Was ist Glück?

Hier passiert etwas völlig unerwartetes, das unsere gesamte Reiseplanung über den Haufen wirft: Ist es Glück oder Pech, dass beim Einparken am Nachtplatz der Lenkhebel bricht und meinen Bremach völlig fahrunfähig macht ..?

Ich bin durch mein ganzes Leben mit viel Glück gegangen, angefangen von Kindheit, Schule, Berufswahl, Familie und so weiter. Keinen Sechser im Lotto, das macht ja eher unglücklich. Und dieser Kapitalschaden, der in der falschen Situation zu einem fatalen Unfall mit den schlimmsten Folgeschäden hätte führen können, passiert mir genau hier beim Einparken in einer herrlich einsamen Gegend. Das Auto steht waagrecht, die Vorräte sind aufgefüllt, das Handynetz funktioniert, ich bin nicht allein. Das nenne ich schon mal ein großes Glück!

Trotzdem müssen wir hier wieder weg, der nächste Ort ist 20 km entfernt, die Straße zu schlecht für einen normalen Abschleppdienst. Grazyna lässt nicht locker, ich müsste sofort den ADAC anrufen, schließlich hätte ich die ADAC-Plus Mitgliedschaft. Die freundliche Dame am Telefon nennt mir die nächste Iveco-Werkstätte in Sibiu und erklärt, der ADAC würde die Abschleppkosten dorthin anteilig bis 130 EUR übernehmen. Einfach lächerlich!

Aber meine Glücksfee arbeitet weiter: Am nächsten Morgen um 8:00 Uhr rufe ich die Bremach-Werkstätte in Raab, Österreich an. Erich Christ ist sofort am Telefon und nach einigen Vorwürfen, wie ich es wagen könne, mit nur einem Auto solche Touren (!) zu fahren, gibt er mir die entscheidenden Hinweise. Mit dieser detaillierten Anweisung gelingt es meinem technisch versierten Mitreisenden Erich und mir, den Lenkhebel innerhalb von zwei Stunden auszubauen. Gegen 10 Uhr haben wir die beiden Bruchstücke in der Hand und schauen uns die Bruchfläche etwas genauer an: Etwa die Hälfte dieser Abbruchfläche ist schon angerostet! Das bedeutet, dass hier ein älterer Einriss vorlag und der Lenkhebel früher oder später hätte ganz abbrechen müssen ..!

Und das ist eben die große Leistung meiner Glücksfee, nämlich den finalen Abriss genau dort geschehen zu lassen, wo es am wenigsten schädlich für mich und andere war. Ich kann es kaum fassen. Innigsten Dank an die Fee, oder wie immer man dieses Glück bezeichnen möchte ..!

Beim Einparken in diese schöne Parkposition passiert es ...

Dreck und Rost entfernen Bremsscheibe abstützen, dann mit 2 Schrauben Achsschenkel herausdrücken Oberer Achsschenkel ist raus
Bremshebel ist raus Beide Fragmente ausgebaut Bruchfläche schon zur Hälfte angerostet
Ich radle ins Tal ... Schweißaktion im Tal Und noch mehr Schweißen ... ... rotglühend durchgeschweißt ...

Nach vorgezogenem Mittagessen packe ich die beiden Bruchstücke in meinen Rucksack und radle ins Tal hinunter. Ich bin darauf vorbereitet, dort unten eine Nacht zu verbringen und mein Nürnberger Paar freut sich vermutlich schon darauf, endlich einmal allein zu sein. Ist ja alles da, was man zum komfortablen Überleben braucht ...

Ein Fahrrad ist viel geländegängiger als ein Auto, zumindest bergab, stelle ich fest. Aber das Furten des kleinen Baches kann das Auto eindeutig besser:  Mit dem Rad rutsche ich jedenfalls mitten im Wasser aus und kann mich nur mit einem Fuß im Bach noch halten. Egal, die Glücksfee sorgt für eine ansonsten störungsfreie Talfahrt durch das Bärenland und nach einer guten Stunde und exakt 19 km sehe ich die ersten Häuser des Ortes Voineasa. Mit dem Fahrrad möchte ich nicht unbedingt wieder hochradeln müssen, deshalb sehe ich mich nach einem geparkten Geländewagen um. Den Besitzer könnte ich ja vielleicht später um einen Taxidienst bitten ...

Meine Glücksfee richtet es so ein, dass der erste Geländewagen neben einer kleinen LKW-Werkstatt steht, ganz am Anfang des Örtchens. Vier Männer stehen herum, diskutieren und warten wohl gerade auf den Beginn der Mittagspause. Ich spreche sie an auf Deutsch und Englisch, sie lachen nur und schütteln den Kopf.

