Randbezirk Petersburg
Ich wollte mal das Meerufer in Petersburg sehen und begab mich dazu nach einem intensiven Blick auf den Stadtplan in die Metro Linie 3, um an der Station Zenith auszusteigen, in deren direkter Nähe sich das Meer laut Karte befinden sollte. Das war eine herbe Enttäuschung, diese Station ist eigentlich nur für die große Sportarena gedacht, die vollständig eingezäunt und abgesperrt ist. Eigentlich könnte man die Station auch an allen Tagen schließen, wenn dort keine Veranstaltung stattfindet.
Also bin ich bis zum Ende der Linie 3 gefahren, Begovaja, und habe dort erst einmal das große Einkaufszentrum Atlantic City besichtigt, was wohl übergroß geplant und fertiggestellt wurde, jedoch kaum Besucher zu verzeichnen hat. Sonderbarerweise waren aber fast alle Läden in Betrieb. Nur das angegliederte Schwimmbad hat wohl nie eine wirkliche Funktion gehabt ...
Beim Ausgang Richtung Meer erschrak ich fast, als ich dachte, auf der rechten Seite stünde ein Generationenraumschiff, das bald die Erde verlassen würde, wenn es denn von Musk den richtigen Antrieb eingebaut bekäme. Es erwies sich, dass diese überdimensionale Rakete das Verwaltungszentrum von Gazprom ist. Danach bin ich durch einen kleinen Park zum Meer spaziert ...
Am Newski Prospekt neben dem früheren Singer Haus, das heute ein Kaufhaus ist, gibt es am Kanal im Keller eine von vielen 24 Stunden-Gastronomieeinrichtungen, die über ganz Petersburg ebenso wie die Bierbuden verstreut sind. Dort kann man günstig nach Kantinenart eine reichliche Auswahl von Speisen und Getränken bekommen. Am Ende der Kasse steht immer eine Flasche Wodka mit kleinen Gläsern für den schnellen Aperitif ...
Kronstadt
Auf dem Weg nach Kronstadt: Man fährt bis zum Ende fast einer Metro Linie und dort kann man dann in einen Bus umsteigen, der über das Haff nach Kronstadt fährt. Angekommen an der Metrostation wollte ich noch einen Saft trinken und ihn in der Markthalle kaufen, wo es auch ein kleines Café gab. Allerdings standen die Stühle alle auf den Bänken, obwohl man im Café Essen zubereitete und verkaufte. Ich fragte den Leiter, ob ich mich auch mit einem Saft hinsetzen könnte: Nein, meinte er, er wäre Muselmane und jetzt wäre Ramadan und deshalb könnte er keine Sitzgelegenheiten anbieten.
Das Haff war noch weitgehend zugefroren, man konnte einige kleine Inseln sehen. In Kronstadt selber ist es ziemlich still, ich treffe Maxim, einen jungen Mann um die 23 Jahre, er kann sehr gut englisch. Wir spazieren zum alten Hafen, er kennt sich in der Geschichte Russlands sehr schlecht aus und weiß noch nicht einmal etwas vom Matrosenaufstand und der damit begonnenen Oktober Revolution. Er studiert Management (wie die meisten), ist im Sommer fertig und überlegt, ob er freiwillig zur Armee gehen will. Da er sowieso eventuell bald zwangsrekrutiert werden könnte, wäre es wohl von Vorteil, freiwillig in die Armee einzutreten, um einen besseren Job weit weg von der Front zu bekommen. Bisher würden nach seiner Aussage nur Männer bis zum 30. Lebensjahr in Russland zwangsweise in die Armee einberufen.
In Kronstadt fand der in Russland sehr unpopuläre Matrosenaufstand von 1921 statt, der sich gegen die bolschewistische Revolutionsvorstellung der diktatorischen Parteiherrschaft richtete und blutig niedergeschlagen wurde. Boris Jelzin erstellte eine Gedenktafel zur Rehabilitation, die sich heute im Schifffahrtsmuseum befindet.
In Kronstadt sieht man eine lange Reihe der alten Speicherhäuser, die zur Versorgung der Baltischen Flotte dienten. Ebenso sind immer noch einige Schiffe der Baltischen Flotte in Kronstadt stationiert.
Außerdem gibt es dort die prächtige Nikolai-Marienkathedrale, erbaut gegen Ende der Zarenzeit, zur Abwechslung mal aus weißen Ziegeln bestehend. Sie hatte ein wechselvolles Schicksal, wurde in der Sowjetzeit als Kinotheater genutzt und jetzt wieder in den Original Kirchenzustand zurückversetzt.
Am letzten Abend habe ich mich noch mit Maxim zum Billard verabredet und wir haben über Philosophie gesprochen, ebenso über Reisen. Er war zweimal in Dagestan gewesen, es gefällt ihm dort sehr gut, so wie auch mir, nur seine Freundin hatte es etwas schwerer wegen des konservativen Islam. Wir wollen in Kontakt bleiben ...
