Planung und Anreise
Unsere Weihnachtsreise steht unter der Prämisse: kurz, intensiv und bezahlbar. Kurz, weil wir nur 18 Tage Zeit haben. Intensiv, weil wir uns nur zwei Schwerpunkte gesetzt haben (Erg Chebbi und Tafraoute). Bezahlbar, weil unser Urlaubsbudget begrenzt ist und solch eine Reise nicht an ausufernden Kosten scheitern sollte. Im Übrigen benutzen wir dasselbe Gefährt wie schon auf unserer Tunesientour, und auch die Zusammensetzung der Familie ist identisch - nur haben alle mittlerweile ein wenig mehr Laufleistung auf dem Zähler (was sich aber nur bei den Kiddies positiv bemerkbar macht).
Und warum Marokko? Es hat etwas mit Abenteuerlust und Entdeckergeist zu tun, mit einer Herausforderung, die über allem schwebt: Marokko biedert sich nicht an, es gibt sich nicht freiwillig preis, man muss es suchen, finden und für sich selbst erobern. Hat man die Tür aufgestoßen, dann öffnet sich ein Paradies, das einen mit ein wenig Phantasie in die Zeit des Alten Testaments zurückversetzt, einer Welt, wie man sie nur noch aus Filmen kennt.
Ist man das erste Mal in Marokko, wird man die Route entlang der Hauptattraktionen des Landes legen, und daraus folgt in aller Regel: Anreise über Ceuta oder Melilla - Fès - Erg Chebbi - Todraschlucht - Ouarzazate - Drâatal - Marrakech - Ouzoud-Wasserfälle - dann wieder Richtung Norden zur Heimreise. Da dieses pralle Programm zwangsläufig nur stichprobenartig abgearbeitet werden kann, wird man beim nächsten Mal (und es gibt garantiert ein nächstes Mal, dafür sorgt schon das Marokko-Virus, mit dem man sich 100%ig infiziert!) Schwerpunkte setzen, um die grandiose Landschaft nicht nur im Zeitraffer durch die Autoscheibe zu erleben.
So war also unser Ziel, ein paar Tage mehr als vor einigen Jahren am großen Sandkasten des Tafilalet, dem Erg Chebbi, zu verbringen, dann südlich des Djebel Sarho Richtung Südwest vorzustoßen und der Gegend um Tafraoute im Antiatlas einen zweiten Besuch abzustatten. Die Rückfahrt sollte an der Atlantikküste erfolgen, um auf gut ausgebautem Straßennetz Tempo machen zu können.
Vor alldem stand aber der Transfer nach Südspanien unter Nutzung möglichst mautfreier Straßen. Natürlich kann, wer will, auf einer Mittelmeerfähre ab Südfrankreich einchecken (Sète-Tanger). Aber erstens ist der Spaß mit vier Personen nicht billig, zweitens müssen sich vorsichtige Naturen um rechtzeitige Ticketreservierung kümmern - ein zusätzliches Risiko, falls etwas dazwischenkommt oder es Verzögerungen gibt.
Und drittens ist der Spanientransit (und nur den kann man ja mit der Schiffsreise umgehen) nicht das Problem. Bis auf die kostenpflichtige Autopista bei San Sebastián und Burgos ist der Rest vierspurig und gratis: Madrid - Granada - Málaga - Algeciras. Nur die Umgehung von Marbella kostet noch mal, aber das dann auch heftig.
In Frankreich sieht es dann schon schwieriger aus, weil die meisten Nationalstraßen sternförmig auf den Großraum Paris zulaufen. Da wir diesen aus stau- und richtungstechnischen Gründen vermeiden, muss zwangsläufig ein Weg "querfeldein" gefunden werden, der auch nachts mit rotgeränderten Augen noch fahrbar ist und nicht an jeder Scheune vorbeiführt.
