1 - Das Glück der DrehschüsselspielerinRätsel-Gastbeitrag von Thomas Bauer |
"Hey Kumpel, kannst du mir mal eben helfen?"
Der Ein-Meter-Neunzig-Mann löst sich vom Arm seiner Freundin und blickt sie fragend an. Sie nickt, und unwillkürlich muss ich lächeln. Wenn sie sich reckt, reicht sie ihrem Freund bis zu den Augenbrauen. Trotzdem wird schnell klar, wer von den beiden das Sagen hat.
Als der Riese "Yes, I can" sagt, klingt er nicht wie Barack Obama; eher erinnert er an Arnold Schwarzenegger. Deutsche, tippe ich, oder Österreicher. Natürlich konzentriere ich mich ganz auf die Frau. Schon jetzt ist mir klar, dass sie in weniger als zwei Minuten ihrem Freund einen Wink geben wird, damit er mir einen Schein in den Hut legt.
Die Leute meinen immer, dass man begabt sein müsse, um auf der Straße erfolgreich zu sein. Sie erwarten, dass man eine besondere Fähigkeit zur Schau stellt. Das ist Unsinn. Kann Axl Rose singen? Tanzt Britney Spears wirklich gut? Hat Elvis jemals eine Zeile der Lieder, die er sang, geschrieben?
Mir schräg gegenüber sitzt seit einigen Tagen ein junger Gitarrist. Die Töne, die er seinem Instrument entlockt, sind wie Regentropfen, die auf den Wüstenboden fallen. Willig macht ein Akkord dem ihm folgenden Platz. Alles fügt sich ineinander, nichts knarzt, nichts holpert, und ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich den Takt seiner Lieder mit dem Fuß auf den Boden klopfe.
Es nützt ihm nichts. Ungerührt gehen die Leute an ihm vorbei. Seine Musik ist ein Fluss, ein stetiger Strom ohne Anfang und Ende, in den sie keinen Einstieg finden. Und wie ein Fluss rauscht sie an ihnen vorüber.
Bei mir aber bleiben sie stehen. Ich weiß, worauf es ankommt: Seit dreißig Jahren sitze ich hier. Ich habe Hunderte junger Künstler kommen und gehen sehen. Sie hatten Geigen und Trommeln dabei, Clownsmasken und brennende Fackeln, spannende Begabungen oftmals und immer große Träume. Die meisten von ihnen waren nach wenigen Tagen wieder fort.
Ich bin noch immer hier. Vor zwanzig Jahren habe ich meine Arbeitszeiten bei der Post halbiert und vor zehn Jahren ganz beendet. Seitdem bin ich "freischaffende Straßenkünstlerin". Ich verdiene etwas mehr als früher und muss nicht länger um fünf Uhr in der Früh Briefe sortieren und Werbekataloge verteilen. Wie ich das gemacht habe? Nun ja, ich wende einige einfache, aber effektive Tricks an. Vor allem aber hilft mir die Stadt, in der ich meine Kunst zum Besten gebe.
Ich habe ein Instrument gebaut, das originell genug ist, um die Neugier der Passanten zu wecken. Auf einem Holzsteg habe ich Schüsseln aneinandergereiht und von groß nach klein sortiert. Wenn man die Schüsseln mit Hilfe einer Kurbel zum Drehen bringt, muss ich nur noch ihre Ränder mit feuchten Fingern berühren. Auf diese Weise erzeuge ich Melodien.
Doch das ist nicht alles. Ich bin nicht sonderlich musikalisch und muss manchmal dem Drang widerstehen, einen Teil des Geldes, das in meinen Hut fliegt, zu dem jungen Gitarristen zu tragen, der tapfer Lieder auf die Passanten regnen lässt. Er ist mir gegenüber im Nachteil. Ich habe mich direkt neben einer Statue postiert, die sich am Beginn der Fußgängerzone befindet. Die Statue erfüllt eine wichtige Aufgabe: Sie bremst die Leute ab. Es bringt ja nichts, zum Beispiel in einem stickigen Durchgang zur nächsten U-Bahn-Station zu sitzen, durch den die Passagiere hasten, um den nächsten Zug zu erwischen. Hier dagegen sammeln sich Touristengrüppchen um die Figur - ich weiß nicht einmal, wer das ist. Sie blättern in Reiseführern oder schießen Fotos.
Aus den Augenwinkeln heraus sehen sie mich dabei schon. Sie fragen sich, was das für ein seltsames Ding sein mag, das vor mir in der Sonne glänzt. Wenn sie weitergehen, wählen sie verstohlen die Straßenseite, auf der ich mich befinde. Sie blicken dabei in eine Gasse, die ihnen auf den ersten Blick wenige Reize bietet. Weder wartet sie mit einladenden Cafés auf noch präsentiert sie imposante Bauwerke. Sie strömt jedoch, das ist nicht zu leugnen, eine angenehme Gemütlichkeit aus. Da könnte man doch, ehe man diese Straße entlanggeht, noch rasch einen Blick auf die kleine Frau mit dem seltsamen Musikinstrument werfen. Vielleicht lohnt es sich gar, sie zu fotografieren?
Dieser kurze Moment des Zögerns genügt mir. Meist frage ich sie, woher sie kommen, oder bitte sie, mal kurz an dem Rad zu drehen, das die aufgereihten Schüsseln in Bewegung setzt. Die wenigsten widersetzen sich diesem Ansinnen. Schließlich wollen sie herausfinden, wie dieses Ding funktioniert.
Was folgt, dauert niemals länger als anderthalb Minuten. Es reicht nämlich völlig, wenn meine Zuhörer eine Melodie erkennen. Das Stück muss nicht virtuos gespielt werden. Wichtig ist vielmehr, dass sie das Gefühl haben, ich hätte es ausschließlich Ihnen dargebracht. Dann ist es ihr Lied geworden.
Mit der Zeit habe ich mich auf Nationalhymnen spezialisiert. Das sind eingängige Melodien ohne Überraschungen, und die Leute fühlen sich geschmeichelt, wenn man ihrer Heimat auf diese Weise huldigt. Ich kann fünfundzwanzig Hymnenrefrains auswendig, das deckt achtzig Prozent der Besucher ab. Kommen doch mal Leute aus Albanien, Belize oder Curaçao vorbei, kennen sie unter Garantie Lieder wie "Hey Jude" von den Beatles oder "Satisfaction" von den Rolling Stones. Nach anderthalb Minuten sind die nächsten Passanten an der Reihe.
Hier kommt die Stadt ins Spiel, die mir meine Existenz als Drehschüsselspielerin ermöglicht. Die Vergnügungssucht unseres Volkes ist unersättlich. Immer und überall muss uns etwas geboten werden, ständig halten wir nach neuen Reizen Ausschau. Wahrscheinlich ist niemand auf der Welt so rasch gelangweilt wie wir. Rund um die Uhr melden Radios Verrücktheiten, locken Versuchungen auf Plakatwänden, feuern Fernseher Versprechungen in die Wohnzimmer. So verwandeln wir Bürger in Konsumenten, ohne dass sie es merken. Hinter jeder Bedürfnisbefriedigung winkt ein noch angesagteres Produkt. Ergraute Philosophen aus Europa mögen darin den Niedergang unserer Kultur sehen. Einer Kultur, deren Geschichte ohnehin nicht allzu weit zurückreicht. Ich dagegen meine, dass sie einfach nur neidisch sind. Jenseits des Atlantiks sind die Leute zur Abstraktion begabt, wir dagegen zum Genuss.
Oh ja, wir genießen sie: all die Annehmlichkeiten, die uns aufgeschwatzt werden. Wir freuen uns auf sie wie Kinder auf neues Spielzeug. Nicht umsonst dient einer von uns, der sich einst den Briten entgegengestellt hatte, inzwischen als Namenspatron der hiesigen Biersorte. So gehen wir mit unseren Helden um.
Ihr solltet sie sehen, die jungen Leute unserer Stadt, wenn sie sich am Freitagnachmittag in Schale werfen, wenn sie auf den Barstühlen im Freien sitzen, die Partybusse zum Wanken bringen und ausgelassen auf dem Hafengelände zum Beat der Mighty Mighty Bosstones tanzen! So leben sie den Moment, ohne sich um die Folgen zu scheren. Sie mögen es, wenn ihnen eine alte Drehschüsselspielerin dabei eine Disney-Melodie vorspielt, wohingegen sie ihre Schritte bereits wieder beschleunigen, wenn sie beim Gitarrenvirtuosen vorbeikommen.
Meine Stadt gehört seit Jahrzehnten zu den ersten, die Neues erfinden, so wie wir die ersten waren, die unser Land besiedelt und aufgebaut haben. Dieses Land, dem wir millionenfach mit Fahnen, Fanfaren und flotten Sprüchen huldigen. Der Ruf unserer Universitäten schallt um die Welt. Von überall her strömen die Besten herbei, um bei uns zu lehren und zu lernen. Darum wirkt unsere Stadt größer, als sie ist. Schaut man sie genauer an, sieht man, dass selbst im Zentrum nur vereinzelt Hochhäuser stehen - beinahe, als hätte man deren Bau hier nur geübt. Ansonsten dominiert roter Backstein, der in manchen Vierteln abends von Gaslaternen effektvoll in Szene gesetzt wird.
Da wir uns im Nordosten unseres Landes befinden, in der Nähe einer Sprachgrenze, haben wir nicht verlernt, über den Tellerrand zu schauen. Mit den Cowboys, die in den endlosen Ebenen zwischen Ost- und Westküste umherreiten, oder den Rednecks, deren Nacken vom Schuften auf den Feldern von der Sonne verbrannt sind, haben wir wenig gemeinsam.
Außer vielleicht das: Seit wir begonnen haben, unsere Städte in Vergnügungsparks zu verwandeln, bringen wir die Menschen dazu, Geld auszugeben, das sie nicht haben. Darin sind wir wirklich gut. Bei uns ist alles so teuer, dass sich die Maßstäbe auflösen. Wir bezahlen ohnehin per Kreditkarte; manch einer bekommt erst später, wenn er wieder zuhause ist, die Rechnung zu Gesicht. Weil wir ständig und überall die Nachfrage ankurbeln, ist unsere Stadt reich geworden. So können wir entspannt bleiben. Gästen drängen wir uns nicht auf. Wir grüßen sie freundlich und wissen, dass sie dem Netz aus Vergnügungen, das wir engmaschig gespannt haben, ebenso wenig entkommen wie wir selbst.
Dieses Mal sind es also Deutsche. Oder Österreicher. Eine auf dem Boden angebrachte rote Linie, die unsere Hauptsehenswürdigkeiten aufreiht, hat sie zu mir gebracht. Der Ein-Meter-Neunzig-Mann kurbelt, und ich frage seine Freundin beiläufig, woher sie kommen. Aus Berlin, das wird eine meiner leichtesten Übungen. Ich lege die feuchten Finger auf die Schalen. Die ersten Takte erklingen, Einigkeit und Recht und Freiheit. Über das Gesicht des Mädchens huscht ein Lächeln. Wieder einmal danke ich meiner Stadt, die das Land ankurbelt, seit Hunderten von Jahren schon, deren Kreativität nie versiegt, und die mir seit dreißig Jahren ein Auskommen ermöglicht - mit einem Beruf, den es anderswo nicht geben könnte.
"Danke, Kumpel", flöte ich dem Schwarzenegger-Verschnitt noch zu, als er einen Schein in meinen aufgestellten Hut segeln lässt.
Schon kommen neue Schaulustige. Es sind zwei Koreaner, ich kann sie mittlerweile von anderen Asiaten unterscheiden, das werden meine nächsten Kunden. Ein paar Takte Gangnam Style dürften das Eis brechen.
Ich bin guter Dinge: Einer der beiden trägt ein Sweatshirt, auf dem der Name meiner Stadt prangt. Die sechs Buchstaben leuchten herüber, als die beiden auf mich zukommen. In großen Lettern steht dort ...
- Habt ihr herausgefunden, wo die clevere Drehschüsselspielerin ihre Musik darbietet? (Tipp: Die gesuchte Stadt reimt sich auf eine Himmelsrichtung)
© 2021 Thomas Bauer
- "Das Glück der Drehschüsselspielerin" als Video - mit Thomas Bauer und dem Musiker Markus Rill