Aber meine Worte "problema maschina" verstehen sie und als ich ihnen den gebrochenen Lenkhebel zeige, wissen sie sofort, was zu tun ist. Der Vater des Firmeninhabers ist der beste Schweißer im Team, sein Sohn fixiert die beiden Bruchstücke mit Schraubstock und Zange und schon ist der erste Schweißpunkt zum Fixieren gesetzt. Mit einem tropfnassen Lappen wird die Gummimanschette des Lenkgelenks geschützt, vorherige Versuche, den Konus zu lösen waren trotz brachialer Gewalt gescheitert. Macht nichts, das Teil muss sowieso schnellstmöglich durch ein Originalteil ersetzt werden. Ich beobachte den Schweißvorgang genau und bin vom Ergebnis überzeugt. Der Mann hat die beiden Bruchstücke nicht nur aneinandergeheftet, sondern brutal und rotglühend durchgeschweißt.

Erich Christ in Raab wird später kritisch anmerken, der Rumäne hätte doch noch eine ganze Elektrode darüber auftragen sollen. Das mag zwar sein, aber es hält erst mal ...

Auf meine Frage nach einem Taxi gibt es eine schnelle Antwort: Der Angestellte, ein junger Zigeuner, hebt mein Rad auf die Ladefläche des Ford Ranger Pickups und fährt mich die 20 km hoch, schimpfend über die schlechte Straße. Wo genau mein Bremach steht, konnte ich den Leuten anhand eines Kartenblattes erklären und sie kannten die Lichtung auf dem Bergkamm auch. Was wollen die Leute dafür haben? "Das Schweißen kostet nichts, für den Transport nach oben soll ich den Sprit bezahlen". Aber ich kann auch großzügig sein und bezahle in Summe etwa 90 Euro für alles. Immer noch billig in meinen Augen ..!

Erich und Grazyna staunen nicht schlecht, als ich sie während der Taxifahrt nach oben telefonisch schon einmal vorwarne und ca. drei Stunden nach Abfahrt mit dem Fahrrad mit geschweißtem Lenkhebel wieder zurück bin. Beim Einbau des Teils schwächelt meine Glücksfee aber ein wenig mit dem Wetter: Der einzige Regentag der ganzen Reise zwingt uns immer wieder, eine kleine Arbeitspause einzulegen, aber bei Einbruch der Nacht ist Bremi wieder fahrbereit.

Die durchaus anspruchsvolle Abfahrt am nächsten Tag ins Tal meistert die Lenkung ohne Probleme und ein gründlicher Check der Schweißnaht unten bei der LKW-Werkstatt flößt volles Vertrauen ein. Wir können unseren Urlaub fortsetzen, verzichten aber ganz auf Offroad und bewegen uns Richtung Heimat voran. Es sind ja immer noch über 1.000 km bis Raab, wo Erich Christ mit dem Original-Ersatzteil auf uns wartet.

Was man nun unschwer erkennen kann: Großes Glück kann auch mal mit kleinerem Unglück beginnen, oder wie die Redaktion in Hinblick auf die "Glücksfee" meint: "Schön wenn man so ein tüchtiges Mädel immer dabei hat ..!"

Vorsichtige Heimreise

Wir sind ja die Karpatenbergzüge nach Süden hinunter gefahren und befinden uns nun in Oltenien, auch kleine Walachei genannt.

Im Mittelalter war diese Region Kernland von Rumänien, viele alte Klöster zeugen noch von dieser Zeit. Einige davon wollen wir uns anschauen: Das kleine und schlichte Kloster Govora ist als erstes auf unserer Liste. Man kann sogar im Innenraum fotografieren.

Govoda Klosterhof und Kosterkirche Govoda, Blick ins Innere Horezu Klosterhof und Klosterkirche Volonet Klosterhof und Fresken an der Kirche dort

Ganz in der Nähe liegt das schönste und bedeutendste Kloster dieser Gegend, Kloster Horezu. Hier ist mehr Leben zu spüren, eine Nonne spricht sogar Deutsch. Sie war für ihren Orden etwa 12 Jahre in Nürnberg und hat dort Veranstaltungen und Kongresse organisiert. Nun hat sie aber keine Zeit mehr zum Reden, sie muss zur Abendandacht rufen. Sie nimmt ein knapp zwei Meter langes Holzbrett mit einer Verdünnung in der Mitte zum Festhalten und schlägt rhythmisch mit einem Holzhammer darauf, während sie im ganzen Klosterhof herumgeht. Anschließend verschwindet sie in der Kirche und liest aus einem Buch. Die anderen Nonnen, meist hochbetagte Frauen, kümmert das offenbar wenig, sie bleiben in ihren Alltagsgesprächen mit anderen Schwestern und gehen nicht in die Kirche. Solange ich beobachte, bleibt die erste Nonne allein in der Kirche und betet ihre Verse runter, und dies wohl alle drei Stunden. Komische Liturgie ..!

Nach dem Kloster Bistrita, der größten Anlage in der Gegend, fahren wir weiter schließlich noch zum Kloster Volonet. Die Klöster unterscheiden sich hauptsächlich in Größe und Qualität der Ausstattung und hier liegt Horezu vorne. Das Bauprizip ist aber bei allen das Gleiche: Der Klosterhof wird auf allen vier Seiten von je einer Wehrmauer oder einem Wohnraumblock begrenzt, die nach außen schroff sind mit wenig Angriffsfläche. Innen sind die Zellen der Nonnen oder Mönche im ersten Stock, darunter Gemeinschafts- oder Wirtschaftsräume. Freistehend im Mittelpunkt des Hofes thront die Klosterkirche über das ganze Areal.