Peterhof
Später fahre ich mit dem Taxi nach Peterhof, um mir das Schloss des Europa zugewandten Zaren Peter der Große anzuschauen. Das Schloss ist komplett restauriert, es hatte schwere Schäden während der Einkesselung von Leningrad davongetragen, allerdings wirkt die Restaurierung sehr kitschig, wie überhaupt vieles in Russland immer einen Hauch von Kitsch hat.
Eine Besichtigung innen kostet 20 EUR (!), da es aber schon Spätnachmittag war, hätte sich diese Ausgabe für noch eine knappe Stunde nicht gelohnt, die es noch geöffnet war.
Zum Meer hin gibt es einen kleinen Pavillon, wo im Sommer auch die vielen Touristen per Schiff anlanden. Heute ist es sehr still hier, auf dem Weg sieht man halbzahme Eichhörnchen, die von Touristen mitunter Nüsse bekommen.
Später frage ich eine kleine Frau an der Haltestelle nahe Peterhof, welchen Bus ich ins Zentrum nehmen muss. Sie erklärt mir auf englisch, wie ich bis zur nächsten Metrostation komme. Sie ist Führerin im Peterhof-Palast, arbeitet 7 Tage von 10 bis 17 Uhr, bekommt dafür monatlich ca. 1.000 EUR und hat nach 7 Tagen Arbeit immer zwei Tage frei. Selten macht sie auch mal eine Führung für Italiener oder Spanier, aber nicht für Deutsche. Ihr Vater war Lette, die Mutter Russin, ihr Nachname Schutzki sei lettisch. Sie selber ist in Sibirien aufgewachsen und seit 2004 in Petersburg. Sie hofft, dass in einigen Jahren wieder Normalität zwischen Russland und Europa eintreten wird.
Der Bus hat Probleme mit dem Getriebe, mal werden wir rausgeschmissen, dann wieder zurückgerufen, nach drei Haltestellen qualmt er und dann müssen wir doch umsteigen ...
Das erinnert mich an den Song von ABBA Gemini - Ghost Town und dessen Textzeile "and when the engine dies". Ein junger Mann im Bus hört unser englisches Gespräch und fragt interessiert, woher ich komme und warum ich nach Petersburg reise. Ich antworte, bevor die Grenze möglicherweise bald geschlossen wird, wollte ich noch einmal Petersburg besichtigen. Ich gab ihm den Hinweis auf meine Seite lettlandweit.info ...
Die großen Straßen am Ufer in Petersburg zu überqueren, erinnert wie bereits erwähnt an die Geschichte aus dem Science Fiction Buch von Ballard "Der Block". Mitunter scheint man in einem Autobahnkreuz für immer gefangen zu sein, wenn man nicht die lebensmüde Tat wagt, die mehrspurigen, dauerhaft dicht befahrenen Bahnen zu überqueren ...
Schlüsselburg
Auf meinem Programm steht noch ein Ausflug nach Schlüsselburg, da ich zum einen den großen Ladogasee sehen will, zum anderen die Festung am Ausfluss des Sees ...
Dazu muss ich wieder mit der Metro bis zu einer Endstation fahren, Ulitsa Dybenko. Dort kann man einen Reisebus nach Schlüsselburg nehmen, der alle halbe Stunde die ca. 40 km dorthin fährt. Am Seitenfenster des Busses ist - wie schon oft - ein Aufruf zu sehen, freiwillig für viel Geld in die russische Armee einzutreten.
In Reichweite liegt die alte Festung Schlüsselburg, die ursprünglich schon um 1300 von Schweden erbaut wurde. Leider ist der Zugang nur per Schiff möglich und da die Saison noch nicht begonnen hat, kann ich nur aus der Ferne ein Foto machen. Zwischen Küste und Festungsufer befindet sich ein schmaler Landstreifen, der als natürlicher Hafen für Schiffe genutzt wird.
Im Jahr 1702 konnte Peter der Große schließlich die Festung der Schweden einnehmen, es war, wie der Name sagt, der Schlüssel zur Ostsee und zu den vielfältigen Wasserwegen Russlands. Entsprechend gibt es ein Denkmal für ihn, allerdings scheint auch Lenin dort gleichberechtigt neben ihm zu stehen ...
Der Schatten Stalins
In einer kleinen Kantine spricht mich ein junger Mann an, Russe, er hat verstanden, dass ich nicht gut russisch spreche, somit versucht er mit mir in Englisch zu reden. Er meint, ich solle meinen Mantel besser an einem bestimmten Platz aufhängen, ansonsten würde er auf dem Boden dreckig. Wir kommen ins Gespräch: Er fragt, welcher Nationalität ich angehöre, ich frage, ob man mit dem Schiff nach Kronstadt fahren kann, dann unterhalten wir uns über Russland, den Zweiten Weltkrieg, Stalin. Gerade wird es interessant, über Stalin zu diskutieren, als ein OMON-Mann reinkommt und er sich daraufhin entschuldigt und schnell verschwindet ...
Er meinte vorher noch, es gäbe drei Einstellungen zur Sowjetzeit auf Seiten der Russen:
A) diese Zeit war schlecht, die Zarenzeit war besser
B) die
Sowjetzeit war gut, die Zarenzeit war schlecht
C) Russland muss
sich ganz neu entwickeln und völlig anders als in der Zaren- und
Sowjetzeit.
