Richtung Südwest: Auf nach Homer ...
Wenn morgens die Sonne über Alaska aufgeht, ist der Wald noch vom Nebel ummantelt. Kaum sichtbar ziehen die Umrandungen der schroffen Bergmassive an uns vorbei, während wir auf unserem Weg nach Homer sind. Erst später am Tag wird sich der Nebel lichten. Erst dann können wir das Ausmaß der endlosen Landschaft, gefüllt mit Schwarzfichten, vor uns erkennen. Die Fahrt verläuft reibungslos und schon bald erreichen wir unser Ziel.
Das kleine Dorf mit 5.000 Einwohnern, direkt an der Kachemak Bay gelegen, zeugt von typischer amerikanischer Infrastruktur und bei einem Blick auf die anderen Seite des Ufers, wie Grönland sich präsentieren würde: Hohe, mit Eis bedeckte Berge, darunter kleine Buchten mit Sandstränden und Küstenregenwälder in hoher Intensität. Während wir unsere täglichen Einkäufe erledigen, uns etwas zu essen kochen, plane ich den nächsten Tag. Wir wollen mit einem kleinen Boot auf die andere Seite der Bucht, um dort eine Wanderung zum Grewingk-Gletscher zu unternehmen.
Am nächsten Tag fahren wir gegen Mittag los und besteigen das kleine Boot: Das Wetter meint es wieder gut mit uns und schon bald erreichen wir einen einsamen Strand unterhalb des Waldes. Wir springen von Bord und steigen in den Wald hinauf. Nach kurzer Zeit verstummen alle Geräusche und wir sind wieder allein. Nach nur wenigen Metern tauchen die ersten Haufen von Bärenkot auf. Aber nicht nur einer oder zwei, es sind unzählig viele. Direkt auf dem Wanderweg erstrecken sich die "Tretminen" und immer wieder fallen uns angekratzte Bäume auf. Hier ist Bärenrevier!
Und wir sind
mitten drin: Schnell holen wir unsere Bärenglocken heraus und fangen
an, uns laut zu unterhalten. Ab und zu klatschen wir in die Hände,
damit der Bär oder die Bären früh genug gewarnt werden. Da kommt die
Frage auf, ob wir denn eigentlich keine Bären sehen wollen. Doch das wollen wir,
aber wenn wir uns nicht ankündigen, könnte dies in der Überraschung
des Moments auch nach hinten losgehen. Immer tiefer zieht sich der
Weg in den Wald hinein, nur wenige Schilder tauchen auf. Da der Weg
jedoch gut sichtbar ist, folgen wir ihm einfach weiter in der
Hoffnung, nicht an eine markante Abzweigung zu kommen. Immer öfter
hört man von ganzen Gruppen, die in der Wildnis verschwunden sind,
ohne Karte, ohne Kompass, ohne Info an die Zubringer (Boot) oder
sonst wen. Manche hat man nie wieder gesehen ...
Und richtig: Nach wenigen Minuten erreichen wir den Grewingk Gletscher und das Ufer des Gletschersees. Im Wasser treiben einige Eisberge. Grau und Weiß wechselt sich mit dem Grün der Bäume und Pflanzen ab. Es ist eine vielfältige Landschaft, eine Landschaft der Unvergesslichkeit. Wir können dem Sog nicht standhalten und setzen uns an das kiesbedeckte Ufer, starren auf den See und den Gletscher. Eine kleine Oase, ein kleiner Ort der Ruhe zwischen den wilden Wäldern. Wir hören auf zu sprechen und staunen nur. Die Erde schaffte Paradiese für das menschliche Auge, nicht jedoch, um dort zu leben. Hier in dieser Ecke wohnt niemand, es gibt keine Verbindung zur Außenwelt. Wir sind nun wieder isoliert von den Bars und Fischrestaurants, von den Supermärkten, Straßen und Autos. Endlich sind wir wieder wild unterwegs ...
Am Strand erkennen wir einige Bärenspuren: Demnach sind die Herrscher der Wälder auch hier unterwegs. Vielleicht schätzen sie die Kulisse auch so, wie wir es tun oder sie gehen spazieren oder suchen nach etwas Essbaren. Ich glaube, unbewusst mögen die Tiere ihre Heimat und ihr Leben, auch wenn es manchmal hart sein wird. Jedoch sind wie gerade in einer guten Phase des Jahres: Die Bären sind satt gefressen. Entweder halten sie sich dort auf, wo es Lachse gibt oder sie fressen die roten Beeren. Ich las in einem Buch, dass sie bis zu 250.000 Beeren pro Tag fressen. Demnach ist es kein Wunder, dass ihr Kot Rot ist.
