Grönland - Einmal von der Bildfläche verschwinden
Von der Schönheit der Monotonie ...
"Manche Menschen klettern auf hohe Berge oder surfen riesige Wellen, um etwas Extremes zu erleben. Für mich war es Grönland".
Grönland war nie eine meiner Reiseideen. Den alten Bildband im Bücherregal hielt ich für einen Lückenfüller. Ich dachte immer, dass ich ein Sonnenkind bin. Wollte Strände und Palmen sehen. Doch als ich beruflich in die Touristik wechselte, zog es mich immer wieder in den Norden - ein Virus hatte mich gepackt. Vergessen war der Gedanke an gebräunte Haut und Cocktails an der Strandbar, ich wollte nur noch Regen, Wind und Schnee. Und dann dieses Angebot - nach Grönland!
Ich hielt mich zum Zeitpunkt des für mich legendären Anrufes gerade in Island auf, lebte bereits 6 Wochen im Zelt und dachte, mir könnte nichts besseres passieren, als meine Zeit noch in der Arktis zu toppen und zwar mit dem "Ende der Welt" ...
Grönland war in meinem Leben immer etwas Unerreichbares: Etwas, was ich nur von Bildern kannte. Niemals hätte ich geglaubt, diese Reise zu unternehmen. Sie sollte alles in den Schatten stellen, was ich bisher erlebt hatte ...
Zuerst nach Reykjavik in Island - es geht es los. Nur für eine Nacht schlafen wir auf dem städtischen Campingplatz, bevor der Wecker in aller Früh klingelt. Auf geht´s mit unserem Gepäck zum zentralen Flughafen: Bald ist alles eingecheckt, alle sind bereit für das größte Abenteuer unseres Lebens. Das kleine Flugzeug (Fokker 50) schraubt sich durch die Wolken und bald ist nichts mehr unter uns zu sehen als die Wolken und der endlose Atlantik. Grönland liegt nur 300 km von Island entfernt, somit kann niemand im Flugzeug schlafen. Nach nicht einmal zwei Stunden ist es soweit: Das Flugzeug beginnt den Sinkflug und nun sind alle Augen draußen.
Der erste Eindruck, Grönland von Oben zu sehen, ist unvergesslich: Langsam kommen die riesigen Berge näher, langsam gerinnt der Ozean zu endlosem Weiß, wie das Blut in meinen Adern. Nebel schlängelt sich entlang der Berghänge und unsere Maschine setzt hart auf der kleinen Sandpiste auf. Wir sind nun in Grönland, in Kulusuk, dort wo alles Land endet: Ja, das ist das "Ende der Welt"!
Ein kurzer Gang zum Ufer und bald liegen unsere Rucksäcke in den kleinen Motorbooten der lächelnden Inuit, die uns ins benachbarte Tasiilaq auf der Ammassilak-Insel fahren wollen.
Vom ersten Moment an raubt Grönland uns den Atem: Auf dem Boot wird es eisig. Der Wind zieht in jede Ritze. Jetzt tauchen auch schon die ersten Eisberge auf. Hier erfüllt sich ein Kindheitstraum. Berauscht von diesen Eindrücken landen wir in Tasiilaq, dem Hauptort der Ostküste. Unser Zeltlager liegt direkt am Fjord. Nachdem wir alles aufgebaut haben, ruhen wir uns ein wenig aus, lernen uns gegenseitig kennen. Darauf beginnt ein kleiner Rundgang durch das Dorf. Wenn man aus unserer geregelten Welt in die der Inuit eintaucht, kann der ein oder andere schon große Augen machen. Natürlich befinden wir uns hier in einem Land der Extreme: Gesellschaftlich wie auch in Bezug auf die Natur um uns herum ...
Am Abend sitzen wir gemeinsam im Camp und sprechen über die kommenden Tage der Reise. Wir sind uns sicher, dass die nächsten Tage voller Naturerlebnisse sein werden.
Nach einer ersten unruhigen Nacht brechen wir nach dem Frühstück auf zu einer lokalen Wanderung. Ich denke, wir alle müssen uns erst an das Klima und die Umstellung gewöhnen, jetzt sehr weit weg von Zuhause zu sein. Auch die nächsten Tage werden wir mit Wandern verbringen. Ob zum Polarstrom, durch das Tal der Blumen oder auf den Hausberg, um Tasiilaq aus der Ferne zu betrachten, liefert uns die Arktis Eindrücke, die wir nur schwer verarbeiten können.
Wieder im Dorf kaufen wir etwas im lokalen Supermarkt ein und besuchen Robert Peroni in seinem Roten Haus. Einmal einen echten Abenteurer kennenzulernen, war schon immer ein Traum von mir. Wir lauschen gespannt bei einem Espresso seinen Erzählungen ...
Still wandern wir wieder zurück in unser Camp: Verwirrt von unseren ersten Tagen, bestürzt von dem gesellschaftlichen Verfall der Inuit und deren Kultur. Es bedarf keiner Schönpinselei. Doch gleichzeitig zieht es unsere Gedanken hinaus in die Wildnis: Das ist der Grund warum wir hier sind.
