4 - Nerd auf Skates

Rätsel-Gastbeitrag von Thomas Bauer     


"Sei kein Pukeko!"

Die Stimme meines Vaters hallt in meinen Ohren, als ich die Inlineskates anschnalle und den Gehweg entlangblicke, der sich in mein Dorf hinabschlängelt. Knallrot sind die Rollen unter den Schuhen, das sieht schnittig aus. John hat mir die Skates geliehen, als ich ihm von der Sache mit Karen erzählt habe.

Unten im "Cornershop Bistro" lädt mein Vater gerade meine Mutter zum Abendessen ein, weil heute Valentinstag ist und er vergessen hat, Blumen zu kaufen. Mein Vater war Rugbyspieler. Er hat es bis in unsere Nationalmannschaft, die "All Blacks", geschafft. Das ist lange her, doch noch immer ist er beinahe so breit wie hoch, und manche Passanten weichen aus, wenn er ihnen entgegenkommt. Meiner Mutter gegenüber jedoch ist er linkisch wie ein Lausbub. Ständig muss er sich für Dinge entschuldigen, die er gemacht oder versäumt hat.

Ich selbst kann mit Rugby wenig anfangen. Dafür weiß ich viel für mein Alter. Das Erdkundereferat letzte Woche war ein Klacks. Wer hat unser Land entdeckt? Dass Abel Tasman unsere Doppelinsel als erster Europäer betrat (und dabei mutmaßte, sie gehöre zum heutigen Chile) und James Cook sie ein Jahrhundert später kartographierte, weiß doch jedes Kind. Karen hatte mir zugeblinzelt, als ich bei der Frage verächtlich geschnaubt hatte, und mir war ein Blitz ins Herz gefahren. Reden kann ich, das kommt vom Bücherlesen. Leider aber zählt Rhetorik nicht viel in unserem Land. Hier kommt es darauf an, wie gut man segelt und Fußball spielt. Wer uns besucht, stürzt sich an Seilen von Brücken, pflügt im Schlauchboot durch Flüsse und springt mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug.

Jetzt nehme ich Fahrt auf ...Karen hat das alles schon gemacht, obwohl sie erst fünfzehn ist, ein halbes Jahr jünger als ich. Nachdem sie mir zugeblinzelt hatte, fragte ich ihre Freundin Rose, was diese Geste zu bedeuten habe. Seitdem versuche ich das Wort, mit dem sie mich bedacht hat, abzuschütteln. Ein "Nerd" sei ich, wenngleich ein "süßer". Ich weiß nicht einmal, welches dieser beiden Worte schlimmer ist. Bin ich ein Computerfreak, nur weil ich eine Brille trage?

Dabei ist Rose ganz in Ordnung. Seit ich sie in der Matheprüfung von mir habe abschreiben lassen, schuldet sie mir einen Gefallen. So steckte sie mir, dass sie und Karen heute spazieren gehen würden - in den Hügeln, die unser Dorf so eng umschlingen, dass es sich am südwestlichen Ende zuspitzen muss und dadurch die Form eines gigantischen "V" annimmt. Am offenen Ende, dort, wohin der Weg steil abfällt, liegt die Pegasus-Bucht.

Das sei meine Chance, Karen kennenzulernen, meinte Rose noch, und dass es hierfür keinen besseren Zeitpunkt gebe als den Valentinstag. Symbolisch aufgeladene "Zufälle" wie dieser sind für Frauen ja unheimlich wichtig. Dass ich den Gehweg jedoch auf Inlineskates herunterbrettern werde, weiß auch Rose nicht. Ich habe geplant, lässig an den beiden vorbeizuschlittern und dabei etwas wie "Ach, Karen, du bist ja auch da!" zu rufen. Das ist aber nur der Einstieg zu meinem eigentlichen Vorhaben. Es ist ein "Nerd-Experiment". Ich will etwas Wichtiges über mich herausfinden: Wenn ich immer mal wieder den Mutigen spiele, werde ich dann eines Tages tatsächlich mutig sein?

Der Gehweg vor mir stürzt dem Pazifik entgegen. In unserem Dorf benutzen wir Aufzüge, um zu unseren Häusern zu kommen. Per Seilzug ziehen wir Supermarkteinkäufe hinauf. Unsere Wohnungen balancieren halb über dem Abgrund, der sich jäh zum Meer hin öffnet. Hinter den Hügeln, vom Landesinneren her, leuchtet die Stadt herüber, die älteste und erhabenste unseres Landes. Abends strahlen ihre Lichter die Wolken von unten her an. So nah ist sie, dass viele unser Dorf für einen ihrer Vororte halten. Dabei sind wir durch drei Hügelketten von ihr getrennt.

Schroffe Wände aus Vulkangestein umgeben den Gehweg, in den ich jetzt einbiege. Die erste Kurve nehme ich souverän. Ich schneide sie sogar, obwohl der Weg dort weniger als einen Meter breit ist. Das sieht bestimmt elegant aus. Schade, dass Karen mich noch nicht sieht.

Jetzt nehme ich Fahrt auf. Bald sirren die Rollen unter meinen Füßen wie eine übergroße Libelle. Ich beginne zu schwanken. Aber ich will kein Pukeko sein, kein Wakapo und kein Weka. Diese unförmigen, fluglahmen Vögel, für die unsere Doppelinsel bekannt ist, konnten nur überleben, weil ihnen über Jahrhunderte hinweg keine Raubtiere nachstellten. Wie hätten die Jäger auch hierher gelangen können? Die nächstgelegene größere Landmasse befindet sich anderthalbtausend Kilometer entfernt.

Erst im Gefolge der Europäer kamen Hunde und Katzen, Ratten und Frettchen zu uns - zum Leidwesen unserer Vögel. Woher soll ein Pukeko wissen, wie man sich gegenüber den Neuankömmlingen verhält? Meistens bleibt er wie erstarrt stehen.

Dort, wohin der Weg steil abfällt, liegt die Pegasus-Bucht ...Auch ich bin, sobald es brenzlig wurde, lange Zeit wie erstarrt stehen geblieben. Jetzt endlich stelle ich mich den Herausforderungen! Rasant nehme ich die zweite und die dritte Kurve. Von weit unten meine ich Karens Stimme zu hören.

Mit jedem weiteren Meter werde ich schneller. Vielleicht hätte ich John noch fragen sollen, wie man mit diesen Dingern eigentlich bremst.

In der vierten Kurve liegt ein Kieselstein auf dem Weg. Mein rechtes Bein wird nach außen gezogen; ich schreie auf und rudere mit den Armen. Kurz darauf fange ich mich wieder und lege mich in die fünfte Kurve. Auch diese meistere ich mit Bravour.

Ich bin vielleicht kein Supersportler wie mein Vater einer war. Aber ich bin wild entschlossen, flügge zu werden. Bald werde ich "the big OE" machen, die Overseas Experience, oh ja, ein Jahr lang werde ich um die Welt ziehen. Bei den Aussies werde ich vorbeischauen und bei den Chinesen, obwohl die alle bei uns zu sein scheinen: Sie kaufen unser Land in großem Stil und widmen Schaffarmen in Rinderzuchtanlagen um. Vielleicht schaue ich mir auch Europa an, wo alles eng und überfüllt ist.

Hinter der sechsten Kurve blitzt etwas auf. Ich erschrecke: Da ist das Mosaik eines Pukekos. Eine Sekunde bin ich abgelenkt. Schon beginnen die Skates unter mir zu tanzen. Es ist ein Rhythmus, den ich nicht kenne. Tapsig versuche ich, meine Beine parallel zu halten. Ich schwinge in der Hüfte vor und zurück - und jetzt sehe ich Rose und Karen, die erwartungsvoll in meine Richtung blicken.

Geht es unserem Land wie mir? Schlittern wir auf eine vernetzte und digitale Welt zu, auf die unsere Nachbarn besser vorbereitet sind? Haben wir zu lange isoliert gelebt? Sind wir ein Volk von Pukekos?

Nein, verdammt, das sind wir nicht! Wir spielen vielleicht nicht die erste Geige im Konzert der Weltmächte. Klein sind wir wie Frodo, der Hobbit aus dem "Herrn der Ringe". Seine Füße mögen behaart sein und unser Lebensstil verstaubt. Wir sind zufrieden, wenn wir Essig auf unsere "Fish and Chips" träufeln, unseren Watties-Ketchup, und einen Blick aus dem Fenster unseres Hauses hinaus aufs weite Land genießen können. Genügsam sind wir, das verträgt sich schlecht mit den atemlos wuchernden Megacities ringsumher. Am Ende aber ist der Kleinste mitunter der Größte. Weil es vielleicht gar nicht so sehr darauf ankommt, stärker und schneller und ruchloser zu sein als die anderen. Sondern darauf, Lebensqualität zu definieren. Das immerhin haben wir geschafft.

Frodo hat nie aufgegeben ...Frodo hat nie aufgegeben. Doch ehe er zum Ringvernichter werden konnte, musste er seine Gebrechlichkeit und Schwäche offenlegen. Ähnlich ergeht es mir, denn ich rase direkt auf Rose und Karen zu. O je, so nah wollte ich Karen dann doch nicht kommen, zumindest jetzt noch nicht! Ich wackele inzwischen hektisch mit den Hüften, was äußerst unvorteilhaft aussehen muss.

Dabei rolle ich so schnell den Hang hinunter, dass ich die gelegentlichen Büsche auf den Felsen zu meiner Rechten nur noch verschwommen wahrnehme. Ich sehe graugrüngrau, und die Rollen der Inlineskates klingen nicht mehr wie eine Libelle, sondern wie ein wütender Wespenschwarm.

Jetzt bin ich da! Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Rose zur Seite springt, dann rase ich wie eine irre Pistolenkugel zwischen den beiden hindurch. Ich blicke in Karens verdutztes Gesicht und merke, dass sie mich erkennt. Was ich ihr sagen wollte, habe ich nicht vergessen; ich bin nur zu schnell unterwegs, um den ganzen Satz anzubringen.

"Ach, Kareeeeen", gelle ich, dann zieht mein Schrei mit mir fort, dem Pazifik entgegen. Ich höre eine Lachsalve hinter mir und weiß im selben Moment, dass Rose mir diese Geschichte in den kommenden Monaten immer wieder genüsslich auftischen wird.

Erst auf der Esplanade, kurz vor dem Ozean, komme ich zum Stehen. Vor mir erhebt sich Tuawera, der "Cave Rock", ein poröser Felsen, der wie ein Walgerippe am Strand liegt. Geschafft! Immerhin bin ich ohne Blessuren unten angekommen.

Karen wird mich verstehen. Wie ich ist sie hier geboren. Ich habe noch einige Chancen, das weiß ich. Frodo musste ebenfalls Rückschläge in Kauf nehmen. Ich drücke den Rücken durch. Dann drehe ich mich um, mache Rose und Karen weit oben aus und winke ihnen zu.

Vielleicht bilde ich es mir nur ein, doch ich meine, dass sie aufhören zu lachen. Mit etwas Glück findet Karen meinen waghalsigen Stunt am Ende sogar "süß" und gar nicht "nerdig". Und irgendwann werden wir gemeinsam tauchen oder segeln gehen. Es ist ja erst Mitte Januar, der Sommer ist noch lang. Er kann mein Sommer werden und der lange Sommer unseres Landes. Es liegt in meiner, in unserer Hand.

Wo kann man Gelegenheiten schließlich besser wahrnehmen als auf unserer Insel, wo man uns solche halsbrecherischen Aktionen verzeiht, weil wir alle ein bisschen wie Frodo sind? Wo kann man unverblümter auf eine zweite, eine dritte und eine vierte Chance setzen als in meinem kleinen, großen, heißblütigen, V-förmigen Dorf, das beinahe so heißt wie "Sommer"?


  • Habt ihr herausgefunden, wo der wo der junge Nerd einen Abhang hinunterbrettert und sein Flirtversuch stattfindet?

© 2021 Thomas Bauer


Anm. der Red.: Weitere Beiträge von Thomas Bauer finden sich in unserer Autorenübersicht!