"Web Mercator": Ein Blick hinter die Kartendienste im Web
... über den Krieg in der Kartografie
Wann immer wir Karten im Web benutzen, sei es Google Maps, Microsoft Bing Maps, Yahoo Maps, OpenStreetMap, ArcGIS Online, ESRI oder ähnliches, ist uns nicht bewusst, welche kartografische Revolution sich hinter diesen Karten verbirgt und dass der Krieg der "wahren" Kartografen gegen die Web-Kartografen noch nicht beendet ist.
In der zweiten Hälfte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts kamen die ersten interaktiven digitalen Karten für Endnutzer auf den Markt. Wir erinnern uns vielleicht noch an Microsoft Streets '98 oder MapQuest, das man auf seinem PC lokal nutzen konnte.
Diese Karten basierten auf keinem Standard und wer damit arbeitete, mal vergrößerte, mal verkleinerte oder den Ausschnitt bewegte, sah erstaunliche Effekte in den Grafiken. Die Darstellungen wurden gedreht, gestaucht, gedehnt und alles war mit viel CPU-Last verbunden. Abhängig vom anzuzeigenden Kartenbereich und Maßstab wurde die Projektion schon mal gewechselt, dazu kamen noch Seiteneffekte in der Darstellung von Vektorgrafiken.
Das waren keine Lösungen für die Zukunft, vor allem nicht, wenn man weg vom lokalen PC und hinein in Web wollte.
Man benötigte für die Darstellung von Karten eine universell nutzbare Projektion, mit überschaubarem Rechenaufwand und der Möglichkeit, Karten in Kacheln aufzuteilen, deren Übergang nahtlos möglich ist.
Als Lösung entwickelte sich Web Mercator: Der Ursprung des Web Mercators ist nicht mehr genau zurückzuverfolgen, fest steht aber, dass mit dem Start von Google Maps im Jahr 2005 auch alle anderen Anbieter wie Microsoft Bing Maps, Yahoo Maps, OpenStreetMap u.a. auch Web Mercator nutzen und dies somit zum Standard avancierte.
Doch, was macht den Web Mercator aus? Schauen wir auf die Grundlagen:
Dreh- und Angelpunkt ist der Lösungsversuch des Problems, Punkte auf einem dreidimensionalen Körper - hier unsere Erde - auf ein zweidimensionales Medium - eine Karte - abzubilden.
Dazu wurden in den vergangenen Jahrhunderten Projektionen entwickelt, wie wir in einem anderen Artikel bereits detailliert erläutert haben. Projiziert wurden unterschiedlichste Ellipsoiden mit verschiedensten Parametern. Es entwickelten sich sogenannte Referenzsysteme.
Koordinaten in einer Karte kann man folglich nur wirklich interpretieren, wenn das Referenzsystem mit Projektion bekannt ist.
Das derzeit verbreitetste globale Referenzsystem heißt WGS84. Zugrunde gelegt ist ein Ellipsoid, der praktischerweise auch WGS84 heißt.
WGS84 ist das Standardreferenzsystem für die GPS-Navigation. Das Problem ist nur: Alle Berechnungen von Koordinaten und deren Abbildung in Karten müssen für einen Ellipsoiden durchgeführt werden und das ist sehr aufwändig für den Menschen, aber eben auch sehr aufwändig für die Maschine und somit teuer für die Web-Kartenanbieter. Das kann man auch ohne tiefe mathematische Kenntnisse leicht erkennen:
Immerhin ist der Ellipsoid WGS84 fast eine Kugel. Hätte man eine Kugel von 10 m Durchmesser, müsste man sie oben und unten nur um 3 cm "abschleifen", um einen Ellipsoiden à la WGS84 zu erhalten.
So kamen die Web-Kartenanbieter auf die Idee, WGS84 mit zylindrischer Mercator Projektion so zu behandeln, als ob eine Kugel projiziert wird (ellipsoide Projektion versus sphärische Projektion) - der Web Mercator, auch sphärischer Mercator oder Pseudo-Mercator genannt, ward geboren.
Der Sündenfall der Web-Kartenanbieter bestand aus Sicht der "wahren" Kartografen nun darin, dass die Koordinaten des WGS84 - basierend auf dem Ellipsoid - benutzt werden.
Diese Vereinfachungen wurde als Revolution gewertet - ein schweres Vergehen an der Mercator Projektion - und sie erklärten dem Web Mercator und ihren Anwendern den Krieg.
Damit solch ein Koordinatenreferenzsystem als offizieller Standard gilt, musste es einen sogenannten EPSG-Code erhalten (EPSG = European Petroleum Survey Group Geodesy).
Der erste Antrag wurde von der EPSG abgewiesen mit dem Argument: Wir haben das von Microsoft, Google usw. verwendete Koordinatenreferenzsystem überprüft und glauben, dass es technisch fehlerhaft ist. Wir werden den EPSG-Datensatz nicht entwerten, indem wir eine solche unangemessene Geodäsie und Kartografie einbeziehen.
Aber die Entwickler von Programmierschnittstellen (APIs), die ja alle möglichen Koordinatenreferenzsysteme umsetzten, mussten das "Ding" benennen. Es entstanden verschiedenste Codes verschiedenster Herausgeber und die Verwirrung wurde immer größer. Letztendlich wurde der Web Mercator dann als EPSG:900913 bezeichnet, ein Code, den die EPSG nie vergeben hat.
Mitte 2008 nahm sich die EPSG dann doch der Sache an und vergab den Code EPSG:3785. Leider passierte hierbei ein Fehler, denn auch die EPSG war verwirrt von der Mischung der projizierten Kugel für die Anzeige mit dem projizierten Ellipsoiden für die Koordinaten und trug als Referenz-Ellipsoiden für die Koordinaten die Kugel ein, was aber falsch ist. In der Spezifikation von Koordinatenreferenzsystemen bei der EPSG ist es nicht vorgesehen, dass für Koordinaten und deren Projektion verschiedene Ellipsoiden verwendet werden.
Einige Monate später wurde schließlich korrigiert durch EPSG:3857, was nun der offizielle Code für Web Mercator ist.
Die Berechnungen auf Basis einer projizierten Kugel sind nun deutlich einfacher und schneller, besonders wenn man an das Zoomen (Vergrößern/Verkleinern) oder an das Panning (Verschieben) denkt. Zwar ist der Web Mercator nicht ganz so winkeltreu wie der klassische Mercator, aber bei kleinen Kartenausschnitten macht sich das kaum bemerkbar und ist für Karten im Alltagsleben akzeptabel. Zusätzlich hat man den Vorteil, dass Norden stets oben ist - bei anderen Projektionen nicht immer gegeben.
Der Bedarf an Kartenmaterial für die Pole wird als gering eingestuft und so ist die Anwendbarkeit des Web Mercators auf den Breitengradbereich von 85,06° Nord bis 85,06° Süd eingeschränkt.
Die NGA (National Geospatial-Intelligence Agency) der USA warnte im Jahr 2014 vor der Verwendung von Web Mercator und lehnt den Einsatz für alle ihre Produkte und Dienste ab.
Die Verzerrung Web Mercator zu WGS84 mit zylindrischem Mercator betrifft nur die Breitengrade, die Längengrade sind identisch. Der Unterschied wird an den beiden Karten deutlich:
WGS84 Raster 15° x 15° (Quelle: ESRI) |
Web Mercator Raster 15° x 15° (Quelle: ESRI) |
Die Nord-Süd-Verzerrung in der Projektion führt zu einem Fehler von bis zu 43 km. Am Beispiel von Großbritannien hat dies die NGA eindrucksvoll dokumentiert:
Aber es wurde bei all der Kritik übersehen, dass es sich hier um zwei Welten handelt: Zum einen die Welt der "Anzeige" und zum anderen die der "Navigation". Der Web Mercator kommt zunächst nur in der Welt der "Anzeige" zum Einsatz, also bei der Visualisierung, wo seine Eigenschaften eben nicht stören, sondern eher vorteilhaft sind. In der Welt der "Navigation", d.h. bei der Verwendung von Koordinaten (z.B. gem. WGS84) machen sich die Abweichungen dagegen dann bemerkbar, wenn die Anzeige der Karte nicht der Umgebungsrealität angepasst wird. Dies geschieht dadurch, dass die WGS84-Koordinaten rechnerisch zu Web Mercator konvertiert werden.
