Mount Everest -Der Gipfel des Selbstbetrugs ...Von Reinhold Messner
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Kein Höhenrausch, kein Glücksgefühl - nur Müll: Der Mount Everest ist zum Konsumgut für jedermann verkommen
Am Mount Everest ist wieder Hochsaison. Jetzt im Mai stürmen Bergsteigerinnen und Bergsteiger aus aller Welt zum höchsten Gipfel der Erde. Unterstützt von Sherpas und geführt von Reisebegleitern, der Aufstiegsweg präpariert von Trägerkolonnen in Hundertschaften, beginnt in der windstillen Zeit kurz vor Einbruch des Sommermonsuns wieder der Gänsemarsch zum letzten Prestigeziel von internationaler Bedeutung. Nicht selten stehen die Gruppenreisenden, die sich gebärden wie die Eroberer im Zeitalter des Kolonialismus, am Gipfelgrat im Stau. Die "Weißen Herren", Sahibs genannt, die keine Rucksäcke schleppen, werden auf das Dach der Welt gebracht wie Pauschaltouristen. Der globale Tourismus hat die Spitze des Mount Everest erreicht.
Sogar ein Einbeiniger und ein Blinder wollen in diesem Frühling zum Gipfel. Als ob der höchste Berg der Erde - immer schon Fluchtpunkt menschlicher Eitelkeiten - nun zur Bühne auch von Invaliden taugen würde. Nein, mich erstaunt es nicht, dass jener "Eisriese", der vor 100 Jahren unbesteigbar und vor 50 Jahren das Ziel der besten Bergsteiger gewesen war, heute zur Selbstdarstellung benutzt wird. Im Zeitalter von "Big Brother" eignet er sich für die ausgefallensten Inszenierungen. Nachdem wir ihm alle Geheimnisse genommen haben, gehört er allen. In einer vernetzten Welt wird zuletzt auch die Arena der Einsamkeit allgemein zugänglich, also banal.
Der Verkauf von dünner Luft
Dort oben sind nur noch Abenteuer-Shows und Rekorde interessant geblieben. Nicht nur die schnellste Besteigung, der längste Aufenthalt am Gipfel, auch der lästigste Stau am Grat zählt. Ein jüngster mit 17 und ein ältester Bergsteiger mit 61 Jahren standen schon oben; der Südpfeiler ist die schwierigste, die Ostwand die gefährlichste und der Nordostgrat die längste Route.
Der Massentourismus hat den höchsten Berg der Welt also nicht nur erreicht, er hat ihn vereinnahmt. Und er hat unsere Vorstellung vom Mount Everest revolutioniert. "Everest für jedermann" heißt der Slogan der Reisevermittler, die sich auf den Verkauf von dünner Luft spezialisiert haben. Auch die Ministerien in Nepal und China wetteifern miteinander, wer mehr von den begehrten Trophäen "Everest-Summit" verkaufen kann.
Als genügte es nicht, dass dieser Berg an sich ein Rekord ist, wird er von Trekkern entdeckt und garantiert Medienpräsenz. Um die Aufmerksamkeit eines fachunkundigen Publikums geht es seit den Anfängen der Everest-Erkundung. Wozu sonst all diese Rekorde? "Höhenweltrekord" 1922, 1924 und 1933. 1933 auch noch ein "Zeltrekord", das höchste Lager, in dem Menschen bis dahin je geschlafen haben. Gewartet wird dort oben, nicht geschlafen. Gewartet auf den Morgen, auf die Chance, zum Gipfel zu kommen oder mit irgendeiner ausgefallenen Idee ins Guinness Buch der Rekorde. Wenn es denn sein muss mit der Menge des Abfalls, den eine Expedition auf dem Weg dorthin sammelt, Müll, den die Mannschaften eine Saison vorher liegen gelassen haben. Allein die leeren Sauerstoffflaschen, die die 1000 "Gipfelsieger" zurückgelassen haben, würden übereinandergetürmt inzwischen den Everest überragen - ein Beweis dafür, dass der Mensch sogar die Erdauffaltung in den Schatten stellt?
