Nepal 2024: Grandios, rau und so verletzlich
Durch das Rolwaling-Tal in die Gletscherlandschaft ...
Der Aufstieg zu den Gletscherseen Tsho Rolpa und Dudh Kunda ist eine anspruchsvolle und aufregende Trekkingroute in Nepal. Sie führt durch traditionelle Siedlungen im Rolwaling-Tal und bietet atemberaubende Ausblicke auf schneebedeckte Himalaya-Gipfel. Entlang der Route gibt es Gästehäuser, die eine einfache Unterkunft und lokale Küche bieten. Die Tour lädt auch ein zu Begegnungen mit dem tibetisch geprägten Buddhismus ...
Ende Oktober, die Hirse-Ernte ist im Gang: Frauen pflücken die rötlich schimmernden Rispen, tragen sie in Tüchern und Körben zu ihren Häusern, trocknen sie auf Dächern und freien Flächen. Die Unterkunft in Chetchet, dem letzten mit dem Bus erreichbaren Dorf, war denkbar einfach: Zementboden, Kunststoff-Futon auf Holzbrettern, Plastikfolie an der Decke. An der Wasserpumpe im Freien hängen die Zahnbürsten der Bewohner ...
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Von hier steigen wir Steinstufe um Steinstufe nach Simigaon auf. Wir, das sind die Bergführerin Jangmu Sherpa, die Fotografin Regina Koritkowski und ich. Blumen schmücken die traditionell aus Querbalken und Felsbrocken erdbebenrobust gebauten Häuser. Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln pflanzen die Menschen auf Terrassenfeldern an. Weizen säen sie im Herbst, erzählt unsere Wirtin, eine lebensfrohe Frau mit bunt gewebtem Schurz und großer silberner Schnalle. Zum Abendessen kocht sie Polenta aus fein gemahlener Hirse, eine würzige Tomatensauce und dünstet Spinat in der Pfanne an.
Durch immergrünen Mischwald geht es weiter nach oben: Eine mystisch anmutende Waldwelt folgt, alles ist moosbewachsen: Baumstämme, Äste, Zweige, Felsen, Boden, in hunderten Grüntönen. Vereinzelt leuchten darin rote und gelbe Laubmoose. Auf 2.800 Metern Höhe übernachten wir im Zelt. Das Gästehaus mit über einhundert Betten, das hier in Dongang gestanden hatte, rissen Wassermassen Anfang August weg, während des Monsuns. Eine ältere, alleinstehende Frau, die dort schlief, starb. Sie hatte ihren Lebensunterhalt damit verdient, außerhalb der Wandersaison auf das Anwesen aufzupassen ...
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Gletscherschmelze in einem der Seitentäler des Rolwaling hatte einen Erdrutsch ausgelöst. Dazu kamen ungewöhnlich große Wassermengen aus den anderen Gletschern und starke Monsunregenfälle. Der angeschwollene Fluss riss Uferböschungen mit sich. Geröll- und Wassermassen stürzten ins Tal. Dort, wo das Gästehaus stand, trotzten einige hohe Fichten der Sturzflut: Bis auf drei Metern Höhe ist ihre Rinde jetzt abgeschält und das blanke, helle Holz ist zu sehen.
Vom Zeltplatz aus klettern wir durch das Flussbett. Dann führt der Pfad in den Wald: Den ursprünglichen Weg hat die Sturzflut auf etwa drei Kilometern Länge ins Tal gerissen. Einen neuen Trail haben die Menschen aus den weiter oben liegenden Dörfern innerhalb eines Monats durch den Forst geschlagen, Steine gesetzt, an den vielen steilen Anstiegen Holzpflöcke eingeschlagen, dicke Äste oder Holzbalken darüber gelegt. Lediglich das Material stellte die Gemeinde. Zu teuer ist den Menschen die Versorgung mit Lebensmitteln durch Hubschrauber. Und ohne Weg bricht eine der wichtigsten Einkommensquellen weg: Wanderer aus Nepal und dem Ausland, die übernachten und versorgt werden wollen.
Der nächste Ort
Thanding besteht aus zwei Gehöften. Im kleineren kehren
wir ein. Aruti Rai, eine Frau mittleren Alters, kocht Tee und
Dal-Bhat: Reis, Gemüsecurry und Linsen. Nach ihrer Scheidung zog sie
vom Nachbardistrikt hierher, pachtete das Gasthaus samt kleinem
Feld, nahm einen Kredit auf für die karge Ausstattung:
Plastikstühle, Küchenutensilien, Bettwäsche. Von der staatlichen
Hilfe nach der Sturzflut habe sie nichts erhalten, erzählt sie. Vor
dem Monsun hatte sie Lebensmittel für die Herbstwandersaison beim
Händler im Tal bestellt und bezahlt. Aufgrund der Flut kamen sie
nicht bei ihr an.
