Das Geisterschiff
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Allein die Erwähnung von irgend einem sogenannten "Geisterschiff" weckt für gewöhnlich Vorstellungen von sagenumwobenen Spukschiffen - so wie dem FLYING DUTCHMAN - oder aber von echten Wracks, die man irgendwo treibend und von der gesamten Mannschaft aus unerklärlichen Gründen verlassen vorfand - wie z.B. die MARY CELESTE.
Bei dem Fliegenden Holländer (Bild unten links) handelt es sich um eine Legende, um ein mystisches Gespenster-Segelschiff, das niemals einen Hafen erreichen kann. Berichte über angebliche Sichtungen aus den letzten Jahrhunderten behaupten, das Schiff glimmere in einem geisterhaften Licht. Abergläubische Seeleute fürchteten, dass die bloße Sichtung dieses Phantoms das böse Omen für ein drohendes Unheil sei ...
Die MARY CELESTE dagegen (Bild oben rechts) war ein Handelsschiff, das man im Jahr 1872 im Atlantik entdeckte: Ohne Besatzung und offenbar in großer Hast verlassen lief sie unter vollen Segeln mit Kurs auf die Straße von Gibraltar. Ein Rettungsboot und die kleine Besatzung des Schiffes wurden nie gefunden. Sie ließen alle persönlichen Gegenstände an Bord zurück und bis heute weiß niemand, warum sie ein vollkommen seetüchtiges Schiff verließen.
Ja, und dann gibt es da noch die SS BAYCHIMO ... und die fällt in eine ganz eigene Kategorie von "Geisterschiff".
Die BAYCHIMO war ein mittelgroßes, mit einem Stahlrumpf ausgestattetes Schiff, das im Jahr 1911 für ein deutsches Schifffahrtsunternehmen gebaut wurde. Man betrieb es zunächst als Küstendampfer. Der ursprüngliche Name des in Göteborg/Schweden gebauten Schiffs lautete ANGERMANELFVEN, es war 70 Meter lang, hatte 1.322 BRT und wurde von einer Dreifachexpansions-Dampfmaschine angetrieben, mit der es eine Höchstgeschwindigkeit von 10 Knoten (ca. 18 km/Std) erreichte.
Anfangs verrichtete das Schiff seinen Dienst auf den Handelsrouten zwischen Schweden und Hamburg in Deutschland. Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde es als Teil der deutschen Reparationsleistungen an die britische Regierung übergeben zum Ausgleich für während des Krieges erlittene Verluste an Schiffen.
Im Jahr 1921 wurde das Schiff schließlich von der berühmten Hudson Bay Company erworben. Umbenannt in BAYCHIMO wurde sie von Vancouver/Kanada aus eingesetzt, den neuen Namen vergab man zu Ehren von Bay Chimo, einer kleinen, an der Nordküste Kanadas gelegenen Gemeinde ...
Während des nächsten Jahrzehnts unternahm das Schiff neun erfolgreiche Reisen entlang der kanadischen Nordküste, wobei es dort zahlreiche Handelsposten besuchte. Seine Hauptaufgabe war die Abwicklung des Pelz- und Fellhandels mit den dortigen Inuits, den eingeborenen Eskimos, die an den Küsten des Arktischen Ozeans in Kanadas Nordwest-Territorien lebten ...
Für diese Aufgabe erfolgten auch Umbauten an dem umbenannten Schiff, die unter anderem eine "moderne" Funkausrüstung betrafen und zu einem ungewöhnlichen Antennenstrang zwischen den Masten und dem Schornstein des Schiffes führten. Die auf dem Bild oben rechts erkennbaren mehrfachen Ringe dienten zur Trennung der parallelen Kabelstränge in der ziemlich anfälligen Antennenkonstruktion.
Das Bild zeigt das Schiff angelegt in Vancouver, es führte in der Regel einen entsprechend großen Kabinenkreuzer auf dem Wetterdeck direkt vor der Brücke mit sich. Dieses Boot wurde für die Fahrten zu den Handelsposten benutzt, wenn das Schiff dort vor Anker gehen musste, weil die Buchten zu flach waren, um selbst sicher dorthin fahren zu können.
Zusätzlich verfügte das Schiff über ein größeres kastenförmiges und geheiztes Krähennest hoch an seinem Vormast. Von hier aus konnten die Crewmitglieder relativ komfortabel nach gefährlichem Packeis Ausschau halten, wenn das Schiff durch die eisigen Fluten des Arktischen Ozeans navigierte.
Man kann nur vermuten, dass die BAYCHIMO auch eine ganze Reihe farbiger Signalflaggen bei Annäherung an die Handelsposten aufzog (siehe oben), um den Inuits ein wenig Abwechslung in ihr ansonsten etwas eintöniges Leben zu bringen. Zusätzlich war das Schiff auch deshalb bei seinen Aufenthalten an den Handelsposten eine Attraktion, weil die Eingeborenen dabei Gelegenheit erhielten, an Bord zu kommen. Die beiden Bilder oben zeigen solche Bordbesuche in den 1920er Jahren.
