Auf zum Krater!

4:30 Uhr: Ausgestattet mit Lunchpaket und Wasser geht es los zum Ausgangspunkt. Nach 45 Minuten Fahrt kommen wir am Startpunkt an: Das Basislager am Tolbatschik auf 1.400 m Höhe. Hier reihen sich Zelte aneinander, denn von hier sind viele Bergtouren möglich. Wir sind alleine an diesem Morgen und Nebel zieht auf.

Wir werden ca. 6 Stunden für den Aufstieg benötigen und ca. 3 Stunden wieder hinunter, so heißt es. Ich bespreche mich kurz mit Alexey, der uns begleitet, und schnell werden wir uns einig, dass wir Sascha auch mitnehmen werden, falls jemand nicht mehr weiter kann oder möchte.

Nebel zieht auf ... Wandern ins Ungewisse ... Durch eine Welt ohne Pflanzen ... ... und durch Lavafelder

Wir wandern los: Die Sicht liegt bei Null Meter. Schroff, Schwarz und bizarr erstreckt sich der Lavastrom neben uns. Wir wandern ins Ungewisse hinein. Wir bleiben dicht zusammen, denn bald werden wir das Lavafeld queren müssen. Nach rund 30 Minuten haben wir es geschafft. Dann folgt das erste Schneefeld.

Weiter zieht sich der Weg durch braune, rötliche, grüne und gelbe Felder, kleine Hügel und Kegel hindurch, immer wieder steigt Dampf auf. Und dann, langsam, verschwindet der Nebel und legt ihn frei - den Tolbatschik! Mit Schneehaube steigt er vor uns empor, wirkt immer größer bei jedem Schritt und langsam verstehen wir, dass dies kein einfacher Marsch wird.

Wir schreiten voran in eine Welt voller Leere, ohne auch nur eine Pflanze. Das "Nichts" ist nun unser Zuhause. Immer tiefer gelangen wir in die vom Wind umpeitschte Ebene, hinauf auf die erste Anhöhe. Bereits nach dem ersten Teil melden sich die ersten drei Teilnehmer ab: Sie wollen nicht mehr weiter, dieser Weg scheint ihnen zu gewaltig. Sascha muss umkehren, jetzt hängt alles von Alexey und mir ab. Wenn noch ein Teilnehmer umkehrt, müssen wir alle folgen, denn Sicherheit geht vor Sightseeing!

Weg durch braune, rötliche, grüne und gelbe Felder ... Unterwegs zwischen Hügeln und Kegeln ... Tolbatschik mit Schneehaube ... Trotz fantastischer Ausblicke: Sicherheit vor Sightseeing ...

Wir pausieren kurz, dann zieht sich unser Weg weiter. Auf Ebene zwei: Wir sprechen kaum, laufen konzentriert, Meter um Meter, Stunde um Stunde. Kein Anzeichen eines Aufstiegs, kein Anzeichen, dass wir dem Tolbatschik näher kommen, doch dafür gibt es nun immer mehr Sonne und immer mehr Hitze. Wir fangen an, unsere Ausrüstung umzufunktionieren, trinken mehr und mit jeder Etappe wächst der Hunger. Schnell stelle ich fest, dass mein Lunchpaket nicht reichen wird, so auch nicht mein Wasser. Das Problem ist, dass es hier kaum trinkbares Wasser gibt, außer Schnee, den wir schmelzen könnten ...

Nach weiteren Metern, weiteren Stunden sind wir auf Ebene zwei angekommen: Der Berg rückt näher, der Schnee nimmt wieder zu, Wind kommt auf. Wieder pausieren wir, wieder essen wir. Von nun an werden sich die Pausen häufen, wir sind nun bei rund 2.500 m angekommen. "Ach", denke ich, "das wird locker klappen".

