1. Tag - Monte Jafferau, Forte Pramand, Forte Foens, Forte Jafferau
Inzwischen war es Samstag Nachmittag. Das Motorrad war schnell abgeladen, das Zelt blitzschnell aufgebaut und ich wollte mich voller Vorfreude rasch umziehen, um die erste Erkundungsfahrt zu unternehmen. Doch in diesem Moment erschrak ich sehr - wo waren die Protektoren? Das Protektorenhemd hing frisch gewaschen zuhause im Keller! Ohne Protektoren (Schutz für den Oberkörper bei eventuellen Stürzen an Ellenbogen, Schulter, Rücken usw.) war ich aufgeschmissen. Aber wo bekommt man hier so etwas passendes so schnell her? Es war aussichtslos: Enttäuscht von meiner Vergesslichkeit setzte ich mich ängstlich auf mein Motorrad und drehte die ersten übervorsichtigen Runden.
Die erste Tour ging zum Monte Jafferau (2.801 m). Die Abzweigung von der Hauptstraße liegt etwa auf halbem Weg zwischen Salbertrand und Exilles. Zunächst fährt man am Fort Fenils vorbei und dann in Richtung Pramand ...
Ich fuhr äußerst langsam wegen der fehlenden Schutzbekleidung. Plötzlich kam mir ein Mountainbikefahrer mit einem irren Tempo auf der falschen Straßenseite - also auf meiner rechten Seite - entgegen. Ich überlegte noch blitzschnell, ob ich auf die andere Seite wechseln solle. Ließ das aber bleiben, denn wenn er ebenfalls die Seite wechseln sollte, wären wir hier zusammengekracht und ich wäre Schuld gewesen. Also blieb ich einfach auf der äußersten rechten Straßenseite stehen. Auf dem lockeren Untergrund konnte er nicht mehr bremsen: Mit verzerrtem Gesicht raste dieser Lebensmüde an mir vorbei. Dabei kippte ich das Motorrad noch stark zur Seite und wir berührten uns nur leicht am Arm. Zwischen meinem Motorrad und dem Abgrund waren gerade noch 20 cm, die er mit unverminderten Tempo zielgenau ansteuerte.
Neben diesem schmalen Streifen ging es mindestens 100 m sehr steil abwärts. Sein Partner, der mit Abstand nachkam, schüttelte den Kopf und machte eine Scheibenwischerbewegung über seinen Freund. Der Vorfall zeigte mir, dass man auf diesen Straßen wirklich vorsichtig fahren muss. Wichtig ist vor allem für Zweiradfahrer, dass man seinen fahrbaren Untersatz auf jedem Untergrund und zu jeder Zeit sicher zum Stehen bringen können muss.
Kurz nach dem Fort Pramand trifft man auf das in Deutschland gefürchtete runde Zeichen mit rotem Rand (Verbot für Fahrzeuge aller Art, Zeichen-Nr. 250). Aber das hat in Italien nicht die gleiche Bedeutung - hier versteht man darunter "Befahrung auf eigene Gefahr". Das Zusatzschild darunter ließ diese günstige Auslegung auch bei nur mäßigen Italienischkenntnissen ohne weiteres zu. Recht nett ist ein langer Tunnel, den man in Hufeisenform in den Berg getrieben hat, nachdem die Straße an dieser Stelle durch mehrere Bergrutsche ständig beschädigt wurde. Der Tunnel ist schmal und schön unheimlich, besonders wenn man mittendrin einmal den Motor abstellt und das Licht ausmacht .
Bald kommt man zu einer Abzweigung: Fährt man links, kommt man zum Forte Foens. Alle Fortes kann man erkunden, nur beim Befahren mit dem Motorrad auf den obersten Decken war ich etwas vorsichtig - irgendwie traute ich dem alten Beton doch nicht so. Am Forte Foens geht die Piste weiter und man kommt an einen Bergrutsch und der Weg ist verschüttet. Zu zweit oder dritt könnte man diese Stelle mit Schieben und Sichern meistern, aber allein kam das nicht in Frage. Hier besteht erhöhte Absturzgefahr. Insgesamt ist die Straße auf den Monte Jafferau leicht zu fahren und man kommt auch ohne Allrad hoch - die Italiener machen es mit ihren kleinen Fiats vor. Direkt unter dem Forte Jafferau sind die letzten Meter nur von einspurigen Fahrzeugen fahrbar ...
Am höchsten Punkt angekommen, dem Forte Jafferau, wollte ich die tolle Umgebung direkt fotografieren. Durch die späte Tageszeit war das Licht allerdings nicht so optimal und es gab schon lange Schatten. Ein Grund nochmals herzukommen - denn so ein toller Berg will fotografiert sein!