Die Ausrüstung gepackt, unsere Zelte abgebaut und es geht am nächsten Morgen hinaus aus dem Fjord. Willkommen im größten Skulpturenmuseum der Welt! Funkelnd wie Millionen von Diamanten ragen Eisblöcke empor, erheben sich die Festungen aus Eis vor uns. Schlösser von gigantischer Kulisse. Wir entdecken Kunstwerke wie kein Künstler sie schaffen kann, Gemälde wie kein Maler sie malen kann. Wir entdecken die Schönheit der Monotonie ...
Das Wasser ist ruhig und unser Ziel ist bald erreicht. Am Rande des Dorfes Kuummiut schlagen wir unser Lager auf. Jetzt sind wir wirklich angekommen: Unsere Zeit in Grönland kann jetzt beginnen!
Berge umgeben uns, ein kleiner Süßwasserlauf erlaubt uns Frischwasser zu schöpfen. Der Nebel wird nie verschwinden. So sind die ersten Eindrücke, nachdem wir unser Lager aufgebaut haben. Zusammen wandern wir entlang des Fjords: Nur wenig ist von der massiven Landschaft zu sehen.
Wir konzentrieren uns auf die Miesmuscheln in den Buchten und sammeln diese für unser Abendmahl. In gut 30 Minuten sind wir im Dorf. Hier leben noch wahre Jäger. Robbenfleisch und Fisch hängen an den Giebeln, Eisbärenfelle über dem Geländer, überall liegen Dinge herum. Die Häuser sind in einem schlechten Zustand. Die kurze Saison erlaubt es kaum, Reparaturen vorzunehmen.
Wir werden von jedem Bewohner freundlich begrüßt. Wenn ich dies so betrachte, stellt sich mir die Frage, was diese Menschen haben und wir nicht - nicht umgekehrt! Ihre Freundlichkeit ist unverfälscht rein und dabei stehen wir weißen Menschen tief in ihrer Schuld. Die Bergkulisse lässt alles erstarren, was wir bisher in unserem Leben gesehen haben. Postkartenstimmung gibt es auf jedem Bild, das man in Grönland schießt ...
Die nächsten Tage verbringen wir mit Wanderungen um Kuummiut herum. Sogar ein Wal lässt sich kurz in der Bucht blicken. Wir sind uns in der Reisegruppe einig, dass wir lieber einen Wal als einen Eisbären sehen möchten - und falls doch, dann bitte nur aus der Ferne. Wir sind zwar mit allem ausgerüstet: Gewehr, Munition, Leuchtraketen und Satellitentelefon, aber trotzdem wäre ein Eisbär nur aus der Ferne lieb. Dafür begegnet uns ein kleiner Jäger recht häufig: Ein Polarfuchs schleicht regelmäßig um unser Camp herum und bedient sich an unserem Müll, den wir sorgfältig verpacken. Doch schützen wird uns dies nicht. Bereits in der folgenden Nacht wühlt der Eindringling wieder unsere Kisten durch. Die Sauerei, die der Polarfuchs verursacht, beseitigen wir allerdings erst am nächsten Tag. Bevor all dies jedoch passiert, sitzen wir mit unseren Muscheln am Fjord und bestaunen den Sonnenuntergang: Niemand spricht, alle schauen bloß zu. Mehr ist auch nicht nötig.
Einige Tage später: Die Boote werden wieder beladen. Wir wollen weiter, nordwärts. Mit hoher Geschwindigkeit rasen wir durch die Fjorde. Die Inuit kennen ihr Land genau, deshalb vertrauen wir ihnen. Irgendwo verspüren wir Abenteuergeist. Das ganze hat etwas von einer Expedition.
Wir fahren zum Knud Rasmussen Gletscher: Dort angekommen schlagen wir unser Camp direkt an seinem Rande auf. Die Aussicht ist nicht mit Worten zu beschreiben. Eine über 20 Meter hohe Mauer aus Eis bereitet uns Herzklopfen. Hier werden wir die nächsten Tage verbringen. Wir sind nun fernab von jeglicher Zivilisation. Hier draußen gibt es keine Verbindung zur Außenwelt, kein Handynetz, kein Geld ist nötig, niemand wird uns begegnen, nur wir selbst begegnen uns.
Die Zeit vergeht und wir lassen die Seele baumeln: Zum ersten Mal scheint mein Zuhause so weit weg. Ich fühle mich in der Welt zu Hause, doch hier ergeben sich Fragen, die ich mir vor der Reise nie gestellt hätte. Ich sitze stundenlang am Wasser und blicke zum Gletscher. Fast minütlich brechen Giganten aus Eis ab und stürzen ins Wasser. Dass die Gletscher verschwinden, ist kein Geheimnis. Doch der Blick wird immer wieder übertroffen von diesem unglaublichen Panorama, in dem ich mich hier befinde. Inzwischen schlafe ich so tief wie schon lange nicht mehr. Jeden Tag stehe ich ausgeruht auf, egal wie kalt die Nacht oder der Tag auch ist. Seit langer Zeit finde ich wieder Ruhe, um meine Gedanken zu sortieren.
