Zu den Stammesgebieten im Osten
Unser nächstes und eigentliches Ziel sind die Stammesgebiete weiter im Osten: Der Weg dorthin dauert wegen der desolaten Straßen mehrere Tage, entschädigt werden wir durch schöne Landschaft unterwegs. Da die Querstraßen im Gebirge nahezu unpassierbar sind, müssen wir Arunachal wieder verlassen und reisen erneut nach Assam ein, um wenig später Richtung Itanagar wieder zurück nach Arunachal zu fahren.
Die Stämme Arunachals unterscheiden sich durch Architektur der Häuser, Sprache und Gebräuche - also so ziemlich in allen Belangen. Unser Guide Michi ist selbst Stammesmitglied, konkret von den Apatani. Er hat dadurch leichter Zugang zu den Dörfern und Häusern, ist aber zur Verständigung mit Mitgliedern der anderen Stämme auf Hindi oder Englisch angewiesen.
Gleich im ersten Dorf, in Ziro, besuchen wir seine Familie: Wir werden freundlich aufgenommen, sitzen auf den traditionell niedrigen Hockern und werden mit dem üblichen Reisbier, das von Ort zu Ort etwas unterschiedlich schmeckt und verschieden stark ist, bewirtet - dazu gibt es über dem offenen Feuer getrocknetes bzw. geräuchertes Fleisch.
Inmitten des fensterlosen Holzhauses brennt fast immer ein kleines offenes Feuer oder zumindest wird die Glut zum sofortigen Anfachen gehütet. Die Wärme des Feuers bzw. der Rauch haben gleich mehrfache Vorteile: Lebensmittel werden so getrocknet und geräuchert und der durch das Palmdach abziehende Rauch vertreibt Ungeziefer und konserviert die Holzkonstruktion.
Die Häuser werden hauptsächlich aus Bambus errichtet, stehen auf Stelzen, der Raum darunter ist Lagerraum und Stall für die Schweine zugleich. Beim Hausbau haben die Eigentümer für Baumaterial zu sorgen, der Bau selbst erfolgt durch das ganze Dorf, jeder hilft jedem und in zwei bis drei Tagen steht das Haus.
Dass wir unsere Reisezeit gut gewählt haben, sehen wir bereits am ersten Abend in den Stammesgebieten - die Vorbereitungen auf das Myoko Fest laufen auf vollen Touren. Am nächsten Tag heißt es vor Tagesanbruch raus aus den harten Betten, da die Zeremonien schon im Morgengrauen beginnen ...
Schon von weitem hören wir die Schweine, die als Opfertiere vorgesehen sind, quieken: An lange Bambusstangen gebunden, liegen sie um einen Altar im Ortszentrum und werden von einem Schamanen den Geistern geweiht. Die Stämme in Arunachal Pradesh leben in der animistisch-schamanistischen Tradition, d.h., ihr Leben wird von Geistern bestimmt - zum Zeichen ihres Glaubens stehen vor den Häusern Fahnen mit dem Symbol der Sonne auf langen Bambusstangen.
Das Fest wird auch von vielen ehemaligen Dorfbewohnern, die ihre Heimat in Richtung der größeren Städte außerhalb Arunachals verlassen haben, dazu genutzt, ihre Familien wieder zu besuchen - so herrscht reges Treiben. Es fällt auf, dass Jüngere nicht mehr so in den Traditionen leben wie die Älteren. Das beginnt bei der Kleidung und fällt bei den Nasenpflöcken der älteren Frauen besonders auf. Ebenso sind Gesichtstätowierungen nur mehr bei älteren Frauen und Männern zu sehen.
Neben den am Boden liegenden Schweinen hängen auch ein paar gefesselte Hühner in Bäumen herum und warten auf ihr Schicksal. Ein kleiner Hund sitzt unbeteiligt daneben - erst später erfahren wir, dass auch er als Opfer auserwählt wurde. Die Frauen des Dorfes bestäuben die Opfertiere mit Reismehl und beträufeln sie noch mit ein paar Löffeln Reiswein, was von den Schweinen mit lautem Quieken beantwortet wird.
