Eine Gespenstergeschichte ...von Bill Lee |
Die Dunkelheit legt sich über die Westküste der kanarischen Insel Fuerteventura. Inmitten der Flutwellen dieses verlassenen und den Elementen ausgesetzten Fleckens erwarten die von Felsen zerstörten, rostigen Überreste der SS AMERICA wieder eine weitere Nacht mit flackerndem Mondlicht, schmetternden Wellen und stürmischem Wind ...
Ihre Decks und Passagierunterkünfte - von der See aufgerissen und nach alter Tradition von Inselbewohnern geplündert - sind nicht länger eine schwimmende Insel, die von Licht, Musik und Heiterkeit erfüllt ist. Sie liegt - zerstückelt und ausgeweidet - wie festgenagelt an dieser entfernten Landzunge, wo sich ihr Schicksal erfüllte.
Nicht mehr länger bewegt sie sich anmutig durch die See, stattdessen ergießen sich riesige Wellen erbarmungslos in das, was von ihrem zerfetzten und entblößten Mittschiff übrig geblieben ist - und ebenso durch eine gewaltige, ungleichmäßig gezackte Öffnung, die sich in ihrem Vorschiff gebildet hat.
Nebel über der See ziehen ungehindert durch zerschlagene Fenster und durch Schotte, die offen gelassen oder sogar vollständig entfernt wurden; sie mischen sich mit dem in Jahren angesammelten Schmutz und Ruß - und dem ungebetenen Nachlass des zahllosen Gewimmels von Möwen ...
Das Ergebnis ist ein matschiger, fast unvorstellbarer Belag, der die sehr realen Gefahren bröckelnder Decks vor jedem unaufmerksamen Eindringling verbirgt. Die einst so stolze Königin der amerikanischen Handelsmarine wird nach all den Jahren der Verlassenheit und Aufgabe dort draußen von den Elementen systematisch nur noch zu einer Erinnerung degradiert ...
Dunkelheit hüllt ihren Rumpf ein - die einzigen Geräusche, die außer dem ewigen Rauschen des Ozeans zu hören sind, kommen vom Wind, der an ihrer noch verbliebenen Takelage und Reling rüttelt, und vom Rascheln loser Kleinteile und planlos verstreuter Gegenstände, und den gelegentlichen Schreien nistender Seevögel.
Die Königin ist unwiderruflich zerstört, ihr Glanz dahin, zerfetzt. Unmissverständlich und unbestreitbar - sie ist tot.
Oder zumindest scheint es so.
Aber vielleicht - und auch nur vielleicht - lebt der Geist der Königin in einer geheimnisvollen und unbekannten Art und Weise weiter - ganz und gar unbegreiflich für gewöhnliche Sterbliche.
Wenn man ihre Überreste des Nachts aus richtiger Entfernung mit Blick auf ihren immer noch imposanten, anmutig geschwungenen Bug betrachtet, wirkt sie unversehrt: Fast so, als würde sie immer noch lautlos unter Verdunklung dahin gleiten, erinnert sie an ihre erfolgreichen Fahrten unter ähnlichen Bedingungen während ihrer Jahre als Truppentransporter, während der sie - komischerweise - als "The Grey Ghost" ("Der Graue Geist") bezeichnet wurde ...
Es braucht nicht viel Fantasie, um seltsame Bewegungen im schimmernden Mondlicht am fernen Ufer zu erkennen. Geheimnisvolle Bewegungen, die von eigenartigen Lauten begleitet werden - und mehr menschlich als naturbedingt zu sein scheinen. Man muss nur lauschen ...
Ist es das ein leises Lachen eines geisterhaften Passagiers, der das Ambiente genießt, das einst die AMERICA ausmachte? Oder ist es nur ein gurrender Seevogel, der eine kurze Ruhepause einlegt im Schutz der Überreste dieses einst mächtigen Ozeanriesen? Ist es das Klingen von Gläsern, die von übernatürlichen Passagieren zu einem Toast auf ihr Gedenken erhoben werden? Oder wird da vom Wind nur zertrümmertes Geschirr bewegt, das man zurück ließ?
Ist es das Rascheln von bodenlanger Abendrobe, während ihre geisterhaften Besitzer vergeblich auf der Suche sind nach dem einst funkelnden und heute zerstörten Ballsaal? Oder ist es wieder nur der Wind, der die zerfetzten Überreste von Vorhängen an zerbrochenen oder verschwundenen Fenstern bewegt? Ist es das Geflüster von jung Verliebten, die sich da eng umschlungen im Schatten von abgelegenen Ecken ihrer Oberdecks verbergen? Oder ist es noch einmal der Wind, der über die verbogenen und ungleichmäßigen Flächen spielt und dabei auf so eindringliche Art ganz ähnliche Geräusche erzeugt?
Und ist das der Klang von Schritten ihrer Soldaten-Passagiere oder ihrer Marine Mannschaft - den verstorbenen Angehörigen einer großartigen Generation - die bis in alle Ewigkeit auf ihren Unterdecks umherschweifen? Oder ist es doch nur das dumpfe Schlagen von losem Zeug, das in ihrem rostüberzogenen Rumpf von der See immer wieder endlos herum gestoßen wird?
Solche übernatürlichen Erscheinungen mögen durchaus noch weiter mit ihr verbunden sein, bis sie schließlich in den Elementen versunken sein wird, die von der AMERICA einst so souverän beherrscht wurden. Oder vielleicht auch nicht, da solche Vorstellungen möglicherweise nichts anderes sind als das Ergebnis überschäumender Fantasie ihrer Verehrer ...
Aber die Schar von Getreuen, denen der Geist der "Königin" weiter in Erinnerung bleibt und am Herzen liegt, die wird es auch dann noch geben, wenn sich lange nach ihrem Bestehen eines Tages nur noch ein fernes und schwächer werdendes Bild mit ihr verbindet.
Und kostbare Erinnerungen - an Hunderte von Schiffsbauer, Tausende Mannschaftsangehörige zu Kriegs- und Friedenszeiten und zahllose Passagiere, die vor ihr das Zeitliche segneten - werden ebenfalls bestehen bleiben. Denn es ist die Gesamtheit von Erinnerungen, die das Wesen des "Geistes" der AMERICA ausmachen.
In diesem Sinne - LANG LEBE DIE KÖNIGIN!
Anm. der Red.: Dieser Beitrag von Bill Lee entstand vor einigen Jahren anlässlich eines Veteranentreffens der USS WEST POINT - als es die American Star also noch in der Form gab, wie sie viele Jahre an der Playa de Garcey lag und wie wir sie sicher auch nie vergessen werden ...
Nachtrag, März ´06: Und die Bilder dazu ..?
Natürlich hat diese Geschichte auch auf uns nicht ihre Wirkung verfehlt. Und sie erinnert uns auch daran, dass es zu einer solchen Geschichte die passenden Bilder geben sollte. Wir hatten es bereits versucht und wir machen weiter damit:
© 2006 Bill Lee, Deutsche Übersetzung: Explorer Magazin