6. Tag
Bevor wir heute weiter Richtung Süden vorstoßen, müssen wir erst noch einmal ein paar Kilometer zurück, denn gestern Abend im Vorbeifahren haben wir den Stellplatz oberhalb von Legzira entdeckt. Etwa zehn oder zwanzig Wohnmobile parken dort oben an der Steilküste, und auch ein arg bekritzeltes Schild weist an der Straße auf die Bucht hin. Heute ist also mal wieder ein kleiner Strandspaziergang angesagt, was auch dringend notwendig ist, und wir fahren die Buckelpiste bis runter in die Bucht, wo wir zwischen den roten Häusern von Legzira parken.
Es offenbart sich eine total lauschige Ansammlung von Gebäuden direkt bis in den Fels gebaut, alle in der gleichen roten Farbe getüncht wie das Gestein im Hintergrund, und auch die Fensterläden und Türeinfassungen sind allesamt in Blau gehalten. Steht man am Strand und blickt zurück, sieht man eigentlich nur drei Farben: Goldgelb, Sienna und Azur. Einen gewissen Schönheitssinn kann man also den Leuten von Legzira nicht absprechen, und das ist in Afrika schon der Erwähnung wert.
Die eigentliche Sensation des Strandes sind aber die beiden Felstore, die die Erosion in wahrscheinlich Jahrtausenden geschaffen hat. Gewaltige Durchgänge von einer Bucht zur nächsten, die eine Strandwanderung von nicht unerheblicher Länge möglich machen. Die Brandung mit ihrer nebelartigen Gischt sorgt für diffuses Licht mit Weichzeichner-Effekt, und der Blick in die Ferne des Strandes offenbart die ganze Weite dieser Küste. Angesichts der Dimensionen - des Strandes im Allgemeinen und der Felstore im Speziellen - fühlt man sich relativ popelig ... wie ein Wanderer zwischen den Welten! Selbst der Himmel begrenzt in seiner Transparenz in keiner Weise die ungeheuerliche Weite, und man sehnt fast eine Wolke herbei, um die Endlichkeit dieser Szenerie ausmachen zu können. Aber vergebens, das kräftige Hoch hat sämtliche Wolken verpuffen lassen.
Unter den Toren ist es kühl und laut: Das Wellengeräusch wird ziellos hin und her reflektiert, und unwillkürlich ziehen wir den Hals ein angesichts dieser schieren Masse über unseren Köpfen. Ganz ungefährlich ist der Aufenthalt unter dem Torbogen auch nicht, und tatsächlich klatscht ein Steinbrocken in Faustgröße wenige Meter neben uns auf den Boden. Wenn solch eine Granate punktgenau die Birne trifft, heißt´s "Gute Nacht". Wir lassen also Vorsicht walten und gehen zügig am Rand des Durchgangs entlang ...
Auf dem Rückweg zum Auto könnte man sich wunderbar auf der Terrasse eines der Restaurants niederlassen, um die Stimmung bei einem Salat Marocaine so richtig wirken zu lassen, aber für uns ist es noch etwas zu früh, um sich den Magen vollzuschlagen. Schade eigentlich, aber wir reisen mit dem Gefühl ab, nicht das letzte Mal hier gewesen zu sein, zumal die Übernachtungsmöglichkeit oben auf dem Felsplateau auch nicht die schlechteste zu sein scheint und somit beim nächsten Mal einen anderen Tagesablauf ermöglichen könnte.
Wir müssen wieder durch Sidi Ifni, und ohne die Scheuklappe unserer gestrigen Campsuche betrachtet fällt uns zu dieser Stadt nur ein Kommentar ein: Was für ein Suddel! Mag ja sein, dass die Medina ansatzweise einen gewissen Art-Deco-Charme versprüht und es auch noch andere Nostalgitäten aus der vergangenen spanischen Protektoratszeit zu bewundern gibt, aber der Randbezirk, den wir auf der Suche nach der Ausfallstraße nach Guelmim durchkreuzen, zeigt ein anderes Bild auf: Aufgerissene Straßen, umher fliegender Müll, stinkende Abwässer, die in stehenden Pfützen langsam dick werden und rumgammelnde Menschen mit teilnahmslosen Gesichtern, die diesen Dreck ertragen ... selbst die Palmenallee am Ortseingang passt sich mit ihren vertrockneten Wedeln der morbiden Stimmung an. Lediglich der Dorfsheriff, der direkt an der ersten braunen Palme mit seiner Radarpistole hantiert, sieht wie geleckt aus und macht mit seiner gepflegten Erscheinung einen etwas anachronistischen Eindruck. Glücklicherweise sind die Palmstämme so mickrig, dass Deckung für ihn nicht möglich und er somit weithin sichtbar ist ...