Die Eroberung des Nutzlosen
Es ist wahr, der Mount Everest macht nur noch Negativschlagzeilen: als Müllberg, als Todeszone für Adrenalin-Freaks, als Rummelplatz für Touristen, die überall sonst schon gewesen sind. Seitdem im Internet und in Reisekatalogen mit dem Angebot "Everest for everybody" die Vorstellung verkauft wird, der Aufstieg ins Nirwana sei für Geld zu haben, ist auch der höchste Berg der Welt, von den Einheimischen in Nepal einst als Heiligtum "Sagarmatha" und in Tibet als "Qomolungma" verehrt, Konsumgut geworden - ein Reiseziel, das seinen Preis hat, aber nach oben hin kein Konkurrenzprodukt fürchten muss. Das Sensationelle an allen Everest-Expeditionen ist der Berg und seine Besteigungsgeschichte, die mehr mit Sterben als mit Siegen zu tun hat. Auf jeden zehnten "Gipfelsieger" kommt ein Toter. Das heißt, auch gegen Geld und Menschenleben ist Prestige im Angebot. Hat es je eine teurere Sache gegeben?
Die allermeisten Achttausender-Touristen wollen mit der Gruppenreise zum Dach der Welt mehr kaufen als Atemnot, Schinderei und Kälte in der Todeszone. Obwohl sie sich die "Eroberung des Nutzlosen" auf den Rucksack schreiben, stecken sie voll mit Heldentümelei, "Gipfelsieg" und Eroberungssucht. Auch wenn Sherpas die Vorarbeit leisten und Bergführer die Verantwortung tragen, gebärden sie sich hinterher wie Pioniere und tragen ihr "Summitet" wie einen Orden. Man ist schließlich auch am Gipfel gewesen, wie Hillary, Tensing, Bonington ...
Warum melden sich Nichtbergsteiger zum Everest-Trip an? Wir ahnen doch alle, dass ein Berg mit fast 9000 Metern schwerer zu besteigen ist als das Matterhorn. Das hindert zahlungskräftige Sonntagsbergsteiger aber nicht, in den Ferien den "Everest" zu buchen - obwohl sie es in Eigenverantwortung niemals wagen würden, auf den Eiger zu steigen.
Mittlerweile gibt es zwei Trampelpfade zum Gipfel: einen von Süden, einen von Norden. Hundertschaften folgen den Steigspuren, die Trupps von Sherpas Saison für Saison legen. Von den Vorgaben der Pistenwarte und Animateure profitieren auch jene, die sich die Kulis sparen und die Infrastruktur der kommerziellen Expeditionen nutzen. Wo aber ein Weg gebahnt ist, setzt sich das Banale fest, und das Geheimnisvolle kommt abhanden. Kein Wunder, dass wir uns an die Besteigbarkeit des Mount Everest gewöhnt haben. Im Grunde ist nur diese Tatsache sensationell.
Wie viel Energie, wie viel Geld, wie viel Mut sind von September 1921 bis Mai 1953 aufgewendet worden, um "den Gipfel der Welt" zu erobern? Ein ungeheurer Aufwand. Erst mit der ersten Besteigung am 29. Mai 1953 war es dann mit dem Glanz, der Herrlichkeit und der Größe des Mount Everest vorbei.
Nein, auch heute ist der Mount Everest keine Riesenkuh unter den Bergen der Welt. Nachdem aber die beiden ausgekundschafteten Wege zum Gipfel keine schwierigen Stellen mehr aufweisen und die anderen Routen niemand mehr geht, verliert er seine Ausstrahlung. Das wissen vor allem jene, die ihre Aufstiege für die Öffentlichkeit inszenieren. Nur deshalb ist das parasitäre Bergsteigen in Mode gekommen. Berühmte Bergsteiger steigen nur ein, wenn die Lagerkette der kommerziellen Expedition steht. Die "Camp-People" haben keine Hemmungen. Sie wissen, dass Touristen verwöhnt sind und überallhin ihren Koch mitnehmen. Also lassen sie diesen auch für sich kochen. Gegen Trinkgeld natürlich und im Schutz der Hochlager, an denen sie vorbeikommen. Man trinkt ja nur so im Vorbeigehen. Auch Sauerstoffflaschen liegen inzwischen überall herum, wenigstens für den Notfall.
Weil am Mount Everest also alles von der Schnelligkeit abhängt und die Strecke für unselbstständige Bergsteiger präpariert werden muss, bleiben auch alle Rekorde da oben Schwindel. Denn wer nur auf Kosten anderer schnell ist, bleibt ein Parasit. Nichts als Zahlenalpinismus. Es wird nicht nur schneller gestiegen in einer Höhe, wo keine Zeit zu verlieren ist, es wird auch immer rascher verdrängt, was falsch läuft.
