Die schwierige Anreise
Beim Abflug erwarten mich ein Geisterflughafen, leere Passagen, mehr Polizeikräfte als Fluggäste, sie ermahnen jeden, der die Maske auch nur einen Zentimeter falsch trägt, kontrollieren wahllos Fluggäste und auch ein paar Landstreicher, die sich längerfristig am Flughafen aufhalten wollen. Es folgt eine Papierdiskussion wegen PCR-Test, sie finden die entsprechende Buchstabenfolge nicht, bis dann eine Vorgesetzte das ganz klein gedruckt entdeckt. Na, da fällt Ihnen aber ein Stein vom Herzen, meint die Frau am Schalter, ich kontere: "No panic on the titanic" ... Schließlich noch mit einer netten kleinen marokkanischen Verkäuferin im Dutyfree Shop geplaudert, die meinte, die bevorstehende Reise wäre eine kluge Entscheidung von mir, da die Lage in Marokko doch entspannter sei als in Deutschland.
So geht es weiter zu Lande und zu Luft: Der volle Mond scheint auf die Wolken unter mir, durchsetzt von wenigen lichtdurchbrochenen Strahlen, welche die hell beleuchtete, im Einschlafen begriffene Zivilisation wie Stoßgebete gen Himmel zu schicken scheint ...
Der Flieger nach Casablanca ist etwa zur Hälfte gefüllt, kaum Menschen im Alter über 60 Jahre an Bord. Und schon in Casablanca am Flughafen wird das Maskentragen von den Einheimischen nur noch symbolisch gehandhabt. Am Terminal für die Inlandflüge kommt ein riesengroßer goldener Pfahl scheinbar direkt aus dem Himmel konisch herab, mit der Spitze auf ein Modell der neuen Moschee weisend - wie ein Damoklesschwert ...
Im Anschlussflug nach Agadir stechen die schneebedeckten Gipfel des Atlas im Mondlicht aus den Wolken. Nachts um 1:00 Uhr gestaltet sich die Fahrt vom Flughafen nach Sidi Ifni wie schon erwartet schwierig, der Taxifahrer muss sich erst einmal von der Gendarmerie eine Genehmigung zum Verlassen der Region ausstellen lassen. Ab 21:00 Uhr gilt Ausgangssperre bis 5:00 Uhr morgens, die Straßen sind leer, die Tankstellen geschlossen, alles tot, keine Möglichkeit, auch nur irgendwo eine Flasche Wasser zu kaufen, von Brot ganz zu schweigen. Und dauernd in jeder Kleinstadt Polizeikontrollen ...
Der Taxifahrer war wohl lange nicht nach Sidi Ifni gefahren, so landen wir schließlich versehentlich am Aglou Strand, wieder folgt eine Polizeikontrolle. Eine halbe Stunde lang fordern sie den Fahrer auf, alle möglichen Papiere vorzuzeigen, endlich haben sie etwas gefunden: Der Verbandskasten fehlt. Also sind 50 Dirham fällig, natürlich ohne Quittung. Der Fahrer meint später zu mir, die wollten argumentieren, ich hätte eigentlich eine Unterkunft in Agadir nehmen müssen und erst um 5:00 Uhr morgens die Fahrt zu meinem gebuchten Hotel antreten dürfen - alles Unfug!
So kam ich denn endlich nachts zwischen drei und vier Uhr im Suerte Loca an, meinem kleinen altspanischen Terrassenhotel ...
Selbst zum Rauchen musste ich mir vom Taxifahrer ein Feuerzeug schenken lassen, ich habe dann auch verstanden, warum er für die zweihundert Kilometer 90,- EUR haben wollte, hatte ihn aber schließlich auf 80,- EUR herunter gehandelt und ihm noch eine Dose lettischen Fisch als Präsent gegeben. Die Tür zum Aufenthaltsraum im 1. Stock war glücklicherweise offen, so dass ich mich dort auf den Diwan legen konnte und begleitet vom Rauschen des tobenden Atlantiks endlich ein wenig einschlief ...
In den 30er Jahren wurde Sidi Ifni von Spanien als Garnisonsstadt gegründet. Der Ort sollte als Tor zur Sahara die spanische Vormachtstellung sichern. Es war eine Stadt auf dem Reißbrett: Ein architektonisches Kunstwerk, im Art Deco Stil erbaut entstanden, zueinander passende Verwaltungs- und Versorgungsgebäude. Heute beginnt man nach jahrzehntelangem schleichenden Verfall die Kunst der Stadtgestaltung zu würdigen und hat Teile Ifnis unter Denkmalschutz gestellt. Neben den Gebäuden entstand auch in der spanischen Zeit der Internationale Flughafen Sidi Ifni, das Terminalgebäude steht heute noch. Der Platz ist weitgehend ungenutzt bis auf den Wochenmarkt, wo ein Teil von Händlern genutzt wird. Ein altes Foto aus den 60er Jahren zeigt eine zweimotorige Passagiermaschine, die gerade in Sidi Ifni gelandet ist.
Nach der Unabhängigkeit Marokkos entflammte der Ifni-Krieg Ende der 50er Jahre, ohne dass allerdings Sidi Ifni zu Fall gebracht werden konnte. Im Gegensatz zu den heute noch existierenden spanischen Kolonien Ceuta und Melilla musste Spanien 1969 aufgrund internationalen Drucks die Stadt aufgeben. Heute lebt der Ort hauptsächlich vom Fischfang und Kaktusanbau in der Umgebung. Der Tourismus hält sich auch in "Nicht-Corona"-Zeiten in Grenzen ...