Vielleicht tun wir der Stadt ja Unrecht, aber sie hat beim Näherkommen - wie gestern schon Mirleft - nichts, aber auch gar nichts, was in irgendeiner Weise unsere Neugier geweckt hätte. Man braucht doch schon an der Ortseinfahrt ein Zückerchen, das einem bedeutet: "Kommt näher und schaut mich an, ich habe eine hübsche Altstadt, eine Superaussicht auf´s Meer und Wahnsinns-Sonnenuntergänge - es lohnt sich!" Nichts von alledem, beide Dörfer machen auf uns den Eindruck von abgehalfterten Küstenorten, die nur noch von der glorreichen Vergangenheit zehren, und die Erinnerung daran wird blasser und blasser. Aber wie eingangs gesagt, es ist eine sehr subjektive Einschätzung!
Es geht Richtung Guelmim: Die Straße wedelt durch über und über mit Opuntien bewachsene Hügel, es ist ein müheloses Fahren ohne große Aufregung. Kaum Verkehr, knalliges Wetter, das Meer verschwindet und es wird direkt ein wenig wärmer. Wir stellen fest, dass wir erstmal genug vom Wasser haben und endlich Sand fressen wollen. Wir sind jetzt bereit für die Wüste, wenn es auch zunächst nur Stein und Geröll ist, was uns erwartet, garniert vielleicht mit ein paar Celsiusgraden mehr, damit das Feeling stimmt.
"Feeling" ... es ist wichtig, das richtige Gefühl zu haben - für die Landschaft, die man gerade durchquert, für eine Besichtigung, die gerade ansteht, für einen Übernachtungsplatz, den man jeden Tag auf´s Neue auswählt, und auch für die eigenen Bedürfnisse und Stimmungen, damit die Tagesabläufe spannend und interessant ausgefüllt werden können. Und es ist Marokkos Verdienst, dass es mit seiner abwechslungsreichen Geografie möglich macht, je nach Feeling seine Route anpassen zu können, um der veränderten Gefühlswelt des Reisenden zu entsprechen.
Du willst Wüste? Hast du einen Allradler, fahr an der Küste weiter zum Plage Blanche und von dort am Nordufer des Oued Drâa bis Tan-Tan. Hast du einen Camper, fahr lieber auf Asphalt nach Guelmim und von dort auf der N1 Richtung Westsahara. Vielleicht gibt´s einen Staubsturm und dann hast du auch das Gefühl von Wüste und Sand überall. Ok, so machen wir es!
Wenige Kilometer vor Guelmims Stadttor ist der Abzweig zum Fort Bou Jerif ausgeschildert. Ich erinnere mich, dass das mal ein Traumziel von uns in einer Zeit war, als nur unsägliche Pisten dorthin und weiter zum Plage Blanche führten. Damit war dieses Offroadcamp für uns mit unseren normalen Fahrzeugen unerreichbar. Heute hat sich unser Fahrzeug in puncto Geländegängigkeit zwar nicht verbessert, wohl aber der Straßenbelag, so dass es jetzt ohne größere Peinlichkeiten möglich sein dürfte, dorthin zu gelangen.
Es ist lediglich die falsche Tageszeit, denn für die Nachtlagersuche steht die Sonne noch viel zu hoch und wir sind zudem zu sehr gespannt darauf, was uns südlich von Guelmim erwartet. Das FBJ muss also weiter auf uns warten, zumal ich nicht sicher bin, ob der eigentliche Reiz des Camps - die Abgeschiedenheit - nicht durch den Straßenneubau perdu ist?! Man wird sehen - warten wir die Rückfahrt ab, dann gibt´s die nächste Chance für eine Einkehr!