1996 hingen ein paar Inder am Gipfelgrat. Festgezurrt an einem Seil nicht unweit vom Second Step. Während ein paar Japaner an den Sterbenden vorbei gipfelwärts stiegen, bettelte einer der Inder um Hilfe. Vergeblich - die Japaner hatten es eilig. Die indischen Bergsteiger starben. So viel Egoismus gab es noch nie. So viel Verantwortungslosigkeit.
Der Unterschied zwischen einem Grenzgang und dem abgesicherten Aufstieg verunsicherter Touristen liegt darin, dass Grenzgänge für sich selbst veranstaltet werden, der organisierte Ausstieg aus der Zivilisation aber zelebriert wird wie ein Grenzgang. Nicht dem Könner also gilt die Aufmerksamkeit, sondern der Hausfrau, die als Bergsteigerin so nebenbei auf den Everest steigt. Verkehrte Welt. Dass Reiseveranstalter trotz aller Absicherungshysterie nicht selten die Sicherheit für den Profit opfern, ist eine andere Sache. Einst verzichtete man am Mount Everest auf Komfort, trug aber die Verantwortung. Erlebnisreisen aber, die alles bieten - Schutz in der Gruppe, Führung, größtmöglicher Komfort -, sind, obwohl Pseudoabenteuer, letztlich immer auch gefährlich. Die Beschreibung ihrer Heldentaten eignet sich vielleicht am besten, um diese Widersprüchlichkeit aufzuklären.
Was da von "Gipfelglück" und "Gottesnähe" in den Büchern steht, entspricht vielleicht einem Wunschdenken, nicht aber gelebten Emotionen. Sicher, auch bestiegene Gipfel haben ihre Anziehungskraft, aber einmal oben, zählt nur noch das Unten. Solange eine Gipfelbesteigung provisorisch bleibt, kann sie wie eine Droge wirken, die man nicht greifbar hat. Am Gipfel selbst aber will niemand alt werden. Nein, am Gipfel des Mount Everest, wo Himmel und Erde sich scheinbar berühren, sind wir der Unendlichkeit nicht näher als weiter unten, auch der Wahrheit nicht oder dem Glück. Ganz oben geht es nicht um Euphorie, nicht einmal um Erkenntnisse oder Gedanken, sondern nur um das Hinab, ums Überleben.
Der Preis für das Geheimnis
Alles hat mit dem Wahn begonnen, ein letztes unerreichtes Ziel vor sich zu haben. Nordpol und Südpol - fiktive Punkte - waren erreicht, also zu vergessen. Der Mount Everest wurde in den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts zum dritten Pol stilisiert, zum "Ostpol", um dessen Größe sich nicht nur das britische Bergsteigen drehte. Als wäre der Mount Everest der letzte weiße Fleck von Wert. Der Preis für das Geheimnis waren Einsatz, Leidenschaft, Menschenleben. Immer schon eine teure Sache also.
Von 1921 bis 1953 wagte ein gutes Dutzend Expeditionen das Experiment. Immer mehr stiegen immer höher hinauf. 1953 endlich kamen die Briten zum Erfolg. Nur die erste Besteigung war dabei wichtig. Nicht der Stil und nicht die Geschwindigkeit des Vorankommens. Diese Eroberung hatte also nichts zu tun mit Zahlen oder Extravaganzen, vielleicht mit Rivalität. Die Schweizer waren ein paar Monate vorher bedenklich nahe an den Gipfel herangekommen. Die Geräte, getestet wie für eine Mondlandung - Schuhe, Zelte, Anzüge, Pickel, Steigeisen, Masken -, hatten trotzdem nur eine praktische Bedeutung, keine sportliche oder marktfördernde. Die Bergsteiger in aller Welt hatten sich mit dem Ziel identifiziert, und die Briten waren wieder die Entdecker des Unentdeckten. Der Mount Everest war nicht nur zum Symbol für die Einswerdung mit der Sache geworden, er war der Pol, an dem Briten zuletzt doch die Ersten sein sollten.
