Die Tatra ruft ...
Herrliches Wetter erwartet uns am Morgen, jedoch merkt man, dass wir uns im Bergland befinden - es ist recht frisch trotz der mäßigen Höhe von ca. 400 m. Wir machen uns auf zum Dukla-Pass (502 m), zum Grenzübergang in die Slowakei.
Es sind nur wenige Kilometer vorbei an endlosen LKW-Kolonnen bis zum geschichtsträchtigen Pass: Da der Anstieg nicht sehr steil ist, war und ist er eine wichtige Handelsstraße. Europafernwanderwege führen hier vorbei. Aber auch die Militärs wussten diesen Pass zu nutzen, um mit ihren Heeren darüber zu ziehen. Im Ersten und im Zweiten Weltkrieg war der Pass Bestandteil der Fronten: Allein im Zweiten Weltkrieg sind hier in einer dreimonatigen Schlacht ca. 150.000 Soldaten gefallen ...
Auf der slowakischen Seite erinnern Denkmäler und Überreste wie Panzer, Geschütze und Flugzeuge an die einstigen Ereignisse. Auf einem riesigen LKW-Parkplatz kann man anhalten, doch ebenso wie in Polen nimmt man es hier mit den Müll nicht so genau: Zum Verweilen lädt die Müllhalde nicht ein ...
Die Gegend hat aber durchaus Sehenswertes aus der weiter zurückliegenden Geschichte: Zum einen sind hier alte Holzkirchen der Russinen erhalten, in denen heute noch Gottesdienste nach uralten orthodoxen Liturgien statt finden sollen, zum anderen finden sich hier einige Skanzen, wie die alte Burgen genannt werden.
Wir halten in Hunkovce, um die alte ruthenische Holzkirche zu besichtigen. Zahlreiche Frauen sind im Kirchhof damit beschäftigt, die Gräber und den Hof zu pflegen. Misstrauisch wird man gemustert, alle Frauen halten inne und beobachten jeden Schritt, den man tut. Man hat nicht den Eindruck, dass Besucher hier wirklich willkommen sind ...
An den Straßenrändern hocken zahlreiche Roma, die Pilze und Beeren zum Verkauf anbieten. Roma-Frauen und Roma-Kinder tragen riesige Holzbündel auf dem Rücken. Es handelt sich um sehr dunkelhäutige Roma und die Ansammlungen von jeweils 3-5 jungen Männern, die den Reisenden die Pilze entgegenhalten, wirken keineswegs einladend zum Halt. Da können die Steinpilze noch so toll ausschauen, es könnten die teuersten Pilze des Lebens werden. Wir erinnern uns an den Hungeraufstand der Roma im Februar 2004, der hier in der Ostslowakei begann und dazu führte, dass viele Supermärkte geplündert wurden, weil die total verarmten, arbeitslosen Roma nicht mehr wussten, wie sie überleben sollten. Personen kamen bei diesem Aufstand seinerzeit allerdings nicht zu Schaden. In der Ostslowakei befindet sich mit ca. 7.000 Roma auch das größte Roma-Ghetto Europas (Lunik IX) - ein sozialer Brennpunkt mit Auswirkungen auf ganz Europa.
In einem Ort 50 km von der polnisch-slowakischen Grenze entfernt wollen wir einkaufen: Sofort entdeckt ein kleiner Roma-Junge das Auto und will natürlich alles sehen und erklärt bekommen, zwischendrin schnorrt er bei einem Passanten eine Zigarette und beobachtet jeden, der in den Laden rein und raus geht. Dem Fahrer ist beim Warten draußen ziemlich unwohl, nicht nur wegen der missbilligenden Blicke vorbei gehender Passantinnen, von denen man lieber nicht wissen will, was sie angesichts der Szene am Straßenrand gerade denken. Aber auch die Art und Weise, wie der penetrante Knabe am etwas geöffneten Fenster der Fahrerseite hängt, unaufhörlich und unverständlich auf den Fahrer einredet und dabei intensiv das Fahrzeuginnere mustert, lässt nicht gerade den Wunsch nach intensiverer Kommunikation aufkommen, die auch ohnehin vollkommen an der bestehenden Sprachbarriere scheitert ...