2. Tag - Forte di Exilles, Lago del Moncenisio, Fort Variselle, C. du Mont Cenis, Fort de la Turra, Forte Jafferau (2. Versuch)
Die Nacht war kalt, aber trocken. Frühstück in der Bar direkt am Campingplatz mit Cappuccino und frisch aufgebackenen Croissants - köstlich. Als erstes wurden aus alten Fußmatten aus dem Auto ein paar Protektoren zurecht geschnitten, womit ich die Endurojacke ausstopfte. Das musste als Schutz vor Verletzungen ausreichen. Bei der heutigen Tour hatte ich zu berücksichtigen, dass es Sonntag war und die Italiener gern mit ihren Autos und auch zu Fuß die kleinen Bergstraßen bevölkern.
Vorbei an dem mächtigen Forte di Exilles (die westliche Rampe des Forte nahm ich mit viel Schwung - oben muss man aber aufpassen, dass man nicht in den Burggraben stürzt!) und über Susa ging es in Richtung Lago del Moncenisio. Vor der Staumauer hielt ich mich links und fuhr zuerst einmal zum Forte Variselle. Über die löchrige Zugbrücke bewegt man sich mit gemischten Gefühlen: Man tut gut daran, eine kräftige Taschenlampe mitzunehmen, wenn man in diesen alten Gemäuern auf Entdeckungstour geht. Auch bei diesem Fort waren plötzlich tiefe Löcher im Boden, die offensichtlich von ehemaligen Geschützen oder anderen Einrichtungen stammen, welche aus dem Boden gerissen wurden. Das ist nicht ungefährlich - besonders, wenn sich die Augen noch nicht an das spärliche Licht gewöhnt haben.
Die IGC-Karte ist hier aus völlig unerklärlichen Gründen sehr ungenau, denn oberhalb des Forte Variselle ist nochmals ein großes Fort, die Zufahrt ist allerdings mit einem deutlichen Hinweisschild gesperrt. Man ist hier in Frankreich und da ist es grundsätzlich verboten, unbefestigte Straßen innerhalb von Naturschutzgebieten zu befahren. Es standen jedoch jede Menge PKW´s und Allradfahrzeuge davor: An dieses Verbot hielt sich sonst kein Mensch - ich war wohl der einzige ...
Die Auffahrt zum Forte del Malamot war ebenfalls als Naturschutzgebiet ausgewiesen und zusätzlich mit einer Schranke gesperrt. Weiter ging es auf der südlich des Sees gelegenen, unbefestigten Straße nach Westen. Die Auffahrt zum Fort de Pattacreuse war ebenfalls gesperrt und ich wurde langsam ungeduldig.
Auf der Straße rund um den See war richtig was los, es war schließlich Sonntag: Als ich auf die westlich des Sees gelegene Straße traf, die ins Fallon de Savine sowie zum Col de Clapier führt, waren derart viele Autos, Wanderer, Radfahrer, Fußgänger (was fehlt noch?) unterwegs, dass ich nach Norden abdrehte zum Col du Mont Cenis. Kurz danach, direkt bei einer Käserei, geht links ein Sträßchen ab, das zum Fort de la Turra führt. Die Auffahrt ist unspektakulär, aber lohnend.
Um das Fort herum sind überall noch Eisenstangen und verrosteter Stacheldraht vorhanden. Eine ausgiebige Erforschung des Inneren und der langen Gänge wurde von einer zu schwachen Taschenlampe vereitelt - ohne ordentliches Licht ist das etwas riskant. Von hier hat man einen grandiosen Ausblick auf das Massif de las Vanoise mit seinen Gletschern und den Parc National de las Vanoise sowie auf den Lago del Moncenisio auf der anderen Seite.
Ein Schild zum Pas de la Beccia machte mich neugierig. Der Weg dahin begann zweispurig und hoffnungsvoll, also nichts wie hinauf! Doch dann wurde er immer schmaler und schon bald sah sich mein Vorwärtsdrang von einem Felssturz gebremst: Auf dem Weg lagen große Felsbrocken, die nicht zu meistern waren.
Eigentlich wollte ich noch nördlich des Lago del Moncenisio zum Fort Ronce - aber es hätte mich gewundert, wenn die Auffahrt nicht ebenfalls gesperrt gewesen wäre. Kein Mensch schien sich aber um diese Sperrung zu scheren, wie man aus den vielen Autospuren erkennen konnte. Ich hatte aber keine Lust, meine Urlaubskasse unnötig zu strapazieren, denn man weiß nie, wie die französischen Gendarmen gerade aufgelegt sind - man hört da nicht viel gutes von ihnen!
Frustriert von den vielen Sperrungen in diesem Gebiet, dachte ich, dass vielleicht die Auffahrt zum Forte del Malamot von der italienischen Seite her möglich sein könnte. Gleich nördlich der Ortschaft Bar Cenisio zweigt eine kleine Straße ab. Bei den Häusern Gr. d´Arpon kann man links und rechts fahren: Fährt man rechts, verlieren sich die Spuren bzw. sie sind so zugewachsen, dass ich wieder umdrehte. Der nächste Anlauf galt dem linken Weg. Um den L. d´Arpon herum und anschließend zum L. d´Roteler - bisher keine Sperrtafeln.