Doch nun nimmt der Wind zu und die Kälte kriecht mit jedem Schritt in unsere Knochen. Das Problem der Tour ist nicht, dass wir keine Erfahrung haben oder der Weg gefährlich ist. Nein, der Weg zieht sich wie ein Kaugummi fort und erfordert Durchhaltevermögen ohne den Gedanken an den Rückweg, denn dann kehrt man sofort um. Und sollte man nur diese Gedanken im Kopf haben, dann ist die oberste Aufgabe, sich zu erinnern, wo man hier gerade ist. Am Ende der Welt! Dort wo es die meisten aktiven Vulkane gibt! Und ich habe das Privileg, einen solchen zu erklimmen! Nicht auf Sizilien, nicht auf Hawaii, nicht in Island! Das hier ist fucking Kamtschatka, verdammt nochmal! Es ist egal wie sehr man schwitzt, friert oder wie weit man läuft! Diese Reise teilen bisweilen nur wenige Menschen auf der Welt mit uns! Also los geht’s! Aufwärts!

Und so steigen wir weiter: Mit der einen oder anderen Teepause schaffen wir es bis 100 Meter an den Kraterrand heran, bis die nächsten Teilnehmer aufgeben wollen. Es erscheint einfach so unglaublich weit. So unerreichbar. Ich sage zu Alexey, dass wir die Sache unterschätzt haben. Der Wind ist inzwischen bei über 70 km/h und ich habe keine Lust auf Sturm auf dem Gipfel, zudem kommen immer mehr Wolken. Was wenn das Wetter dreht?

Ich sage, ich bleibe unterhalb des Kraters zurück mit den anderen, doch Alexey sagt, dass es nicht möglich ist. Wir können die Gruppe nicht trennen, auch keine 100 Meter voneinander. Da ich immer auf Einheimische höre, denn sie kennen sich am besten aus, rufe ich nochmal zu letzten Reserven auf. Nur noch 100 Meter, also kommt schon!

Geschafft: Ankunft am Kraterrand ... Blick ins Herz der Welt ..? Stolz auf erfolgreiche Leistung!

Und tatsächlich, wir schaffen es: Vor uns liegt der Krater des Tolbatschik, den ich bislang nur aus wenigen Büchern kannte und aus wenigen Berichten von ihm erfuhr. Der Blick in den Krater ist mit nichts zu vergleichen. Hier wird Erde geschaffen! Hier ist der Herzschlag der Welt! Das hier ist Fernost!

Wir alle liegen uns in den Armen, machen Fotos, lachen, frieren. Wir können nicht lange bleiben, einige bekommen Kopfschmerzen von den vulkanischen Dämpfen, vielleicht schon von der Höhe. Auf Kamtschatka ist das Empfinden von Höhe anders als etwa in den Alpen oder dem Himalaya. Das Gefühl der Höhenveränderung tritt hier wesentlich schneller auf und somit kommt hier die Höhenkrankheit auch viel schneller und niedriger vor, als woanders auf der Welt.

Um den Kopfschmerz zu bekämpfen hilft nur eines: Tee trinken und absteigen! Somit ist der Spaß des Kraters nach nur wenigen Minuten vorbei. Wir steigen ab!

Langsam zieht sich unsere Gruppe den Krater hinunter in Richtung Tal, das nun mit Wolken verhangen ist. Auch der Nebel ist zurück. Wir können nichts sehen. Nur Nebel und Schnee, über welchen wir laufen. Langsam geht es weiter, Schritt für Schritt. Was wir noch nicht ahnen ist, dass es ein zermürbender Marsch werden wird ...

Meter um Meter, Stunde um Stunde geht es hinab, doch wir sind viel langsamer als beim Aufstieg. Immer wieder müssen wir pausieren. Einigen schmerzen die Füße, andere haben sich vollkommen überschätzt. Gut, ich muss sagen, ich bin es gewohnt, bis ans Äußerste zu gehen. Ich kann quasi im Laufen sterben, wenn es sein muss, deswegen fühle ich die Anstrengung weniger. Ich bin ständig draußen, oft monatelang in der Wildnis und kenne nichts anderes als Laufen und Schleppen, deswegen ist es ein anderes Gefühl, doch ich kann die Teilnehmer verstehen.