Wer am Rand der Gesellschaft lebt, kann seine Rechte nicht durchsetzen. Da sie ihre Schulden abstottert, hat sie ihre Kinder in den letzten drei Jahren nicht gesehen. Auch im Winter, wenn die anderen Familien nach Kathmandu gehen, bleibt sie deshalb als einzige hier oben, mit ihrer Kuh. Dieses Jahr ist es noch härter, sagt sie, denn durch die Erdrutsche kämen weniger Gäste. Als wir aufbrechen, schenkt sie uns dreien eine Guave, eine rare Kost hier oben. Ob im Himalaya, auf den Inseln des Brahmaputra-Stromes in Bangladesch oder in den Mangrovenwäldern im Golf von Bengalen, immer wieder erlebe ich diese selbstlose Gastfreundschaft von Menschen, die im sozialen Machtgefüge ganz unten stehen, von den Folgen der Klimakrise am härtesten getroffen sind und am wenigsten dazu beitragen ...
Ahornbäume verlieren ihre gelben Blätter. Auf schwarzrindigen Riesen wachsen rote Farne. Andere immergrüne Gewächse mischen sich dazwischen, vereinzelt Tannen und Lärchen. Wir gehen über neue, provisorische Holzbrücken, Waldbodenanstiege, Felsstufen. Im Tal rauscht der Fluss durch die hellgrauen Felsen, oft in bizarren Formen abgeschliffen. Im Süden, also zu unserer Rechten, steigt der Wald steil an. Gegenüber wechseln sich steile schwarze Felsanstiege mit Mischwaldhängen ab. Ein Waldstück aus niedrigerem Rhododendron, hohen Blaufichten und schlankem Bambus folgt. Ein Adlerpaar segelt über uns hinweg, von der nördlichen Fünftausender-Kette zur gegenüberliegenden.
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Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel. Wir sitzen im Gemeinschaftsraum eines Gästehauses in Beding, auf 3.700 Metern Höhe. Sojiro Sunako und Masahiro Minowa, zwei japanische Gletscherforscher, erzählen von ihrem einmonatigen Aufenthalt auf dem Takargo-Gletscher mit Camps auf 5.000, 5.500 und 6.000 Metern. Bis zu vierhundert Metern dick sei das Eis, berichtet Masahiro. Er misst die Gletschertiefe, sein Kollege die Gletschermassen. Damit verbringt Sojiro seit zehn Jahren vier Wochen im Herbst hier oben. Jährlich nehme das Volumen ab, erklärt er, und die Gletscherseen würden immer größer.
Jahr 2050? Jeder würde nach einer Prognose fragen, wie die Situation in fünfundzwanzig Jahren sein wird, antworten sie auf die entsprechende Frage. Beide lächeln schweigend, eine asiatische Antwort. Das Forschungsprojekt wird von der japanischen Regierung finanziert. "Aber annähernd 30 % der Elektrizität in unserem Land wird aus Kohle gewonnen", reflektiert Masahiro in einem anderen Gesprächsgang mit den Gästen. Und da platzt es dann doch aus ihm heraus: "Es ist bereits zu spät. Selbst wenn wir den Temperaturanstieg auf der Erde auf dem aktuellen Niveau stoppen würden, das Eis wird weiterschmelzen." Und er ist überzeugt: "Ende dieses Jahrhunderts wird es keine Gletscher mehr geben."
Die beiden setzen morgen ihren Abstieg ins Tal fort, um nach Kathmandu und Tokio zurückzukehren, ihre Mess-Ergebnisse auszuwerten und in Fachzeitschriften zu publizieren. Vielleicht werden sie hier und da ein Interview geben. Wir steigen morgen weiter auf: Mit unserer Bergführerin wollen wir zu den beiden Gletscherseen am Ende des Rolwaling-Tales, und auch an den Fuß des Yalung-Gletschers.
Yaks kommen uns in der Schneelandschaft entgegen. Ein blauer Bergfasan fliegt auf und davon. Ein Wolf heult. Auf 4.000 Metern über dem Meeresspiegel weitet sich das Tal. Nadelbäume stehen vereinzelt an geschützten Stellen. Rotblättrig sind die niedrigen Büsche. Hüfthoch wächst Thuja. Bizarr erheben sich die Gipfel der Bergketten zur Linken, zur Rechten, vor uns im Osten.
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Weltweit die meisten Besteiger des Mount Everest stammen aus dem Sherpa-Ort Beding. Naa ist die Sommersiedlung mit Yak-Weiden, der letzte Ort des Tales. Am Eingang von Naa liegt ein großer, schwarzer, quaderförmiger Fels, vor Jahrhunderten mit heiliger Schrift in tibetischen Zeichen behauen.
