erheblich ausgeweitet worden war, hatten sich bei der Realisierung als äußerst hilfreich erwiesen.
In diesem Zusammenhang war auch eine Maßnahme der Sicherheitsbehörden auf breite Zustimmung der Bevölkerung gestoßen, mit der man eine Gruppe streikender Lokomotivführer und Lufthansapiloten aufgrund der neuen Sicherheitsgesetze als offenkundige Mitglieder einer ökonomisch terroristischen Gruppe nach Bayrisch Guantanamo überstellen konnte, da sie erhebliche volkswirtschaftliche Schäden anzurichten drohten. Dort warten sie noch heute auf ihr verdientes rechtstaatliches Verfahren und versuchen seitdem mit Aufforderungen an ihre Kollegen, künftig sinnlose Streiks zu vermeiden.
Ein leichtes Murren war in der verbliebenen Medienlandschaft lediglich bei der letzten Erhöhung der Email- und SMS-Steuer auf 40,- EUR pro Transaktion zu bemerken: Doch da die Opposition mittlerweile ihre Tätigkeiten eingestellt hatte, war es für die Regierung ein leichtes, dies mit dem gestiegenen Finanzbedarf durch bevorstehende U-Boot-Geschenke an befreundete Staaten im Nahen Osten, die Verdopplung des EU-Beitrags und den geplanten Umzug aller Kommunalbehörden nach Berlin zu begründen.
Auch der deutsche Beitrag zur weltweiten Absicherung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und freier globaler Marktwirtschaft hatte seinen Tribut gefordert: Der Einsatz der Bundeswehr in der ganzen Welt, die Beteiligung am jüngsten Nahostkrieg und am bislang vergeblichen Aufbau einer "Region der Freien" dort erforderten angemessene Mittel (Verteidigungsminister J.: "Deutschland wird nicht nur im Iran, sondern auch im bolivianischen Hochland verteidigt!"). Ebenso war der Bundeswehreinsatz im Inneren sowie die Verhängung des Kriegsrechts an deutschen Grund- und Hauptschulen nach übereinstimmender Meinung aller Parteien nicht zum Nulltarif zu haben.
Dafür hatten aber die Einführung des schon seit Jahren geforderten Seesicherheitsgesetzes (SeeSiG) und die zunächst auf zwei Jahre befristete Aussetzung aller Bürgerrechte auch erhebliche Erfolge gezeigt: Im jährlichen Bericht des Innenministeriums wies man darauf hin, dass der Verzicht auf Bürgerrechte nicht nur ein erster wesentlicher Schritt in Sachen Bürokratieabbau sei, sondern durch die Maßnahmen auch deutliche Erfolge gegen Terroristen, Schlauchbootfahrer und Republikflüchtlinge erzielt werden konnten, die das Land illegal auf dem Seewege verlassen wollten. "Gebt als Bürger getarnten Terroristen keine Chance!" war das Motto der gemeinsam mit amerikanischen Truppen durchgeführten ersten großen Aktionen an den Landesgrenzen und in den Innenstädten, die nach vereinzelten Aufständen von Arbeitnehmern und Kassenpatienten begonnen hatten. Diese setzten ein, als allgemein bemerkt worden war, dass nach der Fußball-WM 2006 das Leben und die Reformprojekte weitergingen wie bisher ...
Einige Medien behaupteten damals in diesem Zusammenhang, dass die kurz danach eingeführte Fußgängermaut und die elektronische Überwachung aller Bürgersteige des Landes nur zur Vorbereitung dieser Aktionen gedient hätten. Demokratischen Gepflogenheiten entsprechend waren derartige Pressemeldungen aber lediglich ignoriert worden.
Trotz manch umstrittener Ereignisse dieser Art herrschte weiter vollständige Ruhe in der deutschen Bevölkerung, was sich auch in einer sehr stabilen Wahlbeteiligung von knapp über 2 % bei der letzten Bundestagswahl äußerte. Vizekanzler M. hatte übrigens im Vorjahr eine Zeitung verklagt, die berichtete, er hätte im kleinen Kreis von Anhängern gescherzt: "Solange wir uns noch selber wählen, kann uns nichts passieren!"
Leider kam nur Bundeskanzlerin M. nicht allzu oft in den Genuss ihrer Erfolge, mit denen sie das Land sichtbar voran gebracht hatte: Während der letzten zwei Jahre ihrer Regierungszeit hatte sie lediglich drei Tage auf Bundesgebiet zugebracht, da sie sich häufig an ihrem zweiten Dienstsitz in Washington aufhielt und auch als gefragte Gastrednerin im Ausland nun fast nur noch ihre unglaubliche Erfolgsgeschichte vor atemlos zuhörenden Regierungschefs anderer Nationen vortragen musste. Von denen wurde sie in der Regel mit stehenden Ovationen gefeiert, wie man nahezu täglich auf ARD, ZDF und allen Privatsendern verfolgen konnte ...
Sie hatten sich in ihrem Forum "ProNixWieWeg.de" verabredet: Rund 40 von mittlerweile Abertausenden in Wohnwagen, Zelten und Wohnmobilen lebenden Bürgern (SPD: "Wir garantieren jedem deutschen Arbeitnehmer einen Platz in einem Zweimannzelt") trafen sich an diesem nebligen Herbsttag auf dem grenznahen Campingplatz.