Hier in Grönland denkt niemand daran, Geschäfte zu machen oder an die Arbeit daheim. Niemand denkt an Reichtum, an Geld. All die Hektik, die rennende Zeit, die Straßenschluchten gefüllt von Autos, all dies ist so fern und nebensächlich. Wir konzentrieren uns nur auf das, was jetzt gerade passiert. Wir pflegen nur unsere Grundbedürfnisse, kochen zusammen, wandern zusammen, fühlen Wärme, und schöpfen das Wasser direkt aus dem Flusslauf nebenan, in welchem wir ebenso baden. Und plötzlich wird uns bewusst, wie wenig wir eigentlich zum Leben brauchen. Hier in Grönland kommen wir zurück zu unserem eigentlichen Wesen. Zu uns Menschen.
Die Sonne steht auch am nächsten Tag wieder am Himmel. Nochmal wandern wir entlang des Fjords und bestaunen Gletscher, hüpfen über Geröll, lassen uns mit den dicken Eisbrocken am Ufer fotografieren. Wir lieben diese Reise, dieses Land und behalten jeden Schritt in Erinnerung. Doch so intensiv dieses Erlebnis auch ist, so wenig wir auch auf die Tage und die Zeit achten, wird doch der Tag kommen, an dem wir wieder Schritt für Schritt in Richtung Zivilisation müssen.
Die Boote stehen wieder bereit, die Inuit winken uns lächelnd entgegen: Zeit für den Abschied. Mit langen Gesichtern steigen wir ins Boot in Richtung Tasiilaq. Wir wollen dort noch einiges unternehmen, aber nach dieser Zeit in der Natur ist selbst ein kleines Inuitdorf zu viel für uns. Wir fühlen uns ein Stück weit entfremdet von menschlichen Begegnungen. Auf dem Weg nach Tasiilaq halten wir an einer verlassenen Militärstation der Amerikaner. Die Endzeitstimmung gefällt mir, auch wenn mit dieser Station einst der Untergang der Inuitkultur weiter gefördert wurde.
Die Fjorde gehen auseinander und die See wird unruhig. Wind kommt auf und unser Boot beginnt zu schaukeln. Und dann, plötzlich, taucht ein riesiger Buckelwal neben uns auf. So nah habe ich Wale nie gesehen. Der Wal bleibt bei uns, dreht sich auf den Rücken und taucht mit seiner weißen Bauchseite unter uns her. Wir schreien vor Glück ... Der Wal taucht wieder neben uns auf und bläst uns seine Fontäne direkt ins Gesicht. Ich zähle dies zu den wertvollsten Momenten in meinem Leben. Als er sich dann mit der Fluke, seiner Schwanzflosse, verabschiedet, winken wir, jubeln und liegen uns in den Armen. Ein Hoch auf Grönland!
Die letzten Tage sind wir wieder in Tasiilaq: Wir wandern am Nordufer, lassen es uns gut gehen und kaufen für unsere letzten dänischen Kronen Souvenirs. Doch der Tag kommt, an dem wir Abschied nehmen: Wir fahren zurück nach Kulusuk. Winken Robert Peroni, den Dorfbewohnern und Grönland. Bald sitzen wir wieder in der Maschine nach Reykjavik. Zurück dorthin, wo es alles gibt. In die moderne Welt. Ob wir darin klarkommen werden? Bestimmt. Aber wir werden verändert zurückkehren. Daran besteht kein Zweifel ...
Nach jeder Reise kehren wir ein Stück verändert nach Hause zurück und ja, hin und wieder denke ich an Grönland mit jeder Faser, welche dann in mir vibriert. Der kulturelle Verlust dieses Volkes geht genauso schnell vor sich, wie die Gletscher sich auflösen.
Mit jedem Schritt den ich gehe, mit jedem Tag den ich lebe, hinterlasse ich irgendwo Spuren. Aber nicht in Grönland: Dort hinterließ ich nur meine Fußspuren im Schnee und diese hat der Wind schon lange wieder fortgetragen ...
© 2015 Dennis Hartke
Anm. der Red.: Autor Dennis Hartke machte im Jahr 2009 seine Ausbildung zum Reiseleiter beim späteren travel to life, einem Erlebnisreiseveranstalter und Ausbildungsinstitution für Reiseleiter und Outdoorguides. Im Jahr 2013 wurde er zum ersten Mal in Grönland unterwiesen, ein Reiseziel, das zum festen Programm des Veranstalters gehört. Die oben beschriebene Tour von Dennis erfolgte ca. Mitte August (s.a. künftige Touren), das Programm des Veranstalters hat den Schwerpunkt Outdoor, Nachhaltigkeit, Wandern, Begegnungen und Erholung. Mittlerweile gibt es auch ein YouTube-Video zu einem kurzen Interview von Dennis bei 0511/tv.lokal.
Und: Weitere Beiträge von Dennis finden sich in unserer Autorenübersicht!