Guelmim ist schon eine richtige Wüstenstadt: Flach kauert sie am Südhang des Antiatlas, dessen Gebirgsstrang sich ab hier nach Nordosten langsam aufwirft. Interessanterweise ist die vorherrschende Farbe der Häuser Guelmims das gleiche Rotbraun wie das der Berge im Hintergrund, und da keine mehrstöckigen Gebäude oder ähnliches in den Himmel ragen, wirkt die Stadt wie eine übergroße Lehmkasbah, die völlig von der Landschaft absorbiert wird. Einziger Fingerzeig auf diese gar nicht mal so kleine "Ansiedlung" sind die arabischen Schriftzeichen oberhalb im Berghang, die Allah und dem Volk und dem König huldigen.
Marokkanisches, urbanes Leben pulsiert hier, die Stadt "atmet" quasi Wüste, völlig anders als in Agadir, das wie die anderen vom Tourismus geprägten Städte Nordmarokkos aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Beim Durchfahren wird man komplett in Besitz genommen von der Natürlichkeit dieser Stadt, sie hat einen ganz eigenwilligen Reiz, für den man aber auch empfänglich sein muss, um ihn zu erleben. Wir sind es sofort und total, und als wir uns aufgrund der spärlichen Beschilderung verfahren und ich es lediglich am Sonnenstand registriere, denken wir nur: macht nichts, fahren wir halt noch ein wenig umher und genießen die Geschäftigkeit einer afrikanischen Stadt. Sehr aufregend, sehr quirlig, sehr authentisch!
Als wir den südlichen Ausgang finden und der Blick auf das schnurgerade Asphaltband in die Ferne geht, ahnen wir schon, dass Guelmim seinen Reiz aus der Tatsache zieht, letzter großer Vorposten vor der Eintönigkeit der Westsahara zu sein. Wie muss diese Stadt den Kamelkarawanen der letzten Jahrhunderte erschienen sein, wenn sie mit ihrer Handelsware nach wochenlangem Ritt hier eintrafen? Wahrscheinlich als Märchen aus 1001 Nacht. Als in den Rückspiegeln nur noch die weiße Schrift im Berg zu erkennen ist und endlich die 50 km/h-Beschränkung aufgehoben ist, können wir das Gefühl dieser Karawanen beinahe greifen, als sie nach getätigten Geschäften wieder in die Wüste zurück ritten und sich für Tage und Wochen auf die Kraft ihrer Transporttiere verlassen mussten.
Unser "Transporttier" namens Renault rappelt mit aktiviertem Tempomat und festgebundenem Lenkrad vor sich hin, denn die Straße ist zwar schnurgerade und eben, aber auch deutlich buckliger als bisher - die Westsahara lässt grüßen. Und wie ein Kameltreiber sein Tier pflegt, weil es seine Lebensversicherung in der Wüste ist, so denke ich nichtstuenderweise hinter dem Lenker auch darüber nach, ob man vielleicht auch noch alle Flüssigkeitsstände hätte überprüfen sollen ... Master, mach ab jetzt bloß nicht schlapp, wir alle brauchen dich!
Etwas fällt auf: Jetzt in dieser ausgeprägten SW-Richtung, wo sich die Kompassrose kaum bewegt, und man auch genug Zeit hat, über dieses und jenes zu sinnieren und das gedanklich aufzuarbeiten, was einen tagelang an Eindrücken und Erlebnissen beschäftigt hat -, jetzt also in dieser gleichförmigen Fortbewegung nach Südwesten fällt mir dieses alle Farben vernichtende Licht von vorn auf, das mich trotz Sonnenbrille permanent mit verkniffenem Gesichtsausdruck blinzeln lässt. Seit Tagen bewegen wir uns in die Sonne hinein, und durch die Frontscheibe mit ihren zerplatzten Insekten und Käfern in sämtlichen Ampelfarben gibt´s nur monochrome Bilder. Ich erinnere mich an das Paradise Valley mit seinen warmen, satten Farben, und jetzt weiß ich, warum wir diesen Abstecher Richtung Ost als so angenehm empfanden.