Die Kritik ist somit auch ein Warnhinweis, dass Web Mercator nur genutzt werden darf, wenn dem Anwender - hier Programmierer bzw. Web-Kartenanbieter - klar ist, dass bei der Visualisierung stets eine Anpassung von WGS84 nach Web Mercator erfolgen muss.
Hier haben wir die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Koordinatenreferenzsysteme dargestellt:
WGS84 | Web Mercator | |
Mapdatum | WGS84 | WGS84 |
Referenzellipsoid Projektion für Anzeige |
WGS84 | Kugel mit Radius = 6378,137 km (Große Halbachse von WGS84) |
Referenzellipsoid Koordinaten |
WGS84 | WGS84 |
Projektion | Mercator zylindrisch | Mercator sphärisch |
Längengrade | gerade Linien | gerade Linien |
Breitengrade | gerade Linien | gerade Linien |
Loxodrome | gerade Linien | leicht gekrümmt |
Winkeltreue | ja | geringfügig verzerrt |
Norden immer oben | ja | ja |
Einheit | Grad | Meter |
Bereich | -180 bis 180 bzw. -90 bis 90 | -20037508.34 bis 20037508.34 |
EPSG-Code | EPSG:4326 | EPSG:3857 |
Auf Basis des Web Mercator Referenzsystems konnte nun die ganze Welt einfach eingeteilt werden in Kacheln mit einer Größe von 256 x 256 Pixel. Damit kann man Zoom und Panning einfach realisieren.
Jede Kachel wird für die nächste Zoom-Stufe wiederum in 4 Kacheln à 256 x 256 Pixel aufgeteilt, die dann mehr Details enthält (siehe Bild unten). Je mehr Zoom-Stufen ein Web-Kartenanbieter unterstützt, umso größer ist das Datenvolumen, dass er verwalten muss.
Solche "Kachelsätze" werden von verschiedensten Web-Kartenanbietern auf so genannten Tile-Servern teils kostenpflichtig, teils kostenlos bereitgestellt.
Kartennutzer zoomen gerne, um Details zu betrachten. Aber mit jeder Zoomstufe erhöht sich die Anzahl der
Pixel exponentiell.
Kann man also auf Stufe 1 noch mit 4 * 2562 = 262.144 Pixel die ganze Welt darstellen, benötigt man für Stufe 4 bereits 4 * (256 * 23)2 = 16.777.216 Pixel.
Da wir aber immer nur einen Ausschnitt der Karte betrachten, muss nicht stets die gesamte Weltkarte in der gewünschten Zoomstufe für den Nutzer bereitgestellt werden.
Werfen wir nun einen Blick auf den Maßstab bei den digitalen Karten: Haben wir eine handelsübliche Karte aus Papier vorliegen, so gilt für die gesamte Karte der gleiche Maßstab. Zunächst würde man bei digitalen Karten vielleicht erwarten, dass der Maßstab pro Zoom-Stufe immer gleich ist. Das ist aber bei Karten, die auf Mercator-Projektionen basieren, nicht der Fall und ist begründet in der zunehmenden Verzerrung vom Äquator zu den Polen.
Nehmen wir an, am Äquator haben wir folgenden Maßstab: 1 km = 1 Pixel, dann benötigen wir bei 60° Breite 2 Pixel, bei 70° Breite 3 Pixel, was ansteigt bis zu 11 Pixel bei 85° Breite.
Innerhalb einer Zoom-Stufe haben wir also einen gleitenden Maßstab vom Äquator zu den Polen.
Sehen kann man das, wenn man sich bei gleicher Zoom-Stufe die Details und die Maßstabsangabe von Singapur (äquatornah) und von Longyearbyen (polnah) ansieht.
Man sieht also, dass sich hinter den digitalen Karten im Web eine Menge Überlegungen, Technik, Tricks und Emotionen verbergen und wissen nun etwas mehr bei unserem nächsten Klick auf
© 2019 S. Zerlauth