Ich freute mich aber zu früh, dass der Weg zum Forte del Malamot offen sein könnte. Denn nach dem L. de Roteler führte die alte Straße stur nördlich, obwohl die Auffahrt eigentlich schon bald westlich verlaufen musste. Trotzdem fuhr ich weiter, denn diese alte Straße war recht nett zu fahren - und stand plötzlich wieder auf dem Wendeplatz südlich vom Fort Variselle. Da war also diese soeben befahrene Straße in der IGC-Karte überhaupt nicht eingezeichnet! Ein Geländewagenfahrer erzählte mir, dass er die verbotene Straße zum Fort de Pattacreuse ein Stück hoch gefahren war und über eine Querverbindung ebenfalls hier angekommen sei. Auch diese Strecke war nicht in der IGC-Karte enthalten. Toll - was denken sich diese Kartenmacher eigentlich dabei? Nun ist das mit einem Motorfahrzeug ja alles schnell fahrbar, aber wenn man zu Fuß unterwegs ist, das Wetter umschlagen sollte und man dann auf dem falschen Weg ist - schließlich liegt alles um die 2000 m hoch ..!
Bei der Rückfahrt suchte ich sorgfältig jeden Meter nach der in der Karte eingezeichneten Auffahrt zum Malamot ab - vergeblich! Ich nahm mir vor, die IGC- Karte Nr. 2 wegen arglistiger Täuschung zurück zu geben ...
Auf der Rückfahrt nahm ich ein spätes Mittagessen in der Kurve bei der Ortschaft Bar Cenisio zu mir und beobachtete dabei die vielen Motorradfahrer, die in unglaublicher Fahrweise diese Kurve nahmen: Die einen mit dem Knie am Boden, die anderen in Jeans, ohne Handschuhe und mit Nylonjäckchen. Ich wunderte mich, dass auf dieser kurvenreichen Straße nicht mehr passiert. Dass ich mich an diesem Tag zu früh gewundert hatte, konnte ich in diesem Moment noch nicht ahnen ...
Ich machte mich wieder auf den Weg hinunter Richtung Susa. Nach wenigen Kilometern kam ich zu einem Stau. Die Autofahrer liefen herum: Hier konnte es sich nur um einen Unfall handeln. Vorsichtig fuhr ich an dem Stau entlang und sah plötzlich mehrere Motorräder und Motorradfahrer auf der Straße herumliegen. Vor lauter herumstehenden und gestikulierenden Menschen konnte ich aber auf den ersten Blick das ganze Ausmaß des Unfalls gar nicht erkennen - aber es mussten mehrere Motorräder am Unfall beteiligt gewesen sein.
Und hier machte ich eine meiner schmerzlichsten Erfahrungen, nämlich die "nicht helfen zu können"! Nicht, dass ich nicht wüsste, was zu tun ist - nein, im Gegenteil! Wie ich es gelernt hatte, wollte ich mich um den ersten Verunglückten kümmern. Er lag ziemlich unüblich und verkrümmt auf der Straße. Bereits bei dem Versuch einer Überprüfung der Vitalfunktionen (Bewusstsein, Atemkontrolle, Puls) wurde ich von den herumstehenden Italienern daran gehindert! Bereits das Ausziehen der Handschuhe oder das Öffnen der Jacke, um an den Puls zu gelangen, wurde offenbar als versuchter Straßenraub missgedeutet. Offenbar war man der Meinung, ich wollte mich der Uhr oder der Brieftasche des Verunglückten bemächtigen und man hinderte mich schließlich nach kurzer Zeit daran, hier tätig zu werden. Einige tapfere Männer hielten mich fest und führten mich vom Verunglückten weg. Ich war verzweifelt, weil ich mich nicht verständlich machen konnte: Es sprach niemand Deutsch und ich kein Italienisch.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als mehrfach mit erhobenen Händen ein "io scuso" zu murmeln, um einen einigermaßen anständigen und vor allem "verletzungsfreien" Abgang zu erhalten! Aber was lernt man aus so einem Vorfall? Sollte ich im Ausland wieder zu einem Unfall kommen, und es stehen schon viele Leute herum, dann werde ich mir vorher gut überlegen, ob es überhaupt sinnvoll ist, zu helfen. Die bereits herumstehenden Leute fühlen sich für einen Verletzten verantwortlich - auch wenn sie gar nichts tun! Wenn eine Verständigung nicht möglich sein sollte, dann dürfte es besser sein, das gleiche zu tun wie alle anderen auch - nämlich gar nichts! Ich schäme mich heute schon dafür!
Auf der Rückfahrt steuerte ich nochmals das Forte Jafferau an, um die dringend benötigten Fotos zu schießen, allerdings war das Licht nun noch ungünstiger als am Vortag. Die Abfahrt auf der Westseite über das Skigebiet nach Bardonecchia hätte mich sehr gereizt. Fahrtechnisch wäre es kein Problem gewesen, aber die Beschilderung hielt mich davon ab. Wie richtig es war, hier nicht herunter zu fahren, sollte sich am nächsten Tag noch zeigen ...
© 2002 Hans-Jürgen Weise