Einsamkeit dokumentiert sich am drastischsten durch Leben! Scheinbar ein Widerspruch, aber der Kontrast verdeutlicht die Extreme - überall auf der Welt, und somit auch hier. Man fährt zwanzig, dreißig Kilometer durch die Eintönigkeit, kein Schwanz ist zu sehen, dann plötzlich erscheint wie eine Fata Morgana ein gepflügter Acker mit irgendeiner aufgehenden Saat querab der Straße, mittendrin ein gebückter Alter mit Hacke, der sein Feld bestellt, und danach wieder zwanzig, dreißig Kilometer nichts mehr als nackte Landschaft. Da frage ich mich immer, wie kommt dieser arme Mensch hierher, was macht er um Gottes Willen allein auf dem Riesenfeld und wer vergisst ihn abends abzuholen? Der Ausdruck "Hartes Brot" trifft´s auch nur ansatzweise, und fast kommt man sich schäbig vor, wenn man - die eisgekühlte Cola in der Hand - lässig zurückgelehnt vorbei gleitet. Andererseits ist der arme Alte hinter der nächsten Kurve schon wieder Vergangenheit, und es beschäftigt einen eher die Frage, ob man jetzt zu einem Apfel oder einem Müsliriegel greifen soll?!
Tan-Tan ist die nächste größere Stadt, und auf dem Weg dahin passiert also nicht viel. Links begleitet uns ab Guelmim eine Überland-Hochspannungsleitung, ab und zu führt die Trasse durch ein paar verfallene Häuser hindurch, die in respektvollem Abstand von der Straße vor sich hinmodern. Durch halb versandete und über Kreuz liegende Bordsteine kann man noch die Zufahrten und längst eingegangene Palmenrabatten erahnen, und ich vermute, dass es sich hierbei um aufgegebene Relaisstationen handelt, die mit der Übernahme des Westsahara-Gebietes und dem damit verbundenen Ausbau der N1 ihren eigentlichen Sinn und Zweck verloren haben - Brunnen, Unterkunft, Restaurant und Tankstelle ...
Jetzt präsentieren sich diese Häuseransammlungen als völlig heruntergekommene Ruinen, mit Parolen beschmiert und verwitterten Plakaten beklebt, eingeschmissenen Fenstern und mehrfach mit Plastikplane umwickelten Zapfsäulen. Verrostete Pumpengehäuse, windschief hängende Fensterläden, Dreck und Abfall überall, verbeulte Blechtonnen mit wer weiß was für umweltschädigendem Zeug, das im Lauf der Jahrzehnte wohl in den Boden gesickert ist. Im schnellen Vorbeifahren bleibt dieser Anblick stroboskopartig nur als Momentaufnahme haften, aber alles erinnert überdeutlich an diese Bilder aus Filmen, in denen die Welt nach einem Atomschlag dargestellt wird. Schauderhaft! Keine zehn Kamele würden mich dazu bringen, an diesen unheimlichen Orten vielleicht eine Pinkelpause einzulegen, ich hätte mordsmäßig Schiss davor, dass hinter einer Mauer so ein degenerierter Zombie hervorgewackelt kommt, der alles irgendwie überlebt hat ...
Trotz allem: Es ist eine Hauptverkehrsader, diese N1, und sie ist der Tropf der Westsahara, der alles dort unten am Leben hält. Demzufolge ist der LKW-Verkehr immens, und die Dinger preschen auf freier Strecke da lang, dass es nicht mehr feierlich ist. Der Luftstau und anschließende Sog knallt uns jedesmal in die Seite, da man aufgrund der schmalen Straße doch relativ nah passiert wird, und die dadurch bedingte Kurbelei am Lenker, um die Fuhre auf Kurs zu halten, erfordert absolute Konzentration. Das ist das Vertrackte an der Fahrerei hier, man könnte eigentlich ziemlich relaxt cruisen, muss aber dann in solchen Momenten hellwach sein. Dass das nicht immer und jedem gelingt, bezeugen die vielen verrosteten Wracks neben der Trasse, die die Landschaft auch noch die nächsten Jahrzehnte zieren werden. Denn eins ist sicher: hier wächst kein Gras drüber!