Der Stahlrumpf der BAYCHIMO verfügte nur über eine sehr geringe Eisklasse, wie man heute die Eisfestigkeit von Schiffen bezeichnet, die in eisbedeckten Gewässern eingesetzt werden.
Ihre Struktur und auch das Antriebssystem konnten es in keiner Weise mit dem äußerst gefürchteten polaren Packeis aufnehmen, das ein unvorsichtiges Schiff einkreisen und anschließend zerquetschen konnte. Dennoch aber war die Besatzung häufig gezwungen, ihr Schiff solchen möglichen Gefahren auszusetzen, um die zugewiesenen Aufgaben erledigen zu können.
Ein Seemann (Bild links) schrieb über seine diesbezüglichen Erlebnisse an Bord des Handelsschiffes im Jahr 1927: " ... verloren in undurchdringlichen Nebelschwaden und in Untiefen festsitzend, von Eisbergen in die Ecke getrieben und gezwungen, unseren Kurs meilenweit zurückzuverfolgen, um vielleicht eine mehr versprechende Durchfahrt mit `offenem Wasser´ zu finden ..."
Die BAYCHIMO operierte unter solchen Bedingungen rund 10 Jahre lang erfolgreich. Aber schließlich im Jahr 1931 trieben gewaltige Schollen ungewöhnlich dicken arktischen Eises früher als in den letzten Jahrzehnten Richtung Süden. Am 01. Oktober 1931 geriet das Schiff deshalb prötzlich heraus aus offenem Wasser ... und das Schicksal schlug zu. Ein unerwarteter Sturm traf das Schiff bei seiner Rückreise nach Vancouver und trieb das Eis rund um das Schiff zusammen - es saß in der Falle.
Der nächste Hafen war Barrow in Alaska; allerdings nur erreichbar mit einem Flugzeug, das mit Kufen ausgestattet war. Der Skipper der BAYCHIMO, Captain John Cornwell und 29 weitere Crewmitglieder blieben zwei weitere Wochen an Bord in der Hoffnung, bei abklingenden Wetterproblemen das Schiff vielleicht wieder frei zu bekommen.
Ihr Schiff blieb allerdings weiter im Eis eingeschlossen, während der Rumpf unter unablässigem Druck ächzte. Aus Angst zuletzt noch zerdrückt zu werden, gab die Mannschaft ihr Schiff schließlich auf. Fünfzehn Mann wurden von einem improvisierten Landestreifen aus in Sicherheit geflogen, den die Crew auf dem Eis angelegt hatte.
Der Kapitän und die verbliebene Mannschaft errichteten ein notdürftiges Lager auf dem Eis ganz in der Nähe ihres gestrandeten Schiffs; sie hegten immer noch die Hoffnung, ihr Schiff bei besseren Wetterbedingungen wieder befreien zu können.
Sie blieben an dieser Stelle fast noch einen ganzen Monat lang, ihre einzige Abwechslung dabei waren die regelmäßig auftauchenden glanzvollen Nordlichter, die den Himmel wieder und wieder in lebhafte Farben tauchten.
Aber das ungewöhnliche Wetter, das die BAYCHIMO in die Falle hatte tappen lassen, hielt an: Am 24. November 1931 traf sie auch noch ein heftiger Blizzard, der alle Spuren ihres Schiffs verschwinden ließ ...
Am folgenden Morgen, nachdem das Wetter etwas aufgeklart hatte, war das Schiff schließlich vollständig verschwunden. In der Annahme, dass es im heftigen Sturm gesunken war, wurde nun auch die restliche Mannschaft aus dem Lager auf dem Luftweg evakuiert und kehrte in die Zivilisation zurück.
Danach, weniger als eine Woche später, erreichten jedoch Neuigkeiten den Kapitän: Ein Jäger hatte die BAYCHIMO wieder gesichtet, die nun bereits rund 80 km entfernt von der Stelle, wo man sie aufgegeben hatte, im Wasser trieb ...
Nachdem er einige Männer der Mannschaft zusammengerufen hatte, startete der Kapitän eine Suche nach seinem Schiff aus der Luft - und fand es schließlich auch. Nach der Landung auf einer geeigneten Eisscholle entdeckten sie, dass ihr Schiff während seiner unbemannten Exkursion etliche erhebliche Beschädigungen erlitten hatte. Da sie der Meinung waren, dass die BAYCHIMO nicht mehr länger seetüchtig sei und jeden Moment auseinanderbrechen und sinken könnte, lud die Crew noch eilig einen Teil der Ladung von Fellen aus und kehrten ans sichere Land zurück.