Hier ein Beispiel für einen Frankreich-Parcours, wenn man aus der Region Mittelrhein in Deutschland startet: Luxemburg (günstig tanken) - Metz - Nancy - St. Dizier - Troyes - Sens (Maut A5/A19) - Vierzon (Nebensträßchen teils schnurgerade durch die Wälder) - A20 bis Limoges (kostenlos) - Angoulême - Bordeaux - Bayonne (Maut A63). Wie gesagt: Alles in allem ein Kompromiss zwischen wenig Autobahnstrecken und trotzdem gutem Vorankommen. Man muss es halt ausprobieren ...
Algeciras - Tanger
Das alles führt uns letztendlich vierspurig in den neu gestalteten Hafenterminal von Algeciras, wo wir relativ unkompliziert ein Rückfahrticket (Open Date für die Rückfahrt) nach Ceuta kaufen. Das hat den Vorteil, dass die Hatz auf der Heimreise nicht wieder losgeht, und es ist zudem etwas günstiger als ein Einzelticket. Meine Fragen werden recht nett und ausführlich vom marokkanischen Ticketverkäufer beantwortet, und er legte auch diverse Ein- und Ausreisefiches mit bei (sehr praktisch: Mit dem Wedeln derselben kann man an der Grenze den überaus "beflissenen" Helfern eine lange Nase machen). Mein Eindruck ist: Wenn ich jetzt noch etwas unsicherer aus der Wäsche gucke, füllt er mir die Fiches glatt noch aus. Alles sehr zuvorkommend und freundlich, man ist wirklich überrascht, wenn man die "Dragas" in Ancona am Griechenland-Schalter kennt und mal erlebt hat, wie nörgelig und missmutig manche dort ihren Dienst versehen!
Irgendwo ist uns die Zeit davongelaufen, denn als der Katamaran mit Gischt und Gebrüll die weite Bucht von Algeciras verlässt und auf den Monte Hacho, das Gegenstück zum Gibraltar-Felsen, zudampft, steht die Sonne nur noch fingerbreit über dem Horizont. Das ist das Unschöne an dieser Jahreszeit, die Tage sind einfach zu kurz. Nach einer dreiviertel Stunde schmeißt uns der Käpt´n von Bord, wir kurven durch die Enklave, tanken steuerfreien Sprit randvoll und landen an der Grenze.
Eineinhalb Stunden bis wir durch sind, das geht noch. Ab und zu ist man gezwungen, den Ellbogen auszufahren, man muss schon um die vordersten Plätze an der blinden Scheibe der Zollbude kämpfen. Mal brüllt mir eine dunkle Gestalt von schräg hinten Unverständliches ins Ohr und schiebt einen ganzen Packen Pässe auf einmal an mir vorbei, mal zanken sich zwei Verschleierte unter heftigstem arabischen Gekeife direkt vor mir, und der dabei entstehende Körperkontakt ist eher mir unangenehm. Höhepunkt dieser Veranstaltung ist - wenn man es denn bis ganz vorn geschafft hat - der Schalterbeamte, welcher die hereinbrechende Dunkelheit mit einer Glühbirne parieren will, die offensichtlich durchgebrannt ist. Frage mich heute bloß keiner, wie lang die Ersatzbeschaffung dauert, während unsere Pässe unbearbeitet auf dem Tresen schmoren ... Das ist Afrika - Allah wird´s schon richten!
Ich möchte mich hier auch nicht weiter in Detailbeschreibungen zum Thema "Grenzübertritt nach Afrika" auslassen, man muss es einfach als eine unvermeidliche Episode der Reise ansehen und den Rest Allah überlassen; diesbezüglich sind uns die Einheimischen allerdings weit voraus. Einiges mehr darüber habe ich bereits in unserer Tunesien-Reise 2005 beschrieben ...
Die neu in das Küstengebirge geschlagene Straße nach Tanger bringt uns zügig dorthin, im abendlichen Verkehrschaos folgen wir der spärlichen Beschilderung zum Cap Spartel und übernachten dort auf Camp Achakar mit Wiesengelände und jungen Bäumchen. Wir sind die Einzigen hier, keine Menschenseele weit und breit und die Vorfreude auf eine Gratis-Übernachtung ist nicht unbegründet. 15°C nachts, leicht bewölkt, wir sind müde - gute Nacht, John-Boy ...
Tanger - Source Bleu de Meski
Leider hat uns der Master morgens doch noch abgefangen und seinen Obolus kassiert - natürlich schwarz am Staat vorbei direkt in seine Hosentasche. Es geht los, Richtung Südwest, Nebelschwaden und dann auch Nieselregen begleiten uns, und selbst als wir bei Larache die Küstenlinie verlassen, folgt uns die feuchte atlantische Suppe in die Meseta hinein. Es ist ein gespenstisches Bild, wenn Hunderte von Fuhrwerken mit vorgespannten Kühen und Eseln die Märkte verlassen und durch völlig vom Regen zermatschte Straßenränder nach Hause ächzen. Die Alten, sofern sie sich nicht auf den Karren befinden, latschen ebenso durch den knöcheltiefen Maddel, und die Frage, wie sie bei derartiger Witterung ihre Sachen trocknen, bleibt offen ...
Unsere Urlaubslaune schwindet zunehmend, es ist keine Änderung der Wetterlage erkennbar, und diese grauen Menschen mit grauen Tieren in grauer Landschaft haben so gar nichts mit dem Marokko gemein, wie wir es kennen. Triste norddeutsche Marschen-Ödnis. Dann geht es aus der Sebou-Ebene hinauf, es wird hügelig und die Straße steigt an. Plötzlich Sonne, gleißendes Licht zeigt uns eine Landschaft in warmen Erdtönen und einen weißen Wattebausch unten in der Flussebene. Und siehe da, nichts ist mehr grau: sattgrün die Obstplantagen, sienna die schwere Erde auf den Weinhügeln, ocker die Berghänge seitlich der Straße, karmin die Hausfassaden, und Türen und Fensterläden in den grellbuntesten Farben, die die Palette hergibt. Das alles überspannt vom knallblauen Himmel mit fedrigen Zirren, unter uns ein sahnig-glatter Asphalt und im Kassettenschacht extatischer Rai - vergessen ist der Vormittag, wir sind in unserem Marokko angekommen ..!
Ziel des Tages ist das Campment Zerhoune Belle Vue kurz vor Meknes. Auf einer leichten Anhöhe mit weitem Blick gelegen, ist es eigentlich ein Herrenhaus inmitten eines kleinen andalusischen Gartens, mit Plätscherbrunnen und Steinlöwen, Piscine und Gesindetrakt, Terrasse und Tealounge. Zwischen den Gebäuden überall Apfelsinenbäumchen, deren Blüten im Frühjahr in den Bogengängen und den Sälen verstreut werden und das ganze Anwesen mit einer wahren Duftorgie verzaubern. Herrschaftlich sind auch die Eukalyptusbäume, deren Kronen sich schützend über dieses Kleinod ausbreiten, als wollten sie es vor dem steten Verfall bewahren.
Es glückt nicht so ganz, denn im Detail betrachtet macht das Gemäuer doch einen eher morbiden Eindruck. Der Glanz einer vergangenen Zeit verblasst so langsam, und es fehlen wohl auch die nötigen Mittel, um die Pracht wieder herzustellen. Aber man vergisst alle Vergänglichkeit, wenn man auf der Aussichtsterrasse den vom jungen Verwalter kredenzten Tee schlürft, versonnen in die Ebene blickt und die Sonne in rasantem Tiefflug wieder einmal viel zu früh den Tag beendet. Die Farbe weicht aus der Landschaft und das Thermometer fällt auf 6°C - stimmt, wir haben Winter und es ist der 22. Dezember, man vergisst es hier nur allzu leicht ...
Abends werden wir dann noch im Salle à Manger mit einer Tajine verwöhnt, und der im Kolonialstil eingerichtete Saal lässt uns wie Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann fühlen - nur dass die keine (Film)kinder hatten, die einen mit ihrem Generve ruckzuck wieder in die Wirklichkeit holen, bevor uns allzu große Verklärtheit die Sicht auf die Gegenwart vernebelt. Aber: Es lohnt sich, hier zu verweilen - ein schönes, ruhiges und nachdenkliches Stück Erde, das wir immer wieder aufsuchen würden.
Am nächsten Morgen geht´s weiter über den Mittleren Atlas Richtung Er´Rachidia. Er ist die Wetterscheide zwischen dem atlantischen Klima nordwestlich davon und dem Wüstenklima auf seiner Südostseite. Klima und Flora sind am Col du Zad bei etwa 2.100 Metern Höhe ü. NN sehr scharf abgegrenzt, und in umgekehrter Richtung passierte es uns auf einer früheren Reise, dass wir im T-Shirt bei knapp 20°C den Pass hochfuhren, oben in den Schnee kamen und im dicken Pullover bei 5°C zur Küste weiterfuhren ...
Schnee liegt auch jetzt auf den Hochplateaus zwischen den Gebirgszügen, die wir kreuzen, aber alles garniert mit herrlichstem Sonnenschein und lauem Lüftchen. Allerdings sind die Anstiege vor allem hinter Azrou nicht zu unterschätzen, und wer bei plötzlich einsetzendem Schneefall keine Ketten dabei hat, muss auf die nächste Schneekatze warten. Die Landschaft hat etwas Himalayamäßiges mit ihren weißen Placken überall, und es hätte uns nicht verwundert, wenn ein paar Jurten aufgetaucht wären und ziehende Yaks die Straße kreuzten. Möglicherweise ist es auch der hohe UV-Anteil der glasklaren Luft, der eine wesentlich höhere Gebirgsquerung vortäuscht. Wie auch immer, die klare Sicht ermöglicht Ausblicke in eine Landschaft, die in ihrer gestaffelten Weite fast einem gemalten Panorama gleicht oder einem computeranimierten Hintergrund in einem dieser tricktechnischen Filmwunder - fast surrealistisch.
Wir machen Pause kurz vor der Passhöhe des Col du Zad, am Aguelmame des Sidi Ali, einem Kratersee, der später im Jahr garantiert eine gute Sommerfrische abgibt. Völlige Windstille, 10°C immer noch und dicker, weißer Schnee - die Kiddies toben sich aus und uns tränen die Augen im scharfen Licht. Erst eine Gruppe spanischer Geländewagen mit ihren völlig aufgekratzten Besatzungen zerstören das Idyll, und so geht´s weiter in langen Kurven "hinunter in die Wüste".
Grandios geht es weiter: Das Ziz-Tal mit seinen Palmengürteln mäandert kilometerlang durch die stark erodierten Berge, und das felsenrot-palmengrün-himmelsblau hinter den Autoscheiben lässt sich nicht in Worte fassen. Man fährt und fährt, die gewundene Straße führt automatisch an den schönsten Aussichtspunkten vorbei, und steigt man zum Fotografieren aus, braucht man sich nur in der Runde zu drehen und "Dauerfeuer" zu geben. Der Weg ist das Ziel - selten trifft der Satz so zu wie hier. Da kann man dann auch getrost den Tunnel der Legionäre links liegen lassen, zumal er sich mittlerweile als Tourifalle in der Art entwickelt hat, dass man ziemlich unverfroren angequatscht wird, sobald man nur ein Bein aus dem Auto streckt. Die Schlepper dort haben sich auf das Vortäuschen einer Autopanne "spezialisiert", aber so dilettantisch und dämlich, dass es kracht. Ich empfehle denen eine Crashkurs bei ihren Kollegen in Fès, die haben´s drauf ..!
© 2006 Detlef Bauer