In Anbetracht des Dieselpreises von fast 50,- EUR pro Liter hatten sie wie üblich alle gerade nur so viel getankt, um bis zur ersten Tankstelle hinter der Landesgrenze kommen zu können. Just-to-Run, &SoFort, Wetter-Heini, TankeNix, LeerWomo-Werner, ExGermane und all die anderen, die sich fast besser unter ihrem Forum-Nickname als beim Vornamen kannten, waren sich in trickreich verschlüsselten Chatgesprächen einig geworden: Die Beamten des neuen Bundesamtes für AuswanderungsAbwicklung (BA AA) sollten sie nicht aufhalten können. Die Drohung mit dem Einzug des biometrischen Passes und dem neu geschaffenen "Auswanderungsfonds", in den 90% des verbliebenen Vermögens aller Auswanderungswilligen entsprechend dem 16. Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz eingezogen wurde, konnte sie nicht schrecken: Gern würden sie an der Grenze auch die zusätzlich geforderte Ausreisegebühr von 3.000,- EUR bezahlen.
NixWieWeg schrak zusammen: Ganz plötzlich fiel im wieder ein, wie damals alles angefangen hatte. Als er vor etlichen Jahren glaubte, verstanden zu haben, wer in dieser Gesellschaft zu bezahlen hat: Damals, es muss wohl 2006 oder 2007 gewesen sein, hatten sie ihm sein kleines Wohnmobil wegen einer Stehhöhe von unter 170 cm über Nacht und rückwirkend steuerlich auf das fast Zehnfache verteuert - sein Nachbar mit dem Porsche Cayenne Turbo hatte ihn seinerzeit deswegen fürchterlich ausgelacht. An jenem Morgen hatte er sich wohl zum ersten Mal gefragt, warum es im Lande eigentlich noch keine Widerstandsbewegung gab ...
"In Rumänien sollen sogar Gehälter von mehr als 500,- EUR direkt an Arbeitnehmer ausgezahlt werden!" Die Worte von Just-to-Run rissen NixWieWeg aus seinen Gedanken: "Hab´ ich auch gehört", entgegnete er nachdenklich.
Bereits vor einiger Zeit hatte sich herausgestellt, dass die vermeintliche Korruption in Rumänien und Bulgarien nur ein Irrtum gewesen war - genaue Untersuchungen des EU-Ministerrates hatten ergeben, dass lediglich ungenaue statistische Daten verwendet worden waren und die Korruption in Wirklichkeit auch nicht höher lag als in anderen Mitgliedsstaaten, wonach der Beitritt zur EU und die Einführung des Euros dort nur noch eine Formsache war ...
Die 40 Camper mit ihren Dachzelten, Wohnwagen, Wohnmobilen und auch die Gruppe von Pickups mit Wohnkabinen hatten sich in ihrem Forum bereits seit langem darauf vorbereitet: Auf ihre letzte Fahrt in diesem Lande. Lange hatte man diskutiert, pro und contra abgewogen, sich schließlich geeinigt: "Egal, was es kostet, ich will nur noch raus hier" (TankeNix). Sicher hatten auch abenteuerliche Geschichten zu diesem Entschluss beigetragen wie die von den Paradiesen vor der Haustür: Selbst Gehälter sollten bei den Nachbarn noch zum Leben reichen und dort direkt an die Arbeitnehmer ausgezahlt werden - geradezu sensationell!
"Lasst uns fahren!" Der Ruf von NixWieWeg schallte über den Platz, an dem sich die Gruppe versammelt hatte. Sie starteten ihre Motoren, die letzten Liter wollten gespart sein. Langsam rollten die 40 Fahrzeuge vom Platz, die lange Kolonne setzte sich Richtung Osten in Bewegung. Just-to-Run verscheuchte seine gemischten Gefühle und griff zum Funkgerät, um TankeNix zu rufen: "Es hätte doch alles auch viel schlimmer kommen können, oder? Wann soll deine Familie eigentlich nachkommen, Horst ..?"
© 2006-2007 Reiner Morlock
Epilog
"Ich hatte als junger Mann kein Problem, Wehrdienst zu leisten, obwohl es damals, in den siebziger Jahren, Mode war, den Wehrdienst zu verweigern. Ich ging sogar freiwillig zur Bundeswehr, denn dieses Land war mein Land und darum wert, mit der Waffe in der Hand verteidigt zu werden. Heute gehört dieses Land anderen. Es ist nicht mehr mein Land. Meinen Kindern wird es nie gehören, und wenn mich mein Sohn in ein paar Jahren fragt, ob er zur Bundeswehr gehen soll, werde ich ihm abraten, denn was da angeblich am Hindukusch verteidigt wird, ist nicht mehr unsere Freiheit, die Heimat und die westliche Wertegemeinschaft, sondern eine anglo-amerikanische Wertpapiergesellschaft, die Weltherrschaft der Krämerseele."
Aus: Die Gier der Patrioten, Süddeutsche Zeitung v. 01./02. Juli 2006
Nachtrag, Juli ´12: Wie es wirklich weiterging ...
Wie es tatsächlich in Deutschland und Europa weiterging, konnte man im Jahr 2006, als der obige Beitrag entstand, nur schwer vorausahnen. Inzwischen sind wir alle klüger in dieser Angelegenheit, allerdings ist die tatsächliche Weiterentwicklung keine Satire mehr: Schöner leben in der Transfer-Union ..?