3. Tag - Mont Chaberton (1. Versuch), westlich von Oulx und Rifugium Rey, östlich von Bardonecchia, Colle Sommeiller, Rifugium Scarfiotti
Für heute hatte ich mir den Mont Chaberton vorgenommen., der hier "der" Berg der Berge ist. Er beherrscht mit seinen auch von weitem gut erkennbaren Geschütztürmen und seiner stolzen Höhe von 3.136 m die ganze Gegend. Früher war der Berg auch mit zweispurigen Fahrzeugen befahrbar. Durch viele Verschüttungen wurde die Straße aber immer schmaler. Seit einigen Jahren ist sie nun offiziell gesperrt, da sie nicht mehr unterhalten wird und die Befahrung zu gefährlich wurde. Der Mont Chaberton war lange Jahre der höchste anfahrbare Punkt in den Alpen. Von seinen Verehrern wird er auch liebevoll "Chabbi" oder "Monte Schabernack" genannt. Ich hatte schlecht geschlafen - der Chaberton geisterte mir im Kopf herum.
Hinter Fenils kommt man zu der kleinen Ortschaft Pra Claud, die nur aus wenigen Häusern besteht. Hier beginnt die eigentliche Auffahrt, aber die Schranke war geschlossen. Ein alter Mann, der im letzten Haus wohnt, machte mir die Auffahrt nicht sehr schmackhaft. Einige Wortfetzen wie Carabinieri und Lira und das typische Fingerreiben für "sehr viele Lira" waren eindeutig.
Natürlich war ich enttäuscht, es nicht probieren zu können - obwohl die Schranke eigentlich nicht verschlossen war. Sollte ich etwas warten, bis der Mann weg war und dann schnell durch die Schranke ..? Mit solchen Gedanken beschäftigte ich mich schon - aber um ehrlich zu sein, allein hätte ich keine Chance gehabt, auf den Gipfel zu kommen. Das musste ich mir nämlich noch in dieser Woche eingestehen. Denn ich war später doch noch oben, wenn auch auf andere Art und an einem anderen Tag ...
Das Waldgebiet westlich von Oulx hatte ich mir noch vorgemerkt und das wurde nun ersatzweise angesteuert. Das Gebiet nannte ich spontan "Zauberwald". Auf einem einfachen Schotterweg kam mir eine ganze Gruppe Endurofahrer entgegen. Es handelte sich um einen Veranstalter aus Österreich, denn alle fuhren KTM - sie schauten mir ganz traurig nach, als ich einen steilen Waldweg bergauf abdrehte. Bei diesen Veranstaltungen muss man nämlich immer hintereinander her fahren und das sind dann nur die einfacheren Strecken.
Obwohl anfangs zahlreiche Schranken die Einfahrt versperrten, muss man nur etwas suchen, bis man den richtigen (und legalen) Einstieg findet und dann hat man eine einzige große Motocrossstrecke vor sich. Überall steile Waldwege und Fahrspuren. An einigen gespannten Schnüren konnte man sehen, dass hier vor kurzem ein Motocrosswettbewerb stattgefunden haben musste. Ich tobte mich aus ...
Vorbei am Rifugium Rey über Beaulard ging es dann nach Bardonecchia. Hier erforschte ich das östlich davon gelegene Gebiet und fuhr sämtliche Straßen und Spuren ab, die irgendwie fahrbar waren. Einmal stand ich plötzlich auf der anderen Seite des Bergrutsches westlich von Forte Foens.
Ein andermal fuhr ich eine schmale Spur an einem steilen Berghang entlang: Als es absolut nicht mehr weiter ging, konnte ich nicht mehr umdrehen. Das Motorrad auf den Seitenständer gestellt und einfach um die eigene Achse gedreht funktionierte nicht, da das Hinterrad über dem Abgrund schwebte und das Vorderrad am Berghang anstieß.
Hier musste ich ein ziemliches Stück zurück schieben, was sich als arge Schinderei erwies. Eine andere Straße war ab der Alpe Betrix gesperrt. Vermutlich wäre die Weiterfahrt hier auch nicht so interessant gewesen, weil sie doch recht gut ausgebaut war. Wundern kann man sich, wie es bei dieser Alpe ausschaute: Ein solcher Verhau, Dreck und Schlamm ringsum, mit Müll und alten Gerümpel, ist man nicht gewohnt. Aber diese Art von "Ordnung" kann man hier häufig sehen. Auch bei der Alb Belvedere war kein Weiterkommen ...
