In der Todeszone ...
Unser Bus fährt weiter durch eine leblose Landschaft, über tote Erde. Alle blicken aus dem Fenster und können es kaum erwarten, endlich ein Gebäude, den Reaktor oder die Stadt Prypjat zu sehen. Dann kommt eine neue Schranke und nochmal kommt ein Soldat zu uns herüber: Wir dürfen passieren. Wir sind nun in der 10 km Zone! Die Todeszone! Wer hier nicht aufpasst, kann sich ernsthaft verstrahlen.
Im Bus fühlen wir uns sicher. Eingekapselt und geschützt. Doch nun wissen wir alle, dass da draußen der Feind lauert. Und dieser Feind ist unsichtbar. Der Bus fährt in einen Wald hinein. Immer dichter umranken uns die Gewächse, immer brüchiger ist die Straße.
Es geht nur noch langsam voran. "Vor uns liegt eine Brücke. Diese Brücke verbindet Prypjat mit dem Weg zum Reaktor. Die Stadt liegt nur 3 km vom Kraftwerk entfernt. In der Nacht der Explosion standen Menschen auf der Brücke und bestaunten das grelle Leuchten. Es muss wunderschön ausgesehen haben. Bunte Farbe stiegen zum Himmel auf. Auch die Menschen in der Stadt öffneten ihre Fenster und schauten hinüber zum Reaktor. Sie alle starben innerhalb weniger Tage an der tödlichen Strahlendosis.
Es dauerte zwei ganze Tage, bis die Menschen in Prypjat überhaupt erfahren haben, was passiert ist. Sie alle waren dem Untergang geweiht. Man vertröstete sie, ließ sie nichts wissen. Und dann, innerhalb von zwei Stunden, mussten sie nehmen was ihnen am liebsten war und wurden evakuiert. Zuerst für drei Tage, so hieß es. Sie alle würden jedoch niemals wieder zurückkehren ...
Die Stadt war wie ausgestorben. Stille kroch in jeden Winkel der Straßen und Häuser. Nur 3 km entfernt kämpften die Menschen um das Überleben der Menschheit. Die meisten von ihnen jung und unwissend. Die "Liquidatoren" versuchten mit allen Mitteln, mit aller Macht die radioaktiven Trümmer zu verräumen. Sogar Roboter wurden eingesetzt, die der Strahlung nicht standhielten. Somit mussten die tapferen Männer selber auf das Dach und das Graphit abtragen. Kaum einer wird dies überleben. Es war der unsichtbare Horror, Terror in seiner reinsten Form. Ausgelöst und verursacht vom Menschen selbst ...
Der angebliche Test in der Nacht vom 26. April 1986 lief aus dem Ruder. Man verlor die Kontrolle. Zu viel Hitze, zu wenig Wasser, ein selbstsüchtiger Testleiter, der trotz aller Warnsignale den Versuch weiterlaufen ließ. Warum waren die wichtigsten Leute an diesem Abend auf einem Ball? Warum hat niemand abgebrochen? Wollte man uns alle vernichten? Oder die Sowjetunion schwächen? Zerstören? Vielleicht abwegige Spekulationen ohne Ende ...
Inzwischen sind 31 Jahre vergangen. Die Wolke zog damals über Weissrussland, Skandinavien, später auch über Deutschland, bis nach England, Irland usw. Noch heute werden im bayrischen Wald drei von vier geschossene Wildschweine entsorgt, da sie zu sehr verstrahlt sind. Aber sie leben vorher noch alle ...
Unser Bus fährt immer noch durch einen Wald. Irgendwie scheint das hier kein Ende zu nehmen. "Wir sind bereits mitten in der Stadt!" "Wie bitte?" Wo sind die Häuser? Plätze? Laternen? Das, was wir erblicken, ist die pure, reine Wildnis, welche über die Jahre alles Menschgemachte verschlungen und sich zurückgeholt hat. Ich bin erstaunt über diesen Prozess ...