Unweit davon, unter einem Felsen, welcher der Form der Mütze eines buddhistischen Lehrmeisters ähnelt, befindet sich eine Höhle. Der Überlieferung nach hat Guru Rinpoche hier meditiert; er lebte im achten Jahrhundert n.Chr. und gilt als Begründer des Buddhismus in Tibet. Ein Meditationsraum ist in der Höhle eingerichtet: Im Schein von Butterlämpchen empfängt uns dort der Lama Pem Chiring. Seit fünfzig Jahren lebt er hier oben. Die Bevölkerung von Naa versorgt ihn. Um Pujas zur Geburt eines Kindes zu halten oder Beerdigungsrituale, geht er ins Tal. Während des Monsuns meditiert auch ein weiser, buddhistischer Lehrmeister aus Singapur an diesem Ort.
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Das Leben im Tal ist geprägt von einer Kultur der Gewaltfreiheit. Tiere dürfen nicht gejagt und nicht geschlachtet werden. Die Mönche hätten Yaks im Schlachthaus eines Nachbartals gekauft und im Rolwaling ausgewildert, erzählt eine Einwohnerin von Naa.
Riku Sherpa, unsere Wirtin in Beding, hat in den Erzählungen der Großeltern nie von einem Mordfall in der Geschichte des Tales gehört. Schlägereien würde es geben, wenn Männer erheblich Rakshi getrunken hätten, lokal gebrannten Reis- oder Hirseschnaps. Gewiss, wenn viele Gäste bei ihr absteigen, seien die Besitzer anderer Teehäuser neidisch und würden schlecht über sie reden. Doch die nächste Polizeistation ist vier Tage Fußmarsch entfernt. Konflikte würden sie untereinander im Dorf lösen, wenn etwa ein Yak dem Nachbarn das Gemüse aus dem Garten frisst, erklärt die lebenstüchtig wirkende Frau.
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Von Naa aus steigt man zum Tsho Rolpa auf: Die Fläche des 135 Meter tiefen Gletschersees hat in den letzten sechzig Jahren um 2.000 % zugenommen, sagen die Daten. Mit schwerem Gerät holen Techniker Felsbrocken aus dem See, um sein Fassungsvermögen für das Schmelzwasser zu erhöhen, erläutert uns ein Hüttenwirt.
Zwischen südlicher Moräne und Bergzug geht der Aufstieg durch das liebliche Chukyima-Tal zum Fuß des Yalung-Gletschers. Langsam plätschernd, manchmal gurgelnd, fließt der Bach durch die Matten. Rhododendron-Büsche verströmen herb-süßlichen Duft. Edelweiß blüht. Erfahrene Kletterer können von hier aus den Tashi Lapcha Pass erklimmen, um in den Nachbardistrikt Solukhumbu zu gelangen mit seinen Achttausendern Mount Everest, Lhotse, Makalu und Cho Oyu. Ein Eisbrocken bricht vom Gletscher ab und treibt auf dem See ...
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Von Naa aus wandern wir auch zum Dudh Kunda. Links und rechts des Hügelbands, über das wir gehen, liegen Gletscher, gesäumt von langgezogenen Moränen. Vor uns, im Norden, bildet eine Bergkette die Grenze zu Tibet. Dort taucht der Gauri Sankar mit seinen zwei Siebentausender-Gipfeln auf. Türkisblau liegt der Dudh Kunda in der Schneelandschaft. Für buddhistische wie hinduistische Besucher ist der See von großer Bedeutung, ein heiliges Bad darin soll Sünden wegspülen und Wünsche erfüllen. Auf quadratischem Unterbau erhebt sich ein weiß getünchter, schlichter, würfelförmiger Chörten. Er symbolisiert Buddha und seine Lehre. Eine goldene Spitze, welche für das Nirvana steht, ziert das aus Steinplatten gefertigte Dach. Bunte Gebetsfähnchen, in alle Himmelsrichtungen gespannt, wehen im Wind. Stille umgibt uns, absolute Stille ...
Weitere
Infos
Bergführerin, Fotografin und Autor vor Ort
Jangmu Sherpa studiert Journalismus und ist Bergführerin. Regina Koritkowski ist Tierärztin und Fotografin. Peter Dietzel ist Schreinermeister, Friedensarbeiter und Autor. Er war beruflich drei Jahre lang in Nepal tätig.
Reisen mit kleinerem "CO2- Fußabdruck"
Der Landweg nach Nepal ist zeitaufwändig. Wer deshalb den Flieger nimmt, kann dennoch seinen "CO2-Fußabdruck" reduzieren: Zwar werden Direktflüge aus dem deutschsprachigen Raum derzeit nicht angeboten, doch verschiedene Fluglinien fliegen nonstop nach Delhi. Von dort aus kann man dann z.B. täglich mit dem Satyagrah-Express in den Grenzort Raxaul fahren, und von Birgunj auf nepalischer Seite mit dem Bus nach Kathmandu. Die Zugfahrt - im Schlafwagen - dauert 24 Stunden, die Busfahrt in Nepal einen Tag.
© 2025 Peter Dietzel, Fotos: Regina Koritkowski