Der Krater wird unvergessen bleiben ...Ich fange an, meine letzten Snacks zu verteilen, Alexey gibt seine Wasserreserven her. Wir werden schon wieder zum Camp kommen, es ist einfach ein langer Weg. Unsere Gesichter sind rot und verbrannt von der Sonne, die Haut trocken von dem Wassermangel, unsere Zungen trocken, doch wir müssen weiter absteigen, mit jedem Meter sind wir näher dem Ziel. Wie durch eine endlose Wüste zieht sich unsere Menschenschlange, die letzten Fünf der Gruppe. Keiner spricht mehr für Stunden, niemand hat etwas zu sagen ...

Wenn man so durch die Einöde läuft, kann man auch schnell Hass gegen eine Landschaft entwickeln. Aber es ist kein Hass, es ist eher die Herausforderung der Landschaft, die uns zeigt: "Ihr kleinen Menschen seid so schwach und ich bin so mächtig." Die Braunbären müssen das gleiche denken, wenn sie hier von Tal zu Tal wandern. Ich kann mir vorstellen, dass auch die genervt sind und fluchen würden ...

Während wir so durch die Stille schreiten und keine Menschenseele nun für Stunden auftaucht, muss ich an vergangene Reisen denken. Wie oft war ich nun schon weit draußen? Wie oft in der Natur und wie oft schon in ihr gefangen? Welche Wege ich schon beschreiten musste, um das hier machen zu können. Mir kommt es so vor, als sei jede Reise nur ein Training gewesen für das, was ich hier gerade erlebe.

Wie weit ich schon durch die schottischen Highlands, durch das isländische Hochland oder den Himalaya gelaufen bin. Ich bin kein Bergsteiger, ich bin Wanderer, von mir aus auch "Walker". Wie weit mich der Beruf schon getragen hat! In das Eis der Arktis, in die Wüste Arabiens, in die Karpaten Osteuropas und bis an die Hänge des Fujis in Japan. Jedes Mal bringe ich eine neue Erkenntnisse mit nach Hause und teile immer wieder die Gleichen. Ja, die Wege sind weit, ja es ist irgendwann anstrengend, aber dennoch - es ist mein Leben und ich lebe es! Genau hier, genau jetzt, genau so!

Während ich so hinter der Gruppe hertrotte, an kaltes Bier denke und mir vorstelle, wie geil jetzt ein Swimmingpool wäre, höre ich plötzlich aus der Ferne ein "Konnichiwa!" In Gedanken versunken blicke ich auf und sehe eine Gruppe Japaner, die auf uns zu kommt und in die Landschaft hineinläuft. Es ist, als würde plötzlich die Wüste zum Leben erwachen und erst jetzt realisieren wir, dass unser Truck bereits in Sicht ist. Ich blicke auf die Uhr und finde heraus, dass es nun knapp 13 Stunden waren, die wir gelaufen sind.

Als wir am Truck ankommen, freuen sich die anderen Mitreisenden über unseren Erfolg: Wir liegen uns in den Armen. Das war ein langer Ritt! Eine lange Tour! Auf zum Camp!

Im Camp angekommen verziehen sich manche direkt ins Bett, andere sitzen zusammen und trinken ein Bier auf unseren Erfolg. Es war ein langer Tag und wir alle sind müde - aber dennoch, war es ein Erfolg! Während wir uns über den Aufstieg unterhalten, denke ich nochmals an den Abstieg: In der Ferne konnte man zwischendurch die Richtung nach Kozerevsk erkennen. Ich bin mir sicher, dass die Leute dort gerade froh sind, ihre Kartoffeln zu ernten und den Fisch zu räuchern. Sie freuen sich des Lebens und so freuen wir uns auch ..!


© 2018 Dennis Hartke


Anm. der Red.: Weitere Beiträge von Dennis finden sich in unserer Autorenübersicht!