Die Zeit vergeht wie im Flug.
Nach einer Stärkung gehen wir zurück in den Wald und machen uns auf
den Weg in Richtung des Strandes. Wieder tauchen Spuren von Bären
auf, aber dieses Mal sind sie frisch. Ich bin mir sicher, dass wir
den generellen "Highway" der Bären kreuzen und dass wir, ohne das wir
es merken, von ihnen die ganze Zeit beobachtet werden.
Wir schaffen
es allerdings ohne Begegnung zurück zum Strand und werden vom Boot
wieder abgeholt. Dieses Mal allerdings ist das Wetter umgeschlagen
und es gibt harten Seegang: Das kleine Boot, mit einer Laderampe
ähnlich wie
in der Normandie 1944, wird heftig von den Wogen geschubst und
plumpst nach jeder Welle mit einem lauten Knall wieder auf das
Wasser. Wir springen so vor uns hin, immer im Blick, den rettenden
Hafen irgendwann zu erreichen. Der Bootsführer hat alle Hände voll
zu tun und schon sehr bald verkriechen sich die ersten Gäste in die
kleine Kajütte. Einige, so auch ich, sitzen weiterhin draußen und
bereiten sich auf
die "Landung in der Normandie" vor.
Unsere Blödeleien sind ideal, um
den harten Seegang zu vergessen ...
Die ersten Möwen tauchen auf und dies ist das Zeichen, dass der Hafen in nächster Nähe ist. Ehe wir uns versehen, sind wir zurück am Ufer von Homer Spit. Auf unsere erfolgreiche "Landung" gibt es erst einmal ein Bier und einen Kaffee: Wir gehen in eine der vielen Bars und gönnen uns ein "Alaskan White", mit einem Eisbären als Logo. Auch wenn Eisbären weit entfernt von uns ihr Leben leben, sind wir dennoch heilfroh, dass auch diese Tour ohne kritische Situationen verlief.
Gegenüber der Bar sehen wir einen Anbieter für Rundflüge zum Katmai Nationalpark: Wäre dies nicht die ideale Lösung, um Bären unter sicherer Kontrolle zu sehen? Ich laufe hinüber und bespreche alles mit den Piloten und dem Büro. Bereits am nächsten Morgen kann es losgehen, allerdings leider nur für die Gäste. Ich werde in dieser Zeit wohl den Bus waschen oder einkaufen gehen oder einfach nur schlafen ...
Richtung Norden: Von Gletscher zu Gletscher ...
Wir fahren den Hügel hinauf und langsam verschwindet der Ort hinter uns: Unser Weg zieht sich von dem Südzipfel bis hinauf nach Anchorage und von dort weiter über Palmer auf den Glenn Highway, bis wir irgendwo im Nirgendwo bei der Sheep Mountain Lodge einkehren werden.
Es ist ein langer Fahrtag und nach sechs Stunden kommt langsam Müdigkeit auf. Die Landschaft verändert sich wenig: Wälder wechseln sich mit Bergen ab, dann taucht wieder eine kleine Siedlung auf. Ewiges, einsames Alaska. Doch nach kurzer Zeit auf dem Glenn Highway in Richtung Westen bietet sich wieder mehr Aussicht, mehr Szenerie, mehr von dieser göttlichen Landschaft.
Es geht nun hinein in das Reich des Matanuska Gletschers und wir begeben uns immer tiefer in Richtung der Gletscherzunge. Wir nähern uns bis auf wenige Meter, dann verlassen wir den Wagen und wandern auf die mit Schotter überzogene Eisschicht bis vor den Rand, wo sich der Gletscher erhebt. Über 30 km pures Eis liegt vor uns. Wir sind geblendet vor Schönheit und fotografieren uns die Finger wund. Hier und da knackt das Eis, kein Tier ist zu sehen, kein anderes Geräusch umgibt uns. Wir sind in der vollkommenen Eiswelt angekommen.