Normalerweise würde die Geschichte an dieser Stelle enden, die Hudson Bay Company ihren Verlust abschreiben und diesen bei der Versicherung nach Dokumentation des Schadens geltend machen. Immerhin hatten etliche andere Schiffe dasselbe Schicksal erlitten und waren in fast allen Fällen vom Eis zerquetscht worden und sanken, nachdem wärmeres Wetter die Zerstörung vollendet hatte.
Aber bei der BAYCHIMO lief alles anders: Statt zu sinken schien sie noch intakt zu sein und wurde viele Male gesichtet, während sie wieder und wieder während eines Zeitraums von 38 Jahren (!) nach ihrer ursprünglichen Aufgabe an jeweils Hunderten von Kilometern voneinander entfernten Stellen durch verschiedenste eisbedeckte Gebiete trieb. Alle diese Sichtungen führten dazu, dass man sie schließlich als das "Geisterschiff der Arktis" titulierte.
Im Jahr 1932 sichtete ein Forscher das Schiff in Küstennähe, als er mit einem Hundeschlitten von Herschel Island nach Alaska in das Yukon Territorium unterwegs war. Im folgenden Jahr suchten einige Eskimos, die bei Sturm auf das Eis geraten waren, eine Woche lang Schutz in der BAYCHIMO bis sich das Wetter besserte und sie sich wieder auf den Weg über das Eis zurück nach Hause machen konnten.
Das Schiff wurde erneut gesichtet im September 1935 und danach wieder im November 1939 in der Nähe von Wainwright, Alaska. Beide Male ging man an Bord, jedoch hatte das Eis, das die BAYCHIMO diesmal wieder umgab und einschloss, das Schiff auch in die Höhe gehoben und es in eine so gefährliche Lage gebracht (siehe Bild rechts), dass es sich auf diese Weise jedem möglichen Bergungsversuch widersetzte.
Während der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das "Geisterschiff der Arktis" auch wieder etliche Male von Forschern und Inuits in Alaska gesichtet. Im März 1962 stieß eine Gruppe von Inuits, die mit ihren Kayaks in der Beaufort Sea unterwegs waren, erneut auf das Schiff, als es immer noch offenbar ziellos durch die eisigen Gewässer am Ende der Welt trieb.
Dann schließlich, im Jahr 1969, wurde das Schiff ein letztes Mal gesichtet, immer noch intakt, aber erneut im Packeis gefangen irgendwo zwischen dem Point Barrow und Icy Cape, Alaska. Die letzte gemeldete Position des Schiffes ist in der Karte der Nordküste Alaskas links mit einem "X" gekennzeichnet.
Das Ausbleiben weiterer Sichtungen bedeutet nahezu sicher, dass die zunehmende Verschlechterung des Zustands der BAYCHIMO vermutlich dazu geführt hat, dass der Rumpf dem gewaltigen Druck des arktischen Packeises letztlich nicht mehr widerstehen konnte. Wahrscheinlich ist, dass nach Schmelzen des Eises, welches das Schiff eingeschlossen und es bis dahin über Wasser gehalten hat, die Überreste auf den Meeresgrund gesunken sind. Vermutlich ...
Allerdings weiß bis heute tatsächlich niemand genau, ob das "Geisterschiff der Arktis" immer noch herumtreibt oder ob ihr Wrack inzwischen irgendwo im Arktischen Ozean liegt. Im Jahr 2006, mittlerweile 75 Jahre nach Aufgabe des Schiffs, machte die Regierung von Alaska den Versuch herauszufinden, ob die BAYCHIMO immer noch irgendwo treibt oder nicht. Bis heute waren alle derartigen Versuche vergeblich.
Vernünftige Menschen würden nun annehmen, dass die BAYCHIMO nach all den Jahren den Dutzenden von anderen glücklosen Schiffen auf den Meeresgrund gefolgt ist, die hier im Arktischen Ozean verloren gingen. Bei der Mehrzahl von ihnen ist bekannt, dass sie gesunken sind, entweder aufgrund von Kriegsfolgen, nach Kollisionen oder auch durch das Eis, das so viele von ihnen eingeschlossen und zerquetscht hat.
Die BAYCHIMO dagegen ist eine Ausnahme. Der fehlende Nachweis ihres endgültigen Schicksals lassen Mutmaßungen zu von all den Fantasievollen, den Abergläubischen und denjenigen, die übernatürliche Erscheinungen in jedem unerklärlichen Geschehen vermuten: Dass sie eines Tages vielleicht wieder erscheinen könnte im kalten Nebel der Arktis. Nun, es hat schon seltsamere Dinge gegeben ...
© 2016 Bill Lee, Deutsche Übersetzung: Explorer Magazin
Anm. der Red.: Neben etlichen anderen Beiträgen von Bill Lee zur Navy-Historie in unserer Rubrik "Hinterlassenschaften" gibt es von unserem Autor auch noch mehr zu einem weiteren arktischen Abenteuer auf See: