Erste Hilfe EXTREM!Bei den Johannitern kann man es lernen ...
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Es ist Januar 2005 und wir bekommen Post von der Johanniter Unfallhilfe: Absenderin ist Christine Müller und sie lädt ein in die Johanniterschule in Wertheim zu einem viertägigen Kurs "Erste Hilfe EXTREM". Anfang März soll er stattfinden. Ein schneller Blick in den Terminkalender zeigt: Eine Teilnahme ist möglich und sofort wird die Anmeldung zurückgefaxt.
In der ausführlichen Anmeldebestätigung, die kurze Zeit später kommt, ist unter anderem eine Liste der mitzubringenden Ausrüstung enthalten:
Für Übungen im Freien, bei Nacht und im Wasser sollen Taschenlampe, Säge, Axt, festes Schuhwerk, unempfindliche Outdoorkleidung und Badesachen eingepackt werden. Ein Freund sieht die Liste und sofort wird über Notamputationen, Leichen verbuddeln, Schwimmen in winterlichen Gewässern und ähnliches gelästert. Der Hinweis, es handele sich nicht um einen Survival-Kurs, sondern um einen Erste-Hilfe-Lehrgang beruhigt nur bedingt und wirft die Frage auf: Wo sind die Grenzen zwischen Survival und Erster Hilfe ..?
Obwohl es bereits Anfang März ist, zeigen sich Landschaft und Temperatur noch sehr winterlich, als ich nach Wertheim fahre. Die Johanniterschule ist schnell gefunden, die Beschilderung macht es einfach.
Im Kursraum erwartet uns unser Coach, Kurt Zoller - ein sehr erfahrener Rettungsassistent - mit einer gigantischen Menge an Ausrüstung. Wir sind vier Teilnehmer, zwei weitere Teilnehmer bleiben dem Kurs fern und melden sich auch nicht ab. Ganz schön blöd, denn sie verpassen eine Menge.
Auf unserem Platz liegen Schreibzeug und ein Seil, das unser stetiger Begleiter wird, damit wir hilfreiche Knoten üben können.
Auf einem Tisch stehen eine Unzahl von Büchern zum Thema Survival, Medizin und Reiseausrüstung bereit, in denen wir in den Pausen schmökern können. Man kann sich so recht gut einen Überblick verschaffen, welches Buch Sinn macht und welches Buch weniger geeignet ist. Kurt Zoller berät uns gerne.
Richtig neugierig sind wir aber auf die Militärkisten: Da gibt es jede Menge Utensilien für den medizinischen Notfall - Handschuhe, Verbandsmull, Pflaster, Hightech-Schienen wie Sam Splint, Bandagen, Verbandstücher, allerlei Tinkturen und und und ... Man erfährt von Unterschieden zwischen militärischem und zivilem Verbandsmaterial und kann die Qualitätsunterschiede prüfen.
Eine der ersten Aufgaben besteht darin, eine Notfallausrüstung zusammenzustellen: Wir bekommen eine umfangreiche Checkliste, dennoch wird unter den Kursteilnehmern heftig diskutiert über Mengen, Gewicht und Größe der Ausrüstung. Braucht man Zuckerteststreifen, wenn kein Diabetiker mitreist? Braucht man wirklich Dreieckstücher, wenn man immer Halstücher dabei hat? Kann man die Anzahl der Blasenpflaster reduzieren, wenn man nur gut eingelaufene Schuhe mitnimmt? Irgendwie schaffen wir es, unsere Pakete zu schnüren. Es geht nämlich nun nach draußen in den verschneiten Wald ...
Zweck der Übung: Wie kann man ein Unfallopfer transportieren? In der Theorie sieht es einfach aus, aber hier im Wald? Auf glatten Wegen? Bei Schnee und Kälte? Kurt hat allerlei mitgebracht: So finden wir unter anderem einen Regenumhang, Rücksäcke, Schlafsack, Plane, Walking Stöcke, Iso-Matte, Seile, Gurtschlaufen. Alles kommt zum Einsatz und wird ausprobiert. Zum Schluss bauen wir aus einem Seil und gesammeltem Holz eine Trage und verpacken den ebenfalls teilnehmenden Christian warm und gesichert darauf. Nun macht sich das Üben von Knoten schon bezahlt: Wir müssen unser Opfer durch den Wald tragen und es soll ihm beim Transport nichts passieren. Obwohl Christian ein Leichtgewicht ist, merkt man schon, dass der Transport mühsam ist. Auch hier weiß Kurt Rat, mit Trageschlaufen wird alles leichter und bald kommt Christian wohlbehalten auf dem Parkplatz an.
Zurück in der Schule wird alles noch einmal besprochen: Zu jedem Thema erhalten wir ein ausführliches Heft, so dass man am Ende mit einer ganzen Literatursammlung nach Hause fährt. Auch an den folgenden Tagen wechseln sich Theorie und Praxis ab. Beim Blutzuckertest merkt man, dass es gar nicht immer so einfach ist, an den begehrten Tropfen Blut zu kommen ...