Es ist an der Zeit auszusteigen: Wir ziehen unsere Mundmasken auf und gehen in ein ehemaliges Wohnhaus und dort bis aufs Dach. Von oben haben wir einen Ausblick auf die gesamte Stadt. Immer wieder schaue ich in die Fenster der Nachbarhäuser: Wenn sich dort irgend etwas am Fenster bewegen würde, käme es wahrscheinlich zu einem Aufschrei, denke ich mir. Der Horror hat mich gepackt. Komm schon! Gebt mir Zombies, Mutanten, Wahnsinnige! Ich lebe jetzt mein eigenes Playstationspiel!
Wir erkunden die Wohnräume: Alles ist verkommen, durcheinander, zerstört und geplündert. Wenig erinnert an die Zeit, als der Mensch hier ein ganz normales Leben führte. Weiter geht´s: Wir schleichen uns in eine Sporthalle und in ein Schwimmbad. Danach in eine alte Schule. Wahnsinn, diese Untergangsstimmung! Wahnsinn, diese Pracht an Pflanzen und Bäumen! Überall kommt die Natur zurück!
Die alte Schule bringt noch mehr Gruselstimmung auf: Klassenräume, Chemieräume, Pausenhof, Flure. Alles ist wie früher, nur verlassen. Hinter jeder Ecke kann jemand lauern, denke ich. Was für ein Quatsch! Ich halte meine Kamera schon so, als wäre es eine Pistole. Ich drücke ab und fotografiere so viel ich kann. Es ist sicher! Ich werde nur einmal diese Reise unternehmen und deswegen muss ich die Zeit nutzen, so gut ich kann ...
Unser Guide zeigt uns Bilder, wie dies vorher alles aussah. Es ist nicht mehr wiederzuerkennen: Es ist wie in einem Film. Wir können nicht glauben was wir sehen. Von hier aus geht es hinüber zum berühmten Vergnügungspark mit seinem Riesenrad und dem Autoscooter. Wir fotografieren eifrig weiter und ich muss dringend auf die Toilette. Ich kann leider nicht an den nächsten Baum gehen, denn mein Urin könnte radioaktiven Staub aufwirbeln, der wiederum lebensgefährlich ist. Oh, was für eine Qual!
Wir erkunden noch ein wenig die Gegend und fahren dann weiter zur Kantine in Tschernobyl selbst. Wir werden auf Strahlung untersucht und können dann etwas essen. Das Essen schmeckt gut, keiner von uns denkt nach woher es kommt und ob es verstrahlt ist. Wir alle sind hungrig. Wir unterhalten uns über unsere Reise hierher, warum wir dies machen. Es ist eine Mischung aus Abenteuer, Nervenkitzel, Sinnfreiheit und Bildung. Bildung darüber, was wir Menschen anrichten können. Bildung, die uns hoffentlich dazu verleitet, aus diesem Vorfall zu lernen. Wir machen Witze über die guten Seiten der Strahlung: Hulk wurde enorm stark dadurch oder die Turtles sind auch Mutanten, die Kampfsport können. Aber mal im Ernst: Ohne diese Energie hätten wir unsere geliebten Smartphones nicht und könnten auch nicht Kontakt halten über weite Distanz. Etwas Gutes muss es auch geben.
Danach fahren wir weiter zum Fluss. Fische in Tonnen von Schwärmen leben hier. Riesige Welze ziehen an der Oberfläche entlang. Der Reaktor mit seinem neuen Sarkophag liegt direkt hinter uns. Wir fahren hin, unweit. Schon fast zu nah. Es riecht komisch, ist dies Strahlung oder die Baustelle? Ich dachte es riecht nicht? Was ist das? Der Geruch fühlt sich komisch in unseren Lungen an. Das hier ist nicht gut. Wir sollten schnell weiter ...
Unser Guide zeigt uns ein Monument, ein paar Bilder und wir fahren weiter. Wir merken schnell, dass wir keinen Schritt weiter an den Reaktor heran wollen. Die Strahlung ist zu hoch. Auch durch den neuen Sarkophag ...
Der Tod schleicht hier genauso vor sich hin, wie er es früher tat. Wir fahren zurück in den Wald, zurück nach Prypjat. Wir sind noch nicht am Ende der Tour. Wir erreichen nun den zentralen Platz. Es gab hier einen Supermarkt, ein Fitnesstudio, ein Verwaltungsgebäude, ein Restaurant und das ehemalige Hotel Polissya. Ales umgeben von einem riesigen Platz. Es ist ein morbider Spielplatz. Alles ist überwuchert und überzogen mit Pflanzen, Moosen, Flechten und riesigen Bäumen, die durch den Asphalt brechen und in den Himmel wachsen. Wir sehen Quitten, Äpfel an den Bäumen hängen und hören Vögel zwitschern. Mich beschleicht ein Gefühl, das ich später noch ausdrücken möchte.
Ich schleiche mich kurz in den Eingang des Hotels. Mich faszinieren solche Orte. Hier war die Rezeption, dort die Bar, die Küche dahinter. Ich stelle mir vor, wie Menschen hier einst arbeiteten, Gäste eincheckten, ein Kellner einen Kaffee aus der Bar brachte. Alles wird wieder zum Leben erweckt. Nie hatte ich die Gelegenheit, mich derart in ein solches Szenario hineinzusteigern. Fast apathisch schlendere ich durch die Flure. Ich wünsche mir, ich könnte ewig bleiben. Doch wir müssen weiter. Unser Geigerzähler schlägt Alarm. Bis hierher und nicht weiter.
Wir fahren zum ehemaligen Krankenhaus: Hier gibt es Stellen mit enormer Strahlung wegen der vielen verstrahlten Menschen. Langsam gehen wir hinein, blicken in den OP, in Krankenzimmer, schleichen die Flure entlang. Es ist eigentlich verboten, in dieses Gebäude zu gehen. Warum wir dies tun? Ich weiß es nicht. Alle schweigen und schleichen weiter. Der Geigerzähler ist ruhig, kein Alarm. Also muss es doch in Ordnung sein, oder nicht?
Es ist der blanke Wahnsinn! Manche wollen sofort wieder hinaus. Es ist zu düster, zu gruselig. Wir verlassen das Gebäude und setzen uns wieder in den Bus. Atmen wir schwer? Ist unser Kreislauf ok? Irgendwie fühlt sich alles so komisch an. Oder bilden wir uns dies nur ein ..?
Unser Bus fährt wieder hinaus aus dem Wald, hinaus aus der 10 km Zone, hinaus aus der 30 km Zone. Wir werden immer wieder auf Strahlung geprüft. Alles scheint ok.
Wir fahren zurück nach Kiew und schlafen unterwegs ein. Am Ende kommen wir wieder am Hauptbahnhof an, wo wir uns am Morgen trafen. Jeder geht schweigend seiner Wege. Wir setzen uns in den nächsten KFC und essen Chicken Wings mit Pommes und trinken Bier dazu. Nebenbei läuft Fußball. Wir sprechen nicht über unseren Tag, was eigentlich nie vorkommt. Sondern über viele andere Dinge. Im Anschluss fahren wir ins Hotel, isolieren unsere Kleidung, waschen unsere Schuhe, unsere Jacken, unsere Haut und Haare. Wir trinken noch einen Tee und legen uns dann schlafen ...
Ich werde die nächsten drei Nächte von Tschernobyl träumen. Davon, dass ich nichts berühren, nichts trinken oder essen darf. Davon, dass ich schwer atme und immer wieder meine Kleidung wechseln will, da sie verstrahlt ist. Ich wusste nicht, dass ich dies träumen werde. Genau so wenig wussten die Menschen in Prypjat damals, dass die wunderschönen Farben aus der Reaktorexplosion ihr Ende bedeuten würden ...
© 2018 Dennis Hartke