Tag 4: Von Italien in die Schweiz

Gleich nach Tagesanbruch ziehe ich los. Mein Wasservorrat ist erschöpft, also wird es Frühstück und Kaffee erst beim Rifugio Elena geben. Ein Fluss hält mich kurz auf - die Brücke fehlt, scheinbar letztes Jahr als Wintervorbereitung entfernt. Gut, auf ein neues nasse Füße!

Knapp zwei Stunden später nach einem angenehmen Spaziergang ist das Refugio erreicht, allerdings noch geschlossen bis Ende Juni. Gestärkt geht es an den heutigen Anstieg. 500 Meter aufwärts im Zickzack-Kurs sind es zum Grand Col Ferret - nichts Besonderes mehr nach den letzten Tagen. Eine Herde Steinböcke grast seelenruhig auf einer Hochweide.

Dennoch bleibt jeder Ausblick von einem Bergpass einzigartig - ich schaue zurück in das italienische Tal: Auf der einen Seite liegen die steilen zerklüfteten Berge, auf der anderen Seite die etwas flachere, grüne Waldlandschaft. Ich drehe mich um und schaue in die Schweiz: Wolken dominieren den Himmel, vereinzelt bedecken die letzten Schneefelder den Weg.

Beim Bauernhof Alpage de La Peule, der ersten Station im neutralsten Staat Europas, bemerke ich meine schmerzenden Füße. Der trockenere Tag gestern in nassen Wollsocken scheint diesen nicht gut getan zu haben.

Die Sonne brennt, erneut. Ein Platz am Fluss "Drance de Ferret" bietet eine ideale Rastmöglichkeit. Pitabrot, italienische Salami und holländischer Scheibenkäse, während meine Füße sich im kalten Nass ausruhen.

La Fouly ist schnell erreicht, die Strecke nicht allzu aufregend. 15:30 Uhr, ich möchte noch weiter, 4 Stunden zum Dorf Champex-Lac. Meinen Füßen gönne ich eine halbe Stunde Pause und wechsle in trockene Socken - danach geht alles viel einfacher. Halb laufend, halb wandernd, erneut durch Nadelbäume. Und erneut durch eine geräuschvolle Viehherde, die am Weg grast.

Als ich kurz anhalte und die Sonnencreme aus meinen Rucksack holen möchte, merke ich, dass die Kühe mir folgen, oder zumindest in die gleiche Richtung gehen und mich dabei begutachten. Ich beuge mich zu meinem Rucksack, öffne das oberste Fach und spüre eine feuchte Zunge an meinem Hintern.

Nachdem ich das Kalb verscheucht habe, wandere ich weiter. Mit der Herde. Eine Stunde lang. Kling Klong Klang. Ding Dong Dang. Kling Klong Klang … warum muss JEDE Kuh eine GLOCKE haben? Könnt ihr BITTE aufhören, euch zu BEWEGEN, nur für ein paar SEKUNDEN???

Sie gehen nach links zum Güllestand, ich weiter geradeaus. Langsam kehren wieder Gedanken in den klinkenden Kopf zurück. Noch ein kurzes Stück über einen schmalen Pfad an der Seite eines Berges, und ich erreiche ein Schweizer Dörfchen. Urige Holzhäuser, schmale Gassen und eine Gartenzwergarmee begrüßen mich in Praz de Fort.

Brücke in der Schweiz ... Wegbegleiter ...

Dann doch noch ein unerwartet steiler Anstieg, an dem ich meine letzten Kräfte aufbiete. Rote und weiße Fingerhüte am Wegesrand, sowie die kunstvoll geschnitzten Pilze und Eichhörnchen des Waldlehrpfades "Sentier des Champignons" verwandeln das anstrengende Unterfangen in ein kurzweiliges Abenteuer.

Gegen 20 Uhr erreiche ich Champex. Der lokale Zeltplatz verlangt 15 Euro für eine überfüllte Wiese. Zum Relais d’Arpette, dem nächsten Refugio, sind es 45 Minuten. Ich ignoriere meine schmerzenden Glieder und nehme noch einen weiteren Anstieg in Kauf. Lohnenswert: Riesige Wiese, zwei Zelte, 13,50 Euro.

Tag 5: Von der Schweiz wieder nach Frankreich ...

Heute ist eine Alternativroute geplant: Hinauf auf 2.665 Höhenmeter zum Fenetre d’Arpette soll es gehen. Der Weg beginnt einfach: Ein leichter Anstieg, Margariten und Disteln auf beiden Seiten.

Blick vom fenetre d'arpette, SchweizEine Frau mit alternativen Kleidern sitzt auf einem Stein. Grüßend gehe ich vorbei. Ein rhythmisches Geräusch ertönt kurz darauf: Ich stelle meinen Rucksack ab und gehe zurück. Namani legt ihre Rasseln beiseite und stellt sich als Schamanin vor.

"Ein hoher Schamane aus Nepal ist gekommen und führt gleich eine Gruppe von 20 Personen zum Geist des Flusses, wo wir dann meditieren." Sie selbst hat einen verletzten Knöchel und wartet hier auf die anderen.
Kurz nach dieser spannenden Begegnung treffe ich auf Alex aus Illinois: Er wandert die Haute-Route, von Le Tour nach Zermatt. Hierfür hat er sich kurzentschlossen ein Zelt für 20 Euro zugelegt. "Es ist schon hart, vor allem die Schneefelder. Aber aufgeben ist nicht drin", meint er fest entschlossen ...

Bald wird mir bewusst, was er meint: Der Trampelpfad geht in ein Steinfeld über, wandern wird zu klettern. Das "Fenster" ist bereits eindeutig auszumachen, eine kleine Zahnlücke im Gebirgsgebiss. Ich komme leicht vom Weg ab, nicht schlimm. Denke ich. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich ein zweites Mal auf der Tour bis zum Oberschenkel im Schnee einbreche. Erneut Glück gehabt! Ich ziehe den Fuß heraus, mache den nächsten Schritt - und breche erneut ein. Mit extremer Vorsicht mache ich die nächsten Schritte, bis ich wieder festen Grund