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Dies
ist ein Traum, so denken wir. Wir könnten ewig in dieser
farbenfrohen Umgebung stehen, denn es ist nicht nur einer der
schönsten Orte der Welt, sondern gleichzeitig auch der schönste
Parkplatz. Doch wir müssen weiter, denn vor Einbruch der
Dunkelheit wollen wir unser Ziel erreicht haben. Wir fahren bis zur
Lodge, gehen etwas essen und heben noch ein Glas Bier auf den Tag.
Ich werde schnell müde, denn es waren zu viele Stunden Fahrzeit
heute und somit geht es schnell ins Bett ...
Am nächsten Morgen frühstücken wir deftig mit Omelette, gefüllt mit Lachs, und natürlich Kaffee. Danach geht die wilde Fahrt weiter: Immer tiefer nach Westen, bis auf die Höhe von Glenallen. Wir tanken noch einmal nach, kaufen ein paar Kleinigkeiten zur Versorgung ein und begeben uns dann in Richtung Kennicott und McCarthy. Die Straße wird immer holpriger, immer dichter der Wald. Endlos erscheint diese Welt, wie wir schon mitbekommen haben. Es ist einfach gigantisch groß, das Land ...
Plötzlich
endet die befestigte Straße und wir fahren auf Schotter weiter: Das
ist nicht weiter schlimm, aber zu dem Schotter kommen nun enorme
Schlaglöcher hinzu, die das Vorankommen erheblich erschweren. Immer
wieder muss ich bremsen, langsam fahren, damit die Reifen nicht
platzen. Hier draußen ist nichts und niemand und wenn einmal jemand
vorbeikommt, dann aus der Richtung McCarthy. Wir fragen uns,
ob dort vielleicht niemand hin will? Wer weiß!
Ich biege zunächst falsch ab bis zu einer Brücke, über die definitiv kein Auto fährt und muss anschließend den ganzen Weg wieder zurück. In der Hütte sitzt ein junger Mann, der uns herzlich begrüßt. "Lasst euer Auto hier, nehmt eure Sachen, wir bringen euch rüber nach Kennicott." Gesagt getan: Er lässt uns hinter der Brücke heraus und auf der anderen Seite kommt ein Van, der uns abholt. Noch einmal Schotter, Erde und Schlaglöcher und dann ist es geschafft: Wir sind endlich in Kennicott!
Abseits von allem, kein Netz, kein Laden, kein Restaurant, außer
dem im Hotel. Ein wenig
Infrastruktur hat der Nachbarort McCarthy, der allerdings zu weit
entfernt ist, um hin zu laufen, zumindest für heute. Der Tag endet mit dem
Abendessen. Wieder falle ich tot ins Bett. Die Fahrtage sind echt
lang ..!
Denali und Abschied ...
Wir starten früh am nächsten Morgen durch in Richtung des Root Gletschers und des Kennicott Gletschers. Kennicott war früher eine Minensiedlung, da es enorm viel Kupfer in der Gegend gab. Über vier Millionen Tonnen wurden hier gefördert. McCarthy war abhängig von Kennicott und umgekehrt. Mehrere Hundert Leute lebten im 20. Jahrhundert hier. Es gab Bars, Unterhaltung, Wohnhäuser, eine richtige Stadt, könnte man vermuten, und dann das Herzstück, die alte Mühle. Heute sind nur Ruinen übrig und wir wandern an diesen vorbei. Hinein in den Wald geht es entlang der Gletscher bis zu einem Punkt, an welchem wir nicht mehr weiter wollen, und kehren nach kurzer Pause um. Eine Stippvisite könnte man meinen ...
Als wir wieder in Kennicott ankommen, nehmen wir einen Shuttle, der uns nach McCarthy bringt: Eine kleine, vergeisterte Westernstadt. Alte Autos stehen umher, ein paar Aussteiger leben hier und dort, es gibt einen Saloon, ein Hotel und ein Restaurant und einen Laden. Wir laufen umher, lassen das alles auf uns wirken und kehren noch zum Essen ein. Eine komische Atmosphäre. Irgendwie will keiner von den Gästen länger als nötig hier bleiben und so geht es mir auch. Irgendwie fühlt man sich hier enorm isoliert, wie auf einer Insel, aber dort wo man lebt, wird alles überschattet von düsteren Bergen. Wir haben zwar schönes Wetter, aber dennoch ist dieses Gefühl beklemmend und anders als in den anderen Regionen oder Ländern, in denen ich bisher war. Wir fahren wieder zurück ins Hotel, essen noch einmal zu Abend und trinken auf die Reise. Morgen geht es zurück nach Norden, in Richtung Tangle River, und von dort in Richtung Denali Nationalpark ...