Im Hotel hatte direkt vor mir noch eine Lettin eingecheckt, mit gutem Deutsch wollte sie mir dann etwas helfen. Sie arbeitet im Goethe-Institut, ich fragte, ob sie nicht ihren Job verlieren wird, jetzt, wenn sie nach Russland reist? Weiß sie nicht, sie hat jedenfalls nicht angegeben, dass sie nach Russland reisen wird ...
Die Brutalität, Willkür und Zugriffsmacht des russischen System steht im krassen Gegensatz zur jederzeit anzutreffenden menschlichen Hilfsbereitschaft Fremden, Ausländern und besonders Deutschen gegenüber.
Die Angstmentalität in Russland, hervorgerufen schon durch die Strenge der Zarenzeit und noch vervollständigt in der Sowjetzeit von 1917 bis ca. 1992, steckt den Menschen immer noch tief im Blut, und wird in Teilen von der Administration im selben Stile gehandhabt.
Das kleine persönliche Leben steht im Vordergrund, ein paar Freunde, die Familie und das war’s. Darüber hinaus denken nur Wenige, weil sie in dem großen Spiel der Politik nicht involviert sind, daran nicht teilnehmen. Ich sehe das Kleine und das Große: Doch das Große möchte nur in Interessengruppen seine Privilegien verteidigen, ohne über die Gesamtheit nachzudenken oder diese zu berücksichtigen. Um sich zu bekämpfen, geben sie mehr Geld aus, als eine Lösung für die Menschheit auf diesem Planeten anzuvisieren.
Auch in Russland werden alle kapitalistischen Formen von Selbstdarstellung der Reichen gefeiert. Ebenso wird der westlichen und mittlerweile globalen Konsummode hinterher gegeifert, Fast Food, Vape Shops, man springt auf Äste, die zerbrechlich sind wie der Baum des Lebens ... Immer neu wird versucht, was nicht zu erlangen ist, der Friede auf Erden.
Ein bekannter Rentner aus Lettland schrieb mir zur den Russlandartikeln: Ich kenne die Russen seit Kindesjahren, spreche russisch sogar besser als lettisch - und musste seit 2008 (Krieg in Georgien) trotzdem alles umdenken. Der lettische Theaterregisseur Alvis Hermanis, der lange Jahre in Moskau arbeitete, sagte: Das ist ein Mega-Kollaps, den der Westen jetzt erlebt - Illusionen und Missverständnisse über Russland:
- Der Westen versteht nicht, dass die Russen eine andere Zivilisation sind. Optische Täuschung. Sie sehen einfach europäisch aus. Ich betone, dass sie keine Menschen zweiter Klasse sind, sie sind nur - anders organisiert.
- Es hat in Russland noch nie eine Gesellschaft in dem Sinne gegeben, was wir darunter verstehen, dass sie sich selbst organisieren kann. Nur eine Herde oder Biomasse, die einer Person gehorcht.
- Ist das russische Volk nicht verantwortlich für das aggressive Verhalten des Imperialismus? Im Gegenteil, wenn Sie alle Arten von Stalin loswerden, ändert sich nichts und alles beginnt von vorne. Denn die Idee des Imperialismus kommt direkt von den Menschen selbst.
- Russische Oppositionelle sind jedoch nur selten Russen. Wie wir heute sehen können, sind es hauptsächlich Juden oder Tataren und andere. Ja, es sind Russen darunter, aber wenige.
Der wesentliche Punkt ist meiner Meinung nach, das die Russen psychologisch anders gestrickt sind als der Westen. So lange wir im Westen aber meinen, die Russen müssten so handeln und solche Moralvorstellungen entwickeln wie wir, endet es bestenfalls in einem Kalten Krieg. Wir werden uns auch im Westen damit abfinden müssen, dass insbesondere der größte Nachbar Russland ist, und wir versuchen sollten, nachbarschaftliche Verhältnisse aufzubauen, auch wenn wir in vielen Dingen andere politische Vorstellungen haben.
Allerdings konnte ich auf meiner Reise feststellen, dass die einfachen Menschen dieselben egoistischen kleinlichen Bedürfnisse für sich, ihre Familie und engen Freundeskreis haben und zu erreichen suchen wie im Westen.
Der Egoismus ist das geringste Übel, aber die Gier vernichtet jede Personalität und jedes Individuum. Überall steht man unter einer Herrschaft, die einen zu ihren eigenen Zwecken benutzen und konditionieren will, was dem Individuum nicht zuträglich ist. Desto mehr Menschen auf der Erdkugel leben, umso größer wird die Enge des immer feinmaschigeren Kontrollnetzes, um die Massen im Zaum zu halten.
Sich aufopfern für irgendeinen idealistischen Scheiß - nein danke. Sein eigenes Leben verbrennen für und in der Wirklichkeit des austauschenden Daseins! Oder wie es auf einer Tür zu einem Internetladen in Kirow stand (Bild rechts): GAME: ON, WORLD: OFF ...
© 2024 Michael Gallmeister, Lett-landweit
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