Am folgenden Morgen um 9:30 Uhr ist das Leben erwacht, die Kaffeehäuser sind gefüllt, der Maskenball wirkt marginal und einige freuen sich, dass ich wieder mal da bin. Touristen sind kaum zu sehen, aber das einfache Leben in Ifni geht auch ohne sie weiter ...
Neujahr in Ifni 2020/21 - der Sprung ins nächste Äon: Es sieht so aus, als ob man zur Zeit in Marokko den Polizeistaat in schärfster Form im öffentlichen Raum zu spüren bekommt. Mit etwas Intelligenz, Charme und Gelassenheit sowie Umsicht kann man sich allerdings auch da durchschlängeln. Aber zumindest muss man die lokalen Verhältnisse vor Ort etwas kennen, gut beobachten können und den Hintergrund verstehen ...
Leere Alkoholversprechen und der Beutezug
Die kleinen geistigen Erfrischungen gehören mit zu einer vollendeten Reise wie auch zum Leben für mich im Allgemeinen. Nachdem in Ifni die Bars geschlossen sind und wider bessere Information auch nichts außer Haus verkaufen wollen (nur unter der Hand und mit dem doppelten Preis wie gewöhnlich), ziehe ich weitere Erkundigungen ein: Schwarzgebranntes wäre möglich gewesen, aber ich bevorzuge nun doch Wein. Dann die Info, dass gerade in Guelmim der offizielle Verkaufsladen für Alk geöffnet habe, ob morgen wäre allerdings fraglich ...
Also heißt es, mit meinem arabischen Freund Mubarak nachmittags das nächste Sammeltaxi aufzusuchen und gegen 17:30 Uhr nach Guelmim zu fahren. Zwei große Kisten Wein mit je 12 Flaschen 1,5 Liter Moghrabi werden gekauft. Zwei kleine Bestellungen für Bekannte - Whisky und Edelwein - werden ebenfalls eingepackt und vor der Ausgangssperre geht es schnell wieder zurück nach Ifni. Dort wollten sie für eine Literflasche Wein umgerechnet 10 EUR haben, im Laden in Guelmim kostet die 1,5 Liter Flasche 6 EUR, da kann man viel Taxi fahren für die Differenz ...
Aus Guelmim heraus folgt wieder eine Polizeikontrolle, sie schauen in den Kofferraum und sehen die ca. 30 Flaschen Wein und den Whisky. Kurzes Gespräch mit dem Taxifahrer, dann soll ich aussteigen: Einer kann ein wenig Englisch radebrechen, er fragt mich, ob das mein Material sei. Klar sag ich, aber so viel meint er, das kann doch gar nicht sein. Oh doch, sag ich, bin Alkoholiker und bleibe einen Monat in Ifni, und da es dort nichts offiziell zu kaufen gäbe, wäre ich nun mit Bekannten nach Guelmim zum Alkladen gefahren.
Ob ich ein ärztliches Attest für meine Alkoholsucht dabeihabe, fragt der eine, etwas schärfere: Nein, sag ich, aber sie können gerne in Ifni das Hotel anrufen und bestätigt bekommen, dass eine Buchung für einen Monat vorliegt.
Schließlich geben sie auf und wir fahren zurück nach Ifni, wo uns die Polizei ausnahmsweise mal durchwinkt. Ein alter Muselmane sitzt als Mitfahrer ebenfalls im Sammeltaxi und schaut mich vorne sitzend aus großen Augen verwundert während eines Teils der Fahrt an - was der wohl gedacht haben mag? Ich kontere jedenfalls seinen Blick gelassen.
Der Bettler am Straßenrand, dem ich ab und zu mal eine Münze gebe, schließt nachmittags die geöffnete Hand, da ich ihm am Vormittag bereits einen Dirham gegeben habe ...
Es geht ein Corona-Jahr zu Ende, eigentlich genauso wie es im Frühjahr angefangen hat. Und ich bin auf Reisen immer noch wie früher ...
Ein sehr alter blinder Mann, vermutlich durch Herzinfarkt einst stark geschädigt, wankt auf einer Krücke mühsam auf dem Marktplatz herum. Er bekommt beim kleinen Joghurthändler ein Glas Tee hingestellt, das er zitternd schlürft. Dazu bekommt er noch Brotkrumen in einem Körbchen, wo man für ihn vorher den weichen weißen Teig aus dem Inneren der harten Rinde herausgeklaubt hat, da alle Zähne auch schon dahingegangen sind. Mühsam stopft er sich die Brotreste in den Mund, malmt drauf herum und schluckt. Das ganze Schauspiel eines sterbenden Menschen auf der Ebene eines Straßenhundes vollzieht sich hier schon seit Jahren unveränderlich stagnierend auf niedrigstem Niveau ...
Ich habe vorgestern, wie schon bei meinem letzten Besuch versprochen, eine große Fischsuppe für die familiäre Hotelbelegschaft gekocht, und die haben wir abends gemeinsam gegessen. Da es ziemlich viel war, blieb noch einiges übrig. Am nächsten Abend kamen drei Musiker und spielten im kleinen Séparée des Hotels auf, die bekamen dann auch noch Fischsuppe und waren ganz angetan - bis 22:30 Uhr saßen wir zusammen.
Ein paar Tage später lädt mich Malika, die Schwester vom Hotelbesitzer, dazu ein, sie mit zwei Jungen zu ihrem Garten außerhalb der Stadt zu begleiten. In einem alten R4 holpern wir die ca. 25 km an der Steinküste entlang. Dort hacken wir ein wenig im steinigen Boden, pflanzen Einiges, machen Picknick mit Tee, Käse, Fisch und Obst. Ein Haus im Nirgendwo, der Wind bläst über die Steinwüste, und die Atmosphäre ist absolut entspannt und gelassen ...
© 2021 Michael Gallmeister