Im Laden gibt es endlich mal wieder eine Hartwurst / Salami: Ich bitte die Verkäuferin, 200g in Scheiben zuschneiden. Sie nimmt die Wurst und hält mir einen Vortrag, von dem ich nichts verstehe. Ich zeige noch einmal mit den Händen, dass ich Wurstscheiben möchte. Wieder ein Vortrag. Ok, ich zeige auf eine andere Wurst. Das ist nicht die Lösung, die Verkäuferin schüttelt den Kopf. Dann zeigt sie mir mit Daumen und Zeigefinger die international übliche Geste für Geld und sagt Money. Oh, Gott, sehe ich so aus, als könne ich nicht zahlen? "Da, Da, Money" sage ich russisch-englisch gemischt. Sie schüttelt wieder den Kopf und sagt etwas wie "Nascha Money". Diesmal hilft Russisch: nascha = unser. Unser Geld? Nun kommt die Erläuterung: Sie sagt Zloty und schüttelt den Kopf, dann sagt sie Euro und nickt. Nun habe ich es kapiert, die Wurst wird nur gegen Euro aufgeschnitten. Daraufhin zeige ich ihr meine Euros, sage dazu, ich wäre Deutsche. Nun beginnt sie die Wurst aufzuschneiden, wir lachen und sie erzählt mir ausführlich irgend etwas von Euro, Europa und Polski und ständig braucht sie das Wort "nascha": Eine stolze Europäerin und Eurobesitzerin, die mit polnischen Zlotys gar nichts zu tun haben will. Aber ich sollte wohl an meinem Aussehen arbeiten, wenn man mir nicht mal mehr den Besitz von Euros für 200g Wurst zutraut ...
Am wie üblich äußerst kargen Gemüseangebot macht sie mich noch darauf aufmerksam, dass die Tomaten schlecht wären. Das ist auch nicht zu übersehen, denn matschig schimmeln sie in der Kiste. Es wird mir bewusst, dass ich den letzten grünen Salat in Nida gesehen habe: Wie lange mag es noch dauern, bis ich mal wieder grüne Blätter in einem Laden sehe?
Es geht vorbei an der Skanze von Stara Lubovna und durch einige Orte, denen man die sozialistische Vergangenheit noch stark ansieht. Ortschaften haben hier in der Ostslowakei zwei Ortsschilder, jeweils eines in lateinischer und eines in kyrillischer Schrift. Auch überwiegen die orthodoxen Kirchen, die teilweise neu erbaut zwischen Plattensiedlungen die Gläubigen einladen.
Schon bald ist die Hohe Tatra zu sehen, ein herrlich steiles Gebirgsmassiv, das wie ein gigantischer Klotz in der Landschaft steht. Die Gegend wird touristischer, in den Orten gibt es zahlreiche Hotels und Pensionen und auf wundersame Weise werden die zuvor überall zu sehenden Roma am Straßenrand weniger ...
In Stara Lesnoy gibt es einen Campingplatz, der im September noch geöffnet hat: Auch dieser schöne Platz ist annähernd leer, man darf sich seinen Stellplatz wie gewohnt selbst aussuchen. Sogar ein kleines Buffet öffnet am Abend und bietet polnisches Bier sowie Kaffee und die üblichen kleinen Fastfoodsnacks an. Wir kochen lieber selbst und genießen den Abend im Anblick der Hohen Tatra. Der Campingplatz ist idealer Ausgangspunkt, um durch die Tatra zu streifen: Ein beleuchteter Weg lässt einen auch nachts nicht in die Irre laufen ...
© 2010 Text/Bilder Sixta Zerlauth