Als Hillary, ein Bienenzüchter aus Neuseeland, mit seinem Sherpa den Gipfel erreichte, am 29. Mai 1953, standen die beiden auf den Schultern eines kostspieligen Unternehmens aus Großbritannien. Sie standen also ganz oben, 8850 Meter über dem Spiegel des Meeres, der Eispickel mit der Fahne noch zwei Meter darüber. Zum Glück hat der Fotoapparat nicht geklemmt - so gibt es eindeutige Beweise. Völker unter ihren Füßen, Religionen und tote Vorläufer. Was sie für diese Welt getan hatten, war mehr als Selbsterhöhung. Das Ziel, dem ein Ideal entsprach, war erreicht. Damit war es nun endgültig vorbei.
Die ersten Briten, die am Mount Everest umkamen, Irvine und Mallory, waren plötzlich interessanter als die Gipfelsieger, die nicht einmal Engländer waren. So wurde Mallory zum Mythos. Jener George Leigh Mallory, der 1999 wieder auftauchen sollte - als Marmorleiche. Mallorys Körper hat nicht gefriergetrocknet überdauert und nicht mumifiziert wie Ötzi, sondern konserviert im eigenen Körperfett. Als Fettwachsleiche. Unversehrt wie eine griechische Götterstatue lag ein toter Körper hoch oben am Berg im Geröll. Seit 75 Jahren. Und plötzlich dieser Auftritt in 8250 Metern Höhe. Zwar eine degoutante Rückkehr eines Mannes, aber eine Weltsensation. Er, der den Mount Everest angeblich nur hatte besteigen wollen, weil der Berg da ist, hatte offensichtlich beim Sterben alles richtig gemacht. Sein Da-Sein hat alle anderen Everest-Toten aus den Schlagzeilen verdrängt, und so wird es wohl bleiben. Der Mount Everest gehört ihm.
Heute wird das Sterben dort oben über Satellit verkündet, und die Toten sind gleich wieder vergessen. Wie 1996, als die Teilnehmer mehrerer kommerzieller Expeditionen zuerst führerlos in der Todeszone herumirrten und dann verschwanden. Ein knappes Dutzend von ihnen kam um. Sie hatten den Gipfel, den sie gebucht hatten, zwar erreicht, aber den "Sieg" nicht ins Tal retten können. Es ist ihnen nichts von dem geblieben, wofür sie bezahlt haben: keine Anerkennung, kein Ruhm, nicht Unsterblichkeit.
Inzwischen wissen alle, die selbst oben waren, dass man nicht als Held zur Spitze kriecht, sondern wie ein Lungenpatient mit fliegendem Atem und dumpfem Geist. Immer mehr aber wollen hinauf. Vor allem Unerfahrene sind vom Ehrgeiz besessen, nachzumachen, was Nachbarn, Sektionsmitglieder oder Wanderfreunde vorgemacht haben. Als ein Nichts, als eine Krankheit kommen einige wenige oben an - und die meisten auch wieder zurück, aber so verwirrt und oft mit Lücken im Kurzzeitgedächtnis, dass sie hinterher alles verklären. Ganz oben schwindet nicht nur unser Urteilsvermögen, zuletzt auch die Übersicht. Willensschwäche, Blutleere und Apathie bremsen den Geist in der Todeszone. Der Mount Everest - Gipfel der Aussichtslosigkeit.
Frank Smythe zum Beispiel war 1933 im schier grundlosen Pulverschnee hoch oben am Mount Everest stecken geblieben. 20 Jahre bevor Hillary und Tensing den Gipfel über die andere Seite des Berges erreichten, trat er stundenlang auf der Stelle. So viel feinkörniger, vom Wind verfrachteter Schnee. Nur dieser Triebschnee hat ihn aufgehalten. Er versuchte, mit den Händen einen Graben zu schaufeln, um darin höher zu steigen. Kletterschwierigkeiten sind überwindbar, auch in Gipfelhöhe des Mount Everest, hüfthoher Schnee hingegen ist ein Hindernis, das jeden Aufstieg stoppen kann.