Abwechslung bietet das Drâa Tal. 40 km/h-Beschränkung deutet auf ein Oued hin, das per Brücke überquert werden kann. Im Gegensatz zu früher, wo Betonfurten das Passieren eines Oueds vor allem nach Regengüssen zum Lotteriespiel werden ließen, kann man bei den Brücken von heute davon ausgehen, dass einen keine böse Überraschung erwartet - es sei denn, es kommt ganz dicke. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen ist, dass die Gendarmerie ihre Kontrollen gerne auf diesen Brücken oder kurz davor bzw. dahinter postiert. Man bekommt einen ziemlich dicken Kloß im Magen, wenn man unbekümmert mit etwa 80 km/h die letzte Kurve vorm Fluss nimmt und dann unversehens vor dem Polizeiposten in die Eisen steigen muss. Die Drâabrücke ist glücklicherweise recht lang, so dass der Posten schon von weitem zu sehen ist und man sich angemessen nähern kann ...
Ein freundliches "Woher-Wohin", ein Rudel kläffender Fleischerhunde, die sich in unserer Stoßstange festbeißen - ich erwäge kurz einen kräftigen Tritt auf die Bremse - und schon geht´s weiter. Das Flusstal ist relativ grün und saftig und steht in sattem Kontrast zu den erodierten Bergen ringsum; sogar Wasser führt der Drâa hier. Eigentlich wäre ich gern ausgestiegen um ein paar Fotos zu machen, aber der Bulle immer noch auf Sichtweite und die belfernden Köter ermuntern nicht gerade dazu.
Durch die plötzliche Hektik der Kontrolle haben wir auch den Pisteneinstieg zum Offroad-Camp Ksar Tafnidilt oberhalb des Drâa verpasst, von dem ich im Reiseführer gelesen habe. Wir hatten morgens bei der Tagesplanung erwogen, einen Abstecher mit eventueller Übernachtung dorthin zu machen, weil sich die Beschreibung recht gut anhört. Es hätte jetzt auch von der Zeit her gepasst, und während ich mit einer Mischung aus Ärger, Wankelmut und Gleichgültigkeit noch überlege, wie wichtig uns der Abstecher ist und ob man wirklich was verpasst, fahre ich solange weiter Richtung Tan-Tan, bis es sich dann nicht mehr lohnt, wieder umzudrehen ...
Das ist ein ganz typische Situation für uns, die sehr oft passiert, wo vor allem ich als Fahrer das Für und Wider so lange abwäge, bis die Entscheidung durch andere Einflüsse fällt und ich dann nur noch "Gut-Ok" sagen muss. Ich habe, so glaube ich, schon einmal angedeutet, dass ich ein Fan von Bauchentscheidungen bin. Meiner Meinung nach ist der Kopf in den Fällen nicht in der Lage, weise zu entscheiden, wo es mal nicht um Millimeter, ja/nein und schwarz/weiß geht. Alle Frauen dieser Erde sind uns Männern auf diesem Gebiet weit überlegen, und dieses Potential sollte man gerade in Afrika nicht ungenutzt lassen. Das ganze Leben ist vom Zufall bestimmt, davon bin ich zutiefst überzeugt, und es ist müßig, mit "hätte-wäre-wenn" zu argumentieren, man hat es sowieso nicht in der Hand. Wir konnten an diesem Tag noch nicht wissen, was uns am nächsten Morgen passierte, und dass wir letztendlich froh sein würden, dass wir uns gegen die Piste zum Ksar Tafnidilt entschieden hatten und gegen eine Übernachtung in der Bergeinsamkeit. Aber ich greife jetzt den Ereignissen vor ...
Rechts tauchen riesige weißsandige Dünenberge auf, die Landschaft wird gebirgiger und auch die Straße wird zwangsläufig kurviger. Auf manchen Teilstücken der Trasse hat man das Gefühl auf Panzerspuren zu fahren, alles scheppert und rappelt, dann plötzlich herrscht wieder Ruhe, weil man einen Kilometer renoviert hat. Oben auf der Passhöhe kann man wie ein Adler nach Mauretanien reinspähen, ein schönes Panorama tut sich da auf, allerdings mit der Gewissheit, dass - flöge man jetzt in dieser Richtung los - sich die Perspektive in den nächsten Tagen nicht grundlegend ändern würde. Das mittlerweile tiefstehende Gegenlicht nervt weiterhin, die Besiedlung nimmt langsam zu und die erste Etappe der Westsahara ist erreicht, als die Randbezirke von Tan-Tan schemenhaft auftauchen ...
Der nördliche Ortseingang von Tan-Tan wird von zwei künstlichen Kamelen verschönert, die sich links und rechts der Straße gegenüber stehen. Von unzähligen Bildern habe ich noch die alten "Pappwandkamele" in Erinnerung, die sich über der Straßenmitte geküsst haben. Meistens standen sie knöcheltief in kleinen Sandverwehungen, und ich hatte immer eine sehr wüstenhafte und exotische Vorstellung von dieser Stadt. Jetzt live vor Ort ist doch alles sehr unspektakulär: Man hat neue, dreidimensionale weiße Kamele gebaut, die leider keinen Bogen mehr über der Straße bilden - die alten waren in ihrer naiven Art einfach schöner und auch passender hier in Afrika. Alles Geschmackssache ...
Ein Foto muss natürlich trotzdem gemacht werden, und wir werden auch einige Bonbons und Kugelschreiber an die Hirtenkinder los, die von der nahe weidenden Ziegenherde angelaufen kommen. Eigentlich verstehe ich nicht, warum nicht alle Bälger Tan-Tan´s hier im Steppengras auf Touris lauern, die alle logischerweise die ollen Kamele knipsen wollen und dafür anhalten müssen - wir machen da ja keine Ausnahme. Mehrere hundert Kilometer weiter nördlich wäre das eine 1a-Touristenfalle mit 100%iger Bettelgarantie.
Tan-Tan selber erinnert in seiner Bauweise stark an Guelmim, nur das hier alles einen Tick einfacher ist, aber die Einwohner sind wohl auch ärmer und leiden mehr Mangel. Das Provisorium scheint hier die Regel zu sein, ob beim Auto, an den Gebäuden oder in den unzähligen kleinen Werkstätten längs der Durchfahrtsstraße. Ansonsten gibt die Stadt nicht viel her, wir erstehen mit kurzem Stopp einige dieser typischen kleinen Fladenbrote, und hinten geht´s wieder heraus, flankiert von der obligatorischen Polizeikontrolle. Nach einem leichten Anstieg gibt´s dann einen erstklassigen Blick zurück auf das Häusermeer, und jetzt mit der Sonne im Rücken sieht Tan-Tan sehr strukturiert und geometrisch aus - wie eine der gezeichneten römischen Siedlungen im Asterixheft. Auch hier herrscht wieder eine Farbe vor, nur das es jetzt die Grünpalette von Oliv bis Umbra ist, die alle Häuserfronten chamäleonartig in der Landschaft verschwinden lässt.
Als wir ein paar Kilometer weiter das Plateau überquert haben, reicht der Blick hinten runter bis zur Küste: Die Straße wie mit dem Lineal gezogen furcht die Ebene und mündet in El Ouatia, dem Badeort Tan-Tan´s und deshalb wohl auch früher Tan-Tan Plage genannt. Am Horizont liegt der Atlantik bleischwer im Gegenlicht, und die Sicht von hier oben ist so schauerlich-schön bis völlig "abgedreht", dass einem die Worte fehlen. Mehr als einmal denke ich: Wo sind wir hier bloß gelandet?! Soviel Panorama würde bei uns zuhause für ein ganzes Jahr reichen ..!
In El Ouatia sind wir schnell durch. Wir fahren im Zick-Zack alle Straßen einmal ab, entscheiden uns gegen den Womo-Parkplatz an der Strandpromenade (zu nahe am Ortskern und auch schon einige Hymer zuviel), und fahren durch ein dickes, hölzernes Tor auf ein eingefriedetes Gelände, das nach einem Camp aussieht. Die Residence Nejma de Rif scheint noch relativ neu zu sein, man bastelt noch hier und da ein wenig herum, aber der Patron kommt gelaufen und heißt uns willkommen. Wir stellen uns an die Mauer zum Meer, die Sonne versinkt direkt vor uns hinter dem Strand, und wenn man das merkwürdige Environment - eine Mischung aus Schutthalde, Abrissviertel und missratenem Straßenbau - einmal außer acht lässt, ist´s hier gar nicht mal so schlecht. Der Patron erlaubt uns das Befeuern unseres Grills, wir bekommen Strom und auch der Atlantik ist milde gestimmt und bläst nicht so stark, dass das Auto wackelt. Und wieder denke ich - eine kalte Dose Bier schlürfend - wo sind wir hier bloß gelandet ..?
© 2007 Detlef Bauer