Nach einem, wie uns scheint, sich endlos wiederholenden Sermon des Schamanen, werden die Schweine dann zu den Häusern der jeweiligen Spender getragen, dort wird dann die eigentliche Opferzeremonie vollzogen. Jeder Teil der Zeremonie bedarf eines speziellen Schamanen. Die Opferung selbst ist für einen Europäer schon etwas gewöhnungsbedürftig: Mit einem extrem scharfen Bambusskalpell öffnet der Opferschamane den gefesselten und noch lebenden Schweinen unterhalb der Rippen mit einem kleinen Schnitt die Bauchdecke - was von den Schweinen natürlich mit markerschütternden Schreien quittiert wird. Durch den Schnitt greift der Schamane dann in den Bauchraum, sucht das Herz des Tieres und reißt es mit einem Ruck aus dem Bauchraum.
Das geht bei kleineren Tieren relativ rasch, größere Tiere haben weniger Glück - da es offenbar nicht so leicht ist, die Aorta mit den Fingern abzutrennen, dauert es oft einige Minuten, bis das Herz endlich zum Vorschein kommt. Das wird dann in einen eigens dafür vorgesehenen Korb gelegt, wo es nach einiger Zeit zu schlagen aufhört. Es gibt kaum Touristen in der Gegend, und wenn, dann eher Berufsfotografen und Ethnographen. Eine französische Fotografin wird etwas bleich um die Nase und verlässt das Haus ...
Im nächsten Schritt wird von einem weiteren Schamanen die Leber des mittlerweile toten Tieres entnommen und daraus die Zukunft gelesen - im konkreten Fall erweist sie sich - wie die Leber - als durchaus rosig. Das Schwein selbst wird dann von den Hausleuten zerlegt, an die Dorfgemeinschaft verteilt und sofort gekocht.
Das Fest dauert mehrere Tage, die Zeremonien unterscheiden sich innerhalb eines Stammes von Dorf zu Dorf nur geringfügig. Michi stellt uns seinem Clan-Chef vor, der als äußeres Zeichnen seiner Funktion eine rote Jacke trägt und innerhalb des Clans absolute Entscheidungsmacht besitzt, aber auch nach außen Vertreter des Clans ist und mit offiziellen Stellen der Regierung verhandelt.
Von Ziro aus reisen wir weiter durch die Miri-Hills über Daporijo und Along Richtung Osten, lernen die Änderung von Architektur, Tracht und Lebensgewohnheiten von Stamm zu Stamm kennen - unterwegs treffen wir auf die Stämme der Mari, Adi-Gallong, Padam und Pasi. Der Ablauf der Feste, die Formen der Opferung von Tieren etc. ändern sich von Stamm zu Stamm, die animistisch-schamanistische Tradition bleibt. Ich verzichte an dieser Stelle auf die detaillierte Beschreibungen weiterer Opfermethoden, die Kreativität der Stämme hinsichtlich der Methode, Opfertiere ins Jenseits zu befördern, übersteigt im Allgemeinen die Fantasie von uns Europäern ...
Es gibt für uns nie ein Problem, an den Zeremonien teilzunehmen oder zu fotografieren. Es ist eher so, dass wir das viele Reisbier, zu dem wir eingeladen werden, gar nicht trinken können. Stets werden wir in den kleinen Dörfern freundlich aufgenommen, oft zieht der Herr des Hauses (ja, den gibt es dort noch), seine Festtagstracht für uns an. Gerne lässt man sich fotografieren, man ist stolz auf den Umstand, dass Fremde die weite Reise auf sich nehmen, um ihre Welt, in der noch bis zu vier Generationen unter einem Dach leben, zu besuchen.
© 2014 Reinhard Temmel