Zur Hoffnungslosigkeit kommt in solchen Situationen die Einsamkeit. Dieses Verlorensein am oberen Ende der Welt lässt dich glauben, du sähest dir beim Steigen selbst zu. Smythe hat seinen Proviant mit diesem Doppelgänger teilen wollen. Beim Sturz kommen dann weder Schreck noch Todesangst, nur Staunen. Es ist, als würde, weit weg, ein anderer umkommen. Nein, Höhenbergsteigen ist trotzdem nicht wie ein Albtraum, ohne Maske und ganz oben wird der Mensch schizophren - vielleicht nur, um so viel Mühe und Angst und Alleinsein ertragen zu können ...
Zur Realität ganz oben gehört also diese Leere im Kopf. Den Höhenrausch gibt es nicht, nur die Höhenkrankheit. Auch das viel gepriesene "Gipfelglück" ist unnatürlich. Dort oben ist nämlich nichts zu holen: kein Schatz, keine Erkenntnis, keine Göttergunst. Die Einheimischen, in unseren Augen "unkultivierte Naturmenschen", meiden die Gipfel der Berge. Vernünftigerweise steigen sie nur, wenn sie dafür bezahlt werden.
So ist der Beruf des Trägers entstanden, und die Sherpas sind heute Dienstleister der besonderen Art. Sie sind Animateure auf dem Weg in jenes Nirwana, das es nur in der Vorstellung ihrer Klienten gibt. Am Gipfel des Mount Everest ist nicht viel Platz, also wenig Spielraum für die entkräfteten, wirren Menschen, denen die Einheimischen hinauf- und herunterhelfen. Aber hinterher haben alle, was sie gewollt haben: Die Sherpas ihren Lohn und die Sahibs das Gefühl, dem Himmel einen Augenblick näher gewesen zu sein.
Der Everest-Gipfel hat seinen Mythos mit der ersten Besteigung zwar verloren, aber er ist immer noch der Höchste. Nach mehr als tausend Leuten, die diesen Gipfel erreicht haben, ist dort der Schnee zertreten wie auf allen anderen bestiegenen Bergen auch, aber wo, wenn nicht dort oben, ist das, was sich Flachländer unter dem Himmel vorstellen, näher. Der Everest-Gipfel ist das begehrteste Reiseziel unserer Zeit. Viele geben ihr ganzes Vermögen, um ihn zu erreichen.
Als ich vor bald 25 Jahren, am 8. Mai 1978, auf Händen und Knien zum Gipfel kroch, war der Wind so stark, dass Peter Habeler und ich streckenweise das Gleichgewicht kaum halten konnten. Immer bemüht, das Gesicht in den Windschatten zu bekommen, sah ich nur den aufgewirbelten Schnee, den Partner als Schattenriss neben mir und ab und zu ein Stück schwarzblauer Himmel. Sonst nichts. Immerzu das Heulen des Sturms im Ohr und das Jagen der Lunge im eigenen Brustkorb, schob ich mich höher.
Die Aufmerksamkeit, die unsere Everest-Besteigung ohne Maske weltweit provozierte, ist nur zu erklären mit der Tatsache, dass jeder Mensch weiß, wie sehr alles Leben auf der Erde vom Sauerstoffanteil in der Atmosphäre abhängt. Die Anerkennung galt also nicht unserem Hecheln und Frieren und der Angst, sondern der Frechheit, dass wir gegen alle Regeln gehandelt hatten. Als ich dann zwei Jahre später ein zweites Mal zum Mount Everest aufbrach, um den Berg allein zu besteigen, interessierte das niemanden mehr.
Fotos, Keuchen, Hinhocken
Anstrengung und Angst und Hoffnungslosigkeit beim ersten Aufstieg hatte ich inzwischen vergessen. Oder verdrängt? Mit welcher Selbstverständlichkeit wir Bergsteiger uns selbst belügen. Man muss sich das Leben dort oben nur vorstellen: immerzu kalte Füße; feuchte Socken im Zelt; immerzu Durst, Kopfschmerzen, Röcheln, Erbrechen; dann diese Übelkeit erregenden Suppen; die Enge im Zelt, Erstickungsängste, Panik. Aber der Selbstbetrug geht weiter - vor allem wir Höhenbergsteiger sind erfinderisch: Wir erfinden immer neue Ziele.