Unsere Fahrt endet zunächst in Healy: Wir beziehen die Unterkunft, gehen kurz einkaufen und kochen zusammen, so wie viele Abende zuvor ... Healy - der Ort, in welchem Christopher McCandless seinen Weg in Alaskas Wildnis unternahm. Eine Kopie des Busses, in dem er lebte, steht bis heute am 49State Restaurant in Healy ...Er war keine direkte Inspiration für mich und dennoch
konnte ich mich in einigen seiner Gedanken wiederfinden: Er stieg
aus, ließ die Gesellschaft hinter sich, erfuhr das Gefühl von Glück
und Freiheit, fand das, was er suchte: Einsamkeit. Und dennoch
konnte er es nicht aushalten ohne sozialen Kontakt. Zudem fehlten
ihm ein paar Fähigkeiten, die er nicht erlernte, da sein Weltbild
ein anderes war als das eines Trappers in Alaska. Er träumte mehr und
verlor sich in der Härte des Landes, das ihm am Ende den Tod
brachte ... ist dies tatsächlich Freiheit ..?
Während wir immer weiter philosophieren und auf Polarlichter warten, vergeht die Zeit und wir gehen zu Bett ...
Der Tag darauf bringt uns in das Herz des Denali Nationalparks südwestlich von Healy: Wir fahren mit einem Ausflugsbus in die scheinbar aufgebaute "Infrastruktur" der Wildnis. Ja, es gibt hier brachiale Naturmonumente, wir sehen Karibus, Grizzlys und Elchbullen mit ihren massiven Geweihen. Aber irgendwie ist es so ... organisiert?
Versteht mich nicht falsch: Der Tag im Denali ist ein MUSS für jeden Besucher, da einem das Ausmaß der Landschaft dort erst richtig bewusst wird. Aber der Tag ist sehr lang, der Bus sehr eng und man hat wenig Zeit, anderes zu tun. Eine Stippvisite in der Natur also wohl eher ... ABER! Es ist ist immer noch Alaska! Der Denali baut sich vor uns auf, mächtige Täler zeugen von Endlosigkeit, wilde Tiere sind immer präsent. Alaska hat mich infiziert mit einem Virus ... und dieser Virus heißt "Natur" ...Wir wandern ein wenig durch die Wildnis des Denali und erblicken Karibus, die sich nicht von uns stören lassen. Die Sonne steht hoch am Himmel, der höchste Berg Nordamerikas überdeckt die gewaltige Fläche purer Wildheit. Ich wünschte, dies wäre das Ziel unserer Reise und wir müssten nicht mehr weiterziehen - einfach bleiben und genießen ..!
Auf dem Rückweg zum Parkeingang verfalle ich in ein Gespräch mit einem Amerikaner aus Anchorage, der im Rentenalter nach Alaska auswanderte. Er zeigt gerade seiner Familie den Park und erzählt mir, dass das Leben hier einfacher sei, auch wenn es viele abschrecke. Klar, es ist sechs Monate kalt, dunkel, und es gibt nicht viel zu tun. Aber es gibt hohe Lebensqualität, saubere Luft, saubere Nahrung, auch wenn sie teuer ist oder erst gejagt oder gefangen werden muss (Fisch/Fleisch).
Dafür ist die andere Hälfte des Jahres lebendiger denn je: Die Natur ist hier intakt, sie übertrifft den Menschen, sie ist ihr eigenes Wesen und keiner versucht sie zu beeinflussen oder zu verändern. Diese geteilten Gedanken beflügeln mich wieder in meinen Vorstellungen von der Zukunft ... wenn, dann muss es der Norden sein. Die Härte, die Kälte, die Einfachheit, darin finde ich Frieden und Inspiration. Wir sprechen miteinander gefühlte Stunden, dann trennen sich unsere Wege ...
Ich fahre mit der Gruppe wieder zurück nach Healy und wir essen im 49State zu Abend. Burger, Fries, Steak, Fisch - wir hauen uns alles rein, was wir essen können. Wir lachen, freuen uns und reden über unsere Erfahrungen. Ich versinke in meine Gedanken ...
© 2019 Dennis Hartke, Bilder: Dennis Hartke, Gabriele Wagner
Anm. der Red.: Weitere Beiträge von Dennis finden sich in unserer Autorenübersicht!