Erg Chebbi - Tazzarine
Wir queren die Betonfurt über den Ziz, der jetzt im Winter hier nur noch sehr wenig Wasser führt, aber im Frühjahr zur Schneeschmelze kann diese Furt schon mal zum Abenteuer werden. Der Asphalt der Straße wird immer bröckeliger, Schlaglöcher zwingen zum Slalom und erste Sandschleier ziehen vom Wind getrieben quer über die Piste. Dann Ende der Straße, wir folgen einer der Hauptspuren genau auf das Nordende des Erg zu, und beim Näherkommen erkennt man es: apfelsinenfarbiger Sand in starkem Kontrast zum schwarz-braunen Hammadageröll, kilometerlang aufgetürmt, ein teilweise über 100 Meter hohes naturgeschaffenes Kunstwerk. Vor allem beim ersten Besuch ist der Anblick atemberaubend und, wenn sich dann auch noch ein knallblauer Himmel darüber spannt, unvergesslich.
Dann fahren wir uns auch noch kurz fest, und als mir klar wird, dass jetzt wohl die Bleche zum Einsatz kommen, nähert sich ein Frontera und schleppt uns raus. Ein sehr selbstloser Einsatz, wie sich herausstellt, denn die Kupplung des in Frankreich arbeitenden Marokkaners war schon vorher auf dem Nullpunkt. Da kann jede zusätzliche Anstrengung der Todesstoß für das Teil sein. Er ist mit seiner Familie als Tourist im eigenen Land unterwegs, seine Kids tragen Sonntagsklamotten und wühlen ausgelassen im Sand, während sich der waidwunde Frontera mit unserem T4 abquält. Ich bedanke mich überschwänglich, die Familie steigt wieder ein und weg sind sie. Solche Begegnungen sind es, die mir immer wieder Hoffnung machen, dass die Menschheit doch noch zu retten ist. Ich nehme mir vor, mich bei nächst passender Gelegenheit zu revanchieren, egal wer Hilfe benötigt ...
Gegen Mittag erreichen wir das Hotel Dune d´Or, ein Geviert mit Stampflehmmauer, Innenhof, Restauration und Herberge. Mit dem ansteigenden Dünengürtel dahinter macht es ordentlich was her, und die aneinander gebundenen Dromedare, die zur Touristenbelustigung ab und zu die Szenerie durchschreiten, komplettieren die Ansicht. Mittlerweile herrschen auch wieder wüstentaugliche Temperaturen, so dass wir beschließen, die Nacht in den Dünen unweit des Hotels zu verbringen. Es ist eine Kulisse, nach der sich der zivilisationsmüde Westeuropäer sehnt - und wir klammern uns da nicht aus - vorausgesetzt man verfügt über Kühlschrank, Heizung, Sprit und Wasser (darüber wird noch ausführlicher zu reden sein!). Eine Fototour die Dünen hinauf offenbart das ganze Ausmaß der Sandberge, das Auto dort unten mit dem aufgestellten Dach winzig klein, die Sicht über die Hammada grandios - nur unterbrochen von den Staubschleppen vereinzelt herannahender Fahrzeuge.
Es gibt dann noch eine "Verkaufsveranstaltung" vorm Auto, ich setze mich ebenfalls in den Dreck und feilsche aber eher lustlos um ein Paar Fossilieneier. Ein kühles Bier wünschte ich mir jetzt, aber das wäre der größtmögliche Fehler angesichts der beiden Kapuzenmänner, deren Alter man schlecht schätzen kann. Nicht weil man sie und ihre Religion vor den Kopf stoßen würde - nein. Sondern weil dann akute Gefahr für den Bestand unserer Biervorräte bestünde. Ich möchte hier niemandem zu nahe treten, zumal ich diese Zerrissenheit zwischen religiösem Gesetz und weltlicher Schwäche gut nachvollziehen kann - aber es ist nun mal so, dass viele von ihnen völlig geil auf Alkohol in welcher Form auch immer sind. Man weiß es, man spürt es, aber man sagt es nicht. Punkt. Und weil unser Biervorrat nur durch zwei teilbar ist, verzichte ich eben in diesem Moment. Eine Stunde später verlassen uns die beiden mit etlichen Kinderschuhen im Gepäck, und ich reiße mir die ersehnte Dose auf ...
Morgens beim Wachwerden erleben wir eine Szene, wie es sie nur einmal pro Urlaub gibt: Rötlich färbt sich der Himmel über den schwarzen Sichelbergen, wir schieben die Gardine beiseite, wischen das Kondenswasser weg, und sehen scherenschnittartig einige Dromedare oben auf dem Dünenkamm vorbeiziehen. Vorneweg der Führer, schaukeln diese Wüstenschiffe durch die aufgehende Sonne - einmalig, tatsächlich.
Ein weiteres Phänomen ist zu beobachten: Die Heizung springt nicht mehr an, und angesichts der 0°C draußen ist es kein Vergnügen, sich aus dem Schlafsack zu pellen und nach der Ursache zu forschen. Nach Einsatz von etwas Gehirnschmalz folgert dann die einzig mögliche Diagnose, dass die Gelbatterie ihren Geist aufgegeben hat - viel zu schnelles Absinken der Spannung hatten wir schon die Nächte zuvor bemerkt. Änderung der Planung also: Wir verlegen in den Süden des Erg zum Ksar Sania, einer gepflegte Hotelanlage mit angeschlossenem Camp und (hoffentlich) auch Stromanschluss ...
Die Fahrt durch die auseinander gezogenen Häuser von Merzouga ist reine Formsache. Lustig ist nur der Jugendliche mit Fahrrad, der kilometerlang neben dem geöffneten Autofenster herstrampelt und uns die Vorzüge der Pension seiner Familie erläutert. Als er dann auch noch auf Fremdenführer macht und uns einen Ausflug zum Flamingosee andrehen will, reicht´s mir und ich mache ihm klar, dass wir nicht zum ersten Mal hier sind und schon feste Pläne im Kopf haben. Dann mache ich aber den Fehler, ihm zu sagen, dass mir der Name seiner Pension völlig unbekannt ist, und er fragt mich nach der Aktualität meines Reiseführers, sieht den Buchdeckel und sagt, ich hätte eine veraltete Ausgabe. In der neuesten Version ist seine Pension beschrieben und hätte sehr gute Kritiken bekommen. Das alles radebrecht er auf verständlichem Deutsch, legt sich mit seinem altersschwachen Rad noch nicht mal auf den Bart bei dem Geholper, und warnt mich auch noch vor einem Stückchen Weichsand, das ich bei dem Palaver fast übersehen hätte. Unglaublich! Ein Multitalent wie so viele junge Männer hier, die verstehen aus dem Wenigen, was ihnen das Leben hier bietet, sehr viel zu machen. Das fängt mit der Geschäftstüchtigkeit an und hört mit der Sprachgewandtheit noch lange nicht auf ...
Trotz all seiner Bemühungen landen wir dann doch im Ksar Sania, sehr hübsch im hier üblichen Stil erbaut. Es wird auch permanent in Schuss gehalten, neue Anbauten entstehen, Palmen werden gepflanzt und gewässert, es gibt ein Restaurant mit Kolonialdekor, eine sehr bemühte Angestelltenschar und - das für uns das Wichtigste - einen Stellplatz zwischen Pälmchen mit Stromanschluss. Der Gipfel ist ein Waschhaus mit Toiletten, wie wir es in Afrika noch nicht sahen. Sauber, angenehm riechend, Wasser warm und mit genug Druck, Toilettenspülung funktioniert und ständig jemand, der hinterher wischt. Das verdient mindestens drei Sterne.
Das nutzen wir dann auch ergiebig: Sämtliche Akkus und die Gelbatterie werden geladen, wir waschen uns der Reihe nach den Dreck aus den Poren, gehen abends mit frischen Köpfen essen und fühlen uns erstmal sauwohl. Die sterbende Batterie machte uns mental den ganzen Tag zu schaffen, und hier ist es zunächst kein Thema mehr. Die Dieselheizung, jetzt von 220 Volt gespeist, ballert die ganze, saukalte Nacht hindurch, während die Sterne uns zufunkeln: morgen gibt´s ein Superwetter ...
Und genauso kommt es. Unser Spitzenwert bisher: 23,5°C und eine knallende Sonne über der Wüste. Das schreit geradezu nach einer Dünenwanderung, und da die Frauen sich lieber pflegen (rsp. Wunden lecken) wollen, schnapp ich mir den Sohnemann, Wasser und Kopfbedeckung und hopp, es heißt die Düne entern.
Aber es erweist sich als schweißtreibende Angelegenheit: 100 Meter Höhe sind kein Pappenstiel, wenn´s nach dem Prinzip zwei-rauf-einer-runter vorwärts geht. Es ist steiler, als es von Ferne den Anschein hat, und mein "kleiner Mann" spielt seinen erheblichen Gewichtsvorteil mir gegenüber aus - er wird nicht zum gefürchteten Bremsklotz. Oben angekommen, rollt er sich wie ein kleiner Hund durch den Sand und freut sich des Lebens: "Aussicht? Egal. - Algerien? Was ist das, Papa? - Welcher See? - Ich hab Hunger!" Kinder mit ihrem Wahrnehmungsbereich von wenigen Metern ringsum haben es manchmal eben leichter und freuen sich einfach, dass man hier so schön buddeln kann. Wir bleiben eine knappe Stunde dort oben und genießen, jeder auf seine Weise.
Totalen Spaß haben wir natürlich beim Runterlaufen, und nach 3-4 Stunden sind wir wieder im Camp. Aber man täuscht sich in der Entfernung; ich dachte schon, dass dieser Sandkoloss viel dichter am Ksar Sania liegt als es tatsächlich der Fall ist. Die gewaltigen Dimensionen berauben den Betrachter völlig einer einigermaßen annähernden Distanzschätzung. Egal, es ist der Höhepunkt des Tages gewesen und quasi ein Muss bei einem Aufenthalt hier.
Ein "Abfallprodukt" der Aussicht von dort oben: Eine graue, geschwungene Piste, die Merzouga in Richtung Rissani verlässt und sich gut sichtbar vom dunklen Hammadagestein abhebt. Wenn das mal nicht eine uns unbekannte Asphaltverbindung zwischen den beiden Städten ist?!
Jetzt wird auch klar, wie es die Unzahl von weißen Wohnmobilen mit ihren teils "reifen" Herrschaften hierher verschlagen hat. Ich wollte schon strammstehen angesichts des Wagemuts und der Abenteuerlust dieser älteren Semester (wenn die mir mit ihrem blöden Boulespiel mitten in den Dünen nicht so manches Foto versaut hätten und ich nicht immer noch dementsprechend geladen gewesen wäre!). Aber weit gefehlt, die rücken bequem kolonnenweise über Rissani an, und wir kämpfen uns über die Pisten und kommen hier völlig ausgemergelt an, während die schon die Wäscheleinen aufspannen und frisch toupiert sind. Das kommt davon, wenn man mit längst überholtem Reiseführer antritt ...
Am nächsten Vormittag kappen wir die Stromverbindung, checken aus und cruisen auf herrlichster Trasse Richtung Rissani. Jetzt bei der Abfahrt aus dem Tafilalet ist diese Straße zwar sehr komfortabel, aber wenn man auf ihr so easy das Wüstengebiet erreichen kann, und das zudem noch mit jedem unförmigen Wohnmobil, dann ist der letzte Rest von Abenteuer perdu. In ein paar Jahren machen sie aus dem Erg womöglich noch einen Safaripark mit Kassenhäuschen, Verbotsschildern, Parkflächen und allem Pipapo - es ist nur eine Frage der Zeit, dass hier ein paar findige Köpfe die mögliche Geldeinnahmequelle wittern.
Bis Tazzarine sind es etwa 160 Kilometer: Das Spektakuläre daran ist die Tatsache, dass die mehr oder weniger fahrbare Straße auf der ganzen Distanz kaum irgendwelche Siedlungen streift und einfach nur durch die Weite Marokkos führt. Man hat sehr viel Muße, die vorbeiziehende Landschaft zu beobachten, man kann auf freier Strecke mitten auf der Straße für ein Foto stehen bleiben, und sensible Naturen würden nach einer weiteren Stunde Einsamkeit laut rufen: "Ist denn hier niemand?" Die auffälligen Kilometersteine machen regelmäßig die Entfernungen in diesem Land deutlich, und wieder beschleicht einen der Gedanke, dass jetzt bitteschön nichts außer vielleicht einem geplatzten Reifen mit dem Auto passieren möge ...
Dieses Teilstück unserer Tour ist mal wieder ein Plädoyer für die individuelle Autoreise: Man ist frei in seinen Entscheidungen - Anhalten, Weiterfahren, Pause, Pinkeln, Fotografieren, Essen, Übernachten - das alles muss nicht großartig geplant werden, sondern wird ad hoc von maximal zwei Leuten entschieden, je nach Laune, Wetterlage und verfügbarer Zeit. Man fühlt sich wirklich frei - der Horizont weit, der Himmel unendlich - es entsteht eine Gefühlslage, wie wir sie in unserer engen, urbanen Welt zuhause fast nicht mehr kennen. Für uns ist diese Art von Urlaub die einzige Möglichkeit, diese eine der tief in uns schlummernden Sehnsüchte mal wieder an die Oberfläche zu kramen um zu erfahren, wie lebenswert es alles sein kann ...
Tazzarine ist eine schöne Stadt: Wir fahren auf sandigen Wegen direkt in die Palmeraie, um zum Camp Amasttou zu gelangen, einem liebevoll ausgestatteten Platz unter Riesen-Palmen. Es ist nicht viel los, und wir können unser Dach auf dem eigentlichen Gelände aufstellen, zwischen Nomadenzelten, mit Palmfächern abgeschatteten Wegen und einer Explosion von blühenden, rankenden Pflanzen. Die komplette "Garteneinrichtung" - Stühle, Tische, Sitzbänke - sind ausschließlich aus Naturmaterialien hergestellt, viel Handwerkskunst und Kleinarbeit, Palmflechtarbeiten wohin man sieht, selbst der Klorollenhalter wurde von dieser Filigranarbeit nicht verschont. Dazwischen vielstimmiges Vogelgeschrei, der milde Wind streicht durch die Palmwedel, und die auffällig in Einheitsweiß gekleideten Bediensteten verbreiten in ihrer ganzen Art Ruhe und Gelassenheit, die auch schnell auf uns übergreift.
Nach einem Spaziergang durch die labyrinthartigen Gänge der Kasbah, wo wir mit erstaunten, zurückhaltenden und doch neugierigen Blicken verfolgt werden, bestellen wir im Camp für abends ein Cous-Cous, zu dem wir uns am kleinen Pool einfinden. Auf niedrigen Flechthockern können wir die Anlage überblicken, über uns knipst sich ein Stern nach dem anderen an, und wir haben das Gefühl, dass wir hier in einem subtropischen Garten gelandet sind, der die bösen Geister der Wüstennacht fern hält. Lange haben wir uns nicht mehr so geborgen und geschützt gefühlt, und das liegt bestimmt nicht an dem grün-blauen eisernen Tor, das mit Einbrechen der Dämmerung laut quietschend geschlossen wird. Camp Amasttou ist ein Kleinod, und ich wünschte, es kann sich diesen Charme noch lange erhalten ...
© 2006 Detlef Bauer