1980, im letzten Biwak, fühlte ich mich am Morgen genauso elend wie am Abend zuvor. Miserabel dieses Leben im Zelt. Von Erholung keine Rede. Schlafen kommt ganz oben nicht in Frage. Mein Gesicht, die Hände, die Füße - alles eisig kalt. Und die Sonne hatte keine Kraft. Die Wand unter mir war steil; wenn der Schnee nicht hielt, war es ein hoffnungsloses Treten, bis ich mit den Steigeisen auf Fels stieß. Nicht die Lawinengefahr ängstigte mich, nur die Entfernung. Und die Sorge, nicht zurückzukommen.
Am Gipfel sah ich nichts. Er steckte im Nebel. Keine göttliche Aussicht, keine Freude, kein Stolz. Nichts. Auch keine erhabenen Gedanken. Automatisch tat ich, was zu tun ich mir vorgenommen hatte: Fotos, Keuchen, Hinhocken, Rast mit geschlossenen Augen. Dann der Abstieg.
Ich will mich aber hüten, als Moralprediger dazustehen und all die Sonntagsbergsteiger vor dem möglichen Umkommen zu warnen. Auch ich trat dem Berg völlig naiv gegenüber. Und was wusste Hillary schon? Sicher, er musste seinen Weg erst finden und die Ausrüstung damals mag lächerlich erscheinen im Vergleich zu dem, was heute an Goretex-Kleidung und Titangeräten auf dem Markt ist. In unserer Wichtigtuerei gegenüber der Natur aber gebärdeten wir uns so dumm wie all die anderen, die nach uns kamen. Die, die dabei umgekommen sind - weit mehr als 100 Menschen -, waren nicht die Schlechtesten. Sie hatten nur weniger Glück.
Eine grausame Welt
Der Mythos, den Mallory verkörpert, hat viel mehr mit Sehnsucht und mit dem Scheitern zu tun als mit dem erreichten Gipfel. Vielleicht auch mit seinem Verschwinden ohne Zeugen. Mallorys Hinauf war getragen von einem Geheimnis, und das ist es wohl, warum der Tote keine Ruhe hat. Es war sein Schicksal, diesem Geheimnis zu verfallen, am Ende oben zu bleiben und der Menschheit so zu demonstrieren, wo sie ohne Geheimnisse geblieben ist.
Heute liegt der Everest unter den vielen Seilen, Leitern und Sauerstoffdepots verborgen, eine grausame Welt. Der höchste der Berge nämlich ist so streng, furchtbar und mörderisch wie eh und je. Kluge Menschen tun also gut daran, auf das Billigangebot "Everest for you" zu verzichten. Noch Klügere können den höchsten Berg der Welt aus dem Flugzeugfenster bestaunen, ohne dafür Unsummen an unseriöse Reiseveranstalter zu bezahlen, die die Illusion verkaufen, die Pauschalreise auf den Mount Everest sei mehr wert als ein Billigurlaub auf Mallorca ...
© Mai 2001 Reinhold Messner. Der Beitrag wurde am 28.04.2001 erstmals von der SZ veröffentlicht. Wir danken Reinhold Messner für seine Genehmigung einer Veröffentlichung auch im Explorer Magazin.
© Fotos: Aus "Mount Everest Expedition 2001", Dieter Porsche
1. Nachtrag, 26.05.01: Meldung SZ
"Erik Weihemayer, 33, amerikanischer Bergsteiger, hat als erster blinder Mensch den höchsten Berg der Welt, den Mount Everest, bezwungen. Er erreichte den 8848 Meter hohen Gipfel am Freitag mit 17 Teamkollegen. Der Amerikaner Sherman Bull, 64, schaffte ebenfalls den Aufstieg und wurde damit der älteste Mensch, der den Berg im Himalayakönigreich Nepal bislang erstiegen hat. Insgesamt stürmten in den vergangenen Tagen 80 Menschen, unter ihnen zwei Deutsche, den Gipfel, nachdem sie lange auf besseres Wetter warten mussten."
Anm. der Redaktion: Zu den Erfolgreichen der Vorwoche gehörte auch ein 16jähriger Nepalese, der damit der jüngste Besteiger bisher wurde ...
2. Nachtrag, 26.05.03: Aus dem "Streiflicht" SZ
"Am Freitag wurde der älteste Gipfelstürmer vermeldet, ein 70-jähriger Japaner, am Sonntag die jüngste Bergsteigerin, eine 15-jährige Nepalesin. ...
Weil ferner die ersten Übermenschen aus 8850 Meter mit Skiern abgefahren und mit dem Gleitschirm abgeflogen sind, ist für einen neuen Rekord Phantasie gefragt. Noch war kein Yorkshire-Terrier auf dem höchsten Gipfel, noch fehlt der erste Barfuß-Aufstieg ..."
Anm. der Redaktion: Zu den Erfolgreichen der Vorwoche gehörte auch ein Sherpa, der den bisher schnellsten Aufstieg auf den Gipfel schaffte ...
Buchveröffentlichungen von Reinhold Messner:
- Reinhold Messner: Die großen Wände. Von der Eiger-Nordwand bis zur Dhaulagiri-Südwand. ISBN 3-405-15981-4, BLV Verlagsgesellschaft
- Reinhold Messner: Everest Solo. "Der gläserne Horizont", ISBN 3-10-049413-, Fischer Verlag
- Reinhold Messner: Annapurna. 50 Jahre Expeditionen in die Todeszone. ISBN 3-405-15769-2, BLV 2000
- Huber, Alexander; Huber, Thomas: The Wall. Die neue Dimension des Kletterns. Hrsg. v. Reinhold Messner. ISBN: 3-405-15685-8, BLV 1999
- Messner, Reinhold: Mallorys zweiter Tod. Das Everest-Rätsel und die Antwort. ISBN: 3-405-15840-0, BLV 1999
- Messner, Reinhold: Überlebt. Die Achttausender-Chronik.. ISBN: 3-405-15788-9, BLV Neuausg. 1999
- Grenzgänge 2000. Hrsg. v. Reinhold Messner. ISBN: 3-89008-001-4, Fotokunst Groh
- Lammer, Eugen G.: Durst nach Todesgefahr. Hrsg. v. Reinhold Messner u. Horst Höfler, ISBN: 3-89652-186-1, Steiger 1999
- Messner, Reinhold: Yeti. Legende und Wirklichkeit. ISBN: 3-10-049411-3, S. Fischer 1998
- Messner, Reinhold: Everest. Expedition zum Endpunkt. ISBN: 3-405-15415-4, BLV, 2., aktualis. Aufl. Sonderausg. 1998
- Messner, Reinhold: G I und G II. Herausforderung Gasherbrum. ISBN: 3-405-15465-0, BLV, 4., neubearb. Aufl. 1998
- Messner, Reinhold: Dreizehn Spiegel meiner Seele. ISBN: 3-492-22646-9, Piper Taschenbuch 1998
- Messner, Reinhold: Bis ans Ende der Welt. Herausforderungen im Himalaya und Karakorum. ISBN: 3-405-15477-4, BLV, 5., aktualis. Aufl. 1998
- Messner, Reinhold: Berg Heil, Heile Berge? Rettet die Alpen. ISBN: 3-405-15250-X, BLV 1997
- Messner, Reinhold: Antarktis.Himmel und Hölle zugleich. ISBN: 3-492-11711-2, Piper Taschenbuch
- Messner, Reinhold: Antarktis. Himmel und Hölle zugleich. ISBN: 3-492-03347-4, Piper, 3. Aufl. 1991
- Messner, Reinhold: Berge versetzen. Das Credo eines Grenzgängers. ISBN: 3-405-14869-3, BLV, 2., neubearb. Aufl. 1996.
- Messner, Reinhold: Nie zurück. Nordpol, Mount Everest, Südpol. 3 Fluchtpunkte. ISBN: 3-405-15002-7, BLV, 2. durchges. Aufl. 1997
- Messner, Reinhold: Die Freiheit aufzubrechen, wohin ich will. Ein Bergsteigerleben. ISBN: 3-492-21362-6, Piper Taschenbuch 1991
- Die Option: 1939 stimmten 86 Prozent der Südtiroler für das Aufgeben ihrer Heimat. Warum? Ein Lehrstück in Zeitgeschichte. Hrsg. v. Reinhold Messner. ISBN: 3-492-12133-0, Piper Taschenbuch 1995
- Messner, Reinhold: Die Grenzen der Seele wirst du nicht finden.
Michael Albus im Gespräch mit einem modernen Abenteurer. Interview
v. Michael Albus. 1996.
ISBN: 3-451-04503-6 - Buhl, Hermann: Kompromißlos nach oben. Hrsg. v. Reinhold Messner u. Horst Höfler. ISBN: 3-89652-118-7, Steiger 1997