Blutdruck messen, mit dem Stethoskop abhören, mit verschieden geformten Skalpellen schneiden, Nahtstreifen aufsetzen, aus Iso-Matten Halskrausen basteln, offene Brüche versorgen, den richtigen Umgang mit Alkoholtupfern und vieles mehr können wir im Schulungsraum üben. Der Griff zum Handschuh wird für uns immer selbstverständlicher. Allmählich lernen wir Dinge, die man im "normalen" Erste-Hilfe-Kurs gelernt hat, kritischer zu sehen: Die viel gepriesene stabile Seitenlage ist z.B. nur in wenigen Situationen sinnvoll. Draußen in der Wildnis reicht es nicht, den Patienten zu versorgen, wir müssen über Transport, Übernachtung, Schutz vor Wetter usw. nachdenken.
Kurt weist uns in die psychologische Betreuung von Hilfsbedürftigen ein, er berichtet über die verschiedenen Notrufsysteme, die man in der Wildnis nutzen kann.
Die Theorie wird wirkungsvoll vermittelt: Mit bildhaften Schemata, Merksätzen und Merkbegriffen werden die wichtigen Zusammenhänge dargestellt. Stets ist Zeit für Diskussion. Die Theorie wird anhand von Fallbeispielen umgesetzt. Neben Wissensvermittlung ist ein Ziel des Kurses, uns in die Lage zu versetzen, aus der Situation heraus Entscheidungen zu treffen. Nicht zögerlich und ängstlich reagieren, sondern nachdenken, entscheiden und die Entscheidung dann umsetzen, das soll unser Handlungsprinzip sein.
Immer wieder kommen wir ins Freie: Bei einem Besuch der Burg in Wertheim versorgen wir am Wegesrand einen offenen Bruch. Wir setzen zum Richten des Bruchs Spezialmaterial ein und probieren das Richten auch mit einfachen Mitteln. Beides geht! Zwei der Kursteilnehmer arbeiten bei Vaude und haben eine Klappsäge mitgebracht. Auch sie wird sofort ausprobiert für den Bau einer Trage und hat den Test bestanden. Auch die Erste Hilfe Pakete, die Vaude den Kunden anbietet, werden gesichtet. Kurt hat da noch eine Menge guter Ideen, wie man diese Pakete verbessern könnte. Wir sind gespannt, ob Vaude das umsetzt ...
Höhepunkt ist jedoch die Nachtübung: Mit allem, was der Schminkkasten hergibt, bastelt Kurt an meinem Unterschenkel einen offenen Bruch. Blut fließt reichlich. Der Knochen steht heraus. Fast meine ich beim Anblick meines Beines Schmerzen zu fühlen. Als Unfallopfer liege ich in einer Höhle und obwohl ich sehr warm angezogen bin, spüre ich den eiskalten Felsboden. Die Vorstellung, dass man hier mehrere Stunden auf Hilfe warten müsste, ist mehr als unangenehm.
Bald schon kommen die anderen Kursteilnehmer den Hang herauf gestiegen. Ich jammere erbärmlich und sie entdecken mich in der Höhle. Mir wird schnell und professionell geholfen: Ich werde warm verpackt, man kümmert sich um mein Bein, meine Platzwunde am Kopf wird versorgt, liebevoll versucht man, mich zu beruhigen und bereitet den Transport vor. Ich weiß, dass wir Kursteilnehmer zu Beginn des Kurses eher geringe Erste Hilfe Kenntnisse hatten, aber die Art und Weise, wie ich jetzt hier im eiskalten Dunkeln, in der Enge der Höhle, im Schein von Taschenlampen versorgt werde, zeigt, dass Kursleiter und Kursteilnehmer exzellent gearbeitet haben.
Jedem, der sich häufiger in einsamen Gegenden aufhält und jedem, der sich in Notfallsituationen besser verhalten will, sei dieser Kurs empfohlen: Man lernt sehr viel, kann viel üben auch unter realistischen Bedingungen und das Ganze macht auch noch eine Menge Spaß!
Auch die Rahmenbedingungen stimmen: In der Johanniterschule wird man bestens versorgt. Das leibliche Wohl kommt nicht zu kurz. Die Verpflegung ist sehr gut. Wir werden sogar mit frisch gebackenem Apfelkuchen verwöhnt. Im Kühlschrank gibt es Abends immer ein paar Flaschen Bier und auch heimischer Wein steht für die abendliche Fachsimpelei bereit ...
Wer sich für den Kurs interessiert, findet alle weiteren Infos unter Erste Hilfe EXTREM. Unser Fazit: Klasse!
© 2005 Sixta Zerlauth, Bilder: Sixta Zerlauth / Priska Wucherer