In der Schauhöhle von Volonet ...Aber Volonet hat noch die Oltnet-Schlucht zu bieten und in dieser Schlucht ist der Eingang zur bekannten Schauhöhle von Volonet. Wir fahren die Sandpiste dorthin einfach mal los und wollen eigentlich am Eingang der Schlucht parken. Aber die ist sehr steil und schmal, die Straße wurde an vielen Engstellen erst durch Sprengungen ermöglicht. Einen Parkplatz suchen, welch irrer Gedanke!

Wenden, Fehlanzeige: Also fahren wir immer weiter, links blickt man senkrecht ins Bachbett hinunter, rechts hoch zu steilen, teils überhängenden Felswänden. Und genau hier kommt uns ein großer Holzlaster entgegen! Einige Zeit müssen wir nach einer Ausweichstelle suchen und dann wird das Vorbeifahren sehr knapp, aber möglich. Der LKW-Fahrer hat dabei die Ruhe weg ...

Die Schlucht ist vielleicht 3-4 km lang und am Ausgang steht auf einer Waldlichtung ein verfallendes Haus auf einem verlassenen Grundstück, das uns einen waagrechten Nachtplatz bietet. Wir wundern uns über die zahlreichen Holzlaster, 10-12 sind es sicher, die am Abend vom Einbruch der Dunkelheit bis morgens schon ab 6 Uhr bei uns vorbei rollen. Die Fahrer winken alle sehr freundlich herüber zu uns und wir munkeln schon, ob das vielleicht Holzdiebe sind, die sich betont unverdächtig geben wollen. Weiß man ja nie in Rumänien ...

Mit der Stadt Targu Jiu und seinem berühmten Sohn, dem bedeutenden Bildhauer Constantin Brancusi will ich meinen Bericht abschließen und die anderen, durchaus interessanten Orte auf der Heimreise weglassen: Brancusi hat 1938 eines seiner berühmtesten Meisterwerke in der Heimatstadt erstellt, ein dreiteiliger Komplex aus Säule, Tor und Tisch/Sitzgruppe. Die 29 m hohe "unendliche Säule" aus 16 Bronzequadern, aufgereiht auf einem sehr stabilen Stahldorn, beeindruckt mich wegen der vom Lichteinfall abhängigen unterschiedlichen Wirkung.

Aber lachen muss ich über das "Tor des Kusses", das heutzutage Treffpunkt junger Ehepaare geworden ist, die sich unter dem Tor küssen und damit ihrer Glücksfee einen Wink geben wollen. Meine Fantasie suggeriert mir nämlich etwas ganz anderes und ich bin überzeugt, Brancusi, ein Meister der Reduktion auf das Wesentliche, hat es auch anders gemeint: Welches Lippenpaar steht schon senkrecht? Und welcher Hals darunter ist zweigeteilt? Den vermutlich prüden Auftraggebern der Plastik, der Frauenliga von Targu Jiu, konnte Brancusi die Vorstellung des Küssens besser verkaufen. Über die Abstraktion bei dieser Kunst waren die Damen damals irritiert genug ...

"Unendliche Säule" leicht schief – nach misslungenem Abbruchversuch durch Kommunisten Tor des Kusses ...

Abschließend will ich noch etwas über das Reisen in Rumänien im Jahr 2022 anfügen: Ich war ja bereits 2008, 2009 und 2010 schon hier und sehe gewaltige Unterschiede zu damals. Die Menschen, die Häuser, die Straßen, die Gastronomie haben sich enorm gewandelt. Auf den ersten Blick sieht man kaum noch Unterschiede zu einem westlichen Reiseland, sagen wir Frankreich.

Die Städte haben ihren kommunistischen Grauschleier weitgehend abgelegt, die Bewohner sind gekleidet wie wir, die Jugendlichen sind sowieso überall international. Das ehemalige Müllproblem ist heute nicht ausgeprägter als etwa in Süditalien. Altlasten gibt es jedoch noch vereinzelt, etwa im Buschwerk an Flussufern ...

Sicherheitsbedenken? Unsinn, die kriminellen Rumänen agieren längst alle im weltoffenen Deutschland! Aber eines ist geblieben wie vor 14 Jahren und länger: Man kann mit dem Wohnmobil fast überall stehen und nächtigen. Vorbeikommende, auch Nachbarn, nehmen das freundlich grüßend zur Kenntnis und bieten manchmal sogar Hilfe oder Geschenke an. Das liegt bestimmt auch an der insgesamt niedrigen Zahl europäischer Camper, die es nach Rumänien zieht. Leider wird sich das wohl bald ändern ...


© 2022 Sepp Reithmeier, weitere Fotos: Erich Junker


Anm. der Red.: Weitere Beiträge von Sepp finden sich in unserer Autorenübersicht!