An einer Stelle zweigte eine Fahrspur ab, die ich ausprobieren musste und nach kurzer Fahrt befand ich mich mitten in dem Skigebiet zwischen Bardonecchia und Monte Jafferau. Nachdem die Auffahrt zum M. Jafferau unten mit Verbotsschild und Schranke gesperrt war, fand ich also hier einen (legalen?) Einstieg von der Seite her. Es machte Spaß, so in Richtung M. Jafferau die Skipiste heraufzudüsen, und das ohne Liftunterstützung. Ich war schon ein ganzes Stück die Piste hochgefahren und hatte den Gipfel in greifbarer Nähe, als sich plötzlich der Lift über mir in Bewegung setzte. Ich hörte Rufen und Klopfen und sah Männer, die am Lift arbeiteten. Hier kam nur ein sofortiger Rückzug in Frage. Wie einzig richtig diese Entscheidung war, stellte sich kurze Zeit später heraus ...
Etwa eine Stunde später traf ich auf drei andere Motorradfahrer: Einer von ihnen erzählte mir ganz aufgeregt etwas von einem "Wahnsinnigen" bei dem Skilift. Er berichtete, sie seien vom Mont Jafferau nach Westen abgefahren (was man eben nicht machen soll), dann ganz blauäugig bei den Arbeitern unter dem Lift stehen geblieben und hätten gefragt: "Do you speak English?" (was man in Italien auch nicht machen sollte). Worauf eben der "Wahnsinnige" ohne zu zögern zu einer Eisenstange griff und auf das Motorrad einschlug und dabei den Scheinwerfer zertrümmerte! Die Stimme zitterte ihm noch, als er das erzählte.
Um den Tag auszufüllen, bot sich noch die Auffahrt zum Colle Sommeiller an. Beim Rif. Scarfiotti genehmigte ich mir eine Brotzeit und fuhr anschließend zum Hochplateau auf 3.050 m. Ein Radfahrer auf einem Liegefahrrad mit Anhänger plagte sich auf der steilen Straße nach oben: Der Typ war sehr braungebrannt und vermutlich schon seit Jahren unterwegs. Ich wollte mit ihm ins Gespräch kommen, er gab mir aber keine Antwort. Oben am Colle genoss ich wieder einmal eine schöne Aussicht und es war dort trotz der großen Höhe nicht zu kalt. Auf der Rückfahrt kam ich erneut an dem Weltenbummler mit dem Liegefahrrad vorbei und diesmal konnte ich ihn nicht nur sehen, sondern auch deutlich riechen ... Was der wohl am Abend auf dem Berg noch wollte? Gemütlich fuhr ich zurück zu meinem Zeltplatz, kochte mir etwas und kroch in meinen Schlafsack.
4. Tag - Valle della Rhò, Caserma Piano dei Morti, Forte Bramafan, Punta Colomion, Passo della Mulattiera
In der Nacht hatte es geregnet. Dieser Tag sollte noch "Tag der Pannen" genannt werden: Als erstes musste das Frühstück in der Bar am Campingplatz ausfallen, weil kein Strom da war (Panne 1). Gemeinsam mit Rainer, einem Zeltnachbarn und Zimmerermeister aus dem Breisgau, machte ich mich auf den Weg. Als erstes wollten wir auf den Colle délla Rhò, der nordwestlich von Bardonecchia liegt. Die Auffahrt war recht knackig: Rainer, der mit seiner Husqvarna vorausfuhr, kam plötzlich zum Stehen, das Hinterrad hatte sich eingegraben, was wohl auch an seinem nicht ganz optimalen Reifen lag.
Er winkte mir von oben, es ebenfalls zu versuchen: Mit entsprechendem Schwung kam ich an dieser Stelle gut vorbei und konnte noch ein gutes Stück weiter bergauf fahren. Aber irgend wie war der Schotter ungewöhnlich locker und tief. Das Hinterrad wühlte sich den Berg hinauf. Die groben Geländereifen waren optimal für diesen Untergrund. Immer weiter fahrend suchte ich aber bereits nach einer passenden Wendestelle, da mir inzwischen nicht nur das Ross, sondern auch der Reiter leid taten. Als eine passende Stelle gefunden war, drehte ich den Gasgriff zu und stand auf der Stelle. Rainer musste es irgendwie geschafft haben, sein Bike wieder zum Fahren zu bringen und er wühlte sich ebenfalls den Berg herauf. Ein Stück unter mir fuhr er sich erneut fest und wir beendeten die Auffahrt auf dieser Piste (Panne 2), obwohl das Ziel greifbar nahe war.
Der nächste Anlauf zum Colle Rhò erfolgte auf der nördlichen Seite vom Valle della Rhò aus. Hier führte uns ein recht passables Sträßchen direkt bis zur Caserma Piano dei Morti. Auf der Rückfahrt sahen wir auf der anderen Talseite vier Endurofahrer, die sich den gleichen Weg hoch quälten, wie wir kurz vorher - nur konnten wir es von unserem Standplatz aus beobachten, wie im Theater von den besseren Logenplätzen.
Einer versuchte es vier Mal, blieb aber jedes Mal an der gleichen Stelle hängen. Große Genugtuung überkam uns, als sie endlich ebenfalls aufgaben und zurück fuhren. Natürlich stimmte die IGC-Karte Nr. 1 wieder einmal nicht, denn die nördliche Strecke ist nur als Wanderweg eingezeichnet, aber leicht fahrbar (auch für 2-spurige Fahrzeuge), und bei der südlichen Strecke ist es genau umgekehrt ...
Nach dem Tanken und Essen in Bardonecchia wollten wir das Forte Bramafan direkt südlich von Bardonecchia besichtigen. Das Fort war aber geschlossen. Plötzlich gab es einen Knall - die Spiegelreflexkamera von Rainer lag auf dem Boden. Sie war genau auf das Objektiv gefallen (Panne 3).
Ich bedauerte ihn noch, als er fragte, ob das Ventil von meinem Hinterreifen schon immer so schräg gestanden hätte. Da hatte sich doch bei der Wühlerei heute Vormittag der Reifen verschoben und das Ventil drohte nun abzureißen (Panne 4).
Bevor es zum Abriss kam, wurde jedoch schnell das Hinterrad ausgebaut und der Reifen nachgerückt. Wir wollten gerade weiter fahren, als Rainer meinte, der hintere Blinker sei abgebrochen - er hing herunter und begann am heißen Auspuff langsam dahin zu schmelzen (Panne 5). Mit Kabelbinder und Klebestreifen wurde er wieder angehängt ...
Es ging unverdrossen weiter Richtung Punta Colomion (2.054 m) und Passo della Mulattiera (2.412 m). Bei einer Weggabelung merkte ich, dass ich meine Landkarte verloren hatte (Panne 6). Nur gut, dass Rainer beim letzten Tankstop auch eine Karte gekauft hatte. Die Strecke hatte im unteren Teil herrliche Anlieger (ausgefahrene, überhöhte Kurven), die mit viel Tempo genommen werden konnten.
Im obersten Teil der Strecke wurde die Piste immer schmaler: Für Allrad war schon lange Schluss, weil zu schmal. Im Denzel-Alpenstraßenführer steht, dass der Passo delle Mulattiera mit keinem motorisierten Fahrzeug mehr anfahrbar sei. Aber hier irrt der Denzel! An einigen Abrutschungen war die Fahrspur dann auch nur noch postkartenbreit, und das bei sehr steilem Berghang. Man musste das Bein bis auf Tankhöhe anheben und dabei stand die Fußraste am Hang an und klappte nach hinten weg.
Auf der anderen Seite ging es ein paar hundert Meter genauso steil bergab. Nur nicht hingucken, denn man fährt (oder fällt) immer da hin, wo man hinschaut! Während Rainer eine weitere etwas heikle Stelle mit Mut und Kraft allein schaffte, traf ich in eine tiefe Rinne, aus der wir mein Motorrad nur mit vereinten Kräften wieder heraus brachten (Panne 7). Als es draußen war, fiel uns ein, dass wir eigentlich ein Foto hätten machen können und ob wir nicht alles wiederholen sollten. Aber Vernunft und Bequemlichkeit siegten.
Das alte Kasernengebäude am Passo della Mulattiera wird im Erdgeschoss von Kühen bewohnt, die aus dem flacheren Skigebiet im Westen herauf kommen. Als wir die Aussicht genossen, fiel plötzlich mein Motorrad durch einen Windstoß um und es verbog sich der Handbremshebel (Panne 8). Man hätte auch über das Skigebiet abfahren können, ich wollte aber meine verlorene Karte suchen, die natürlich nicht mehr zu finden war ...
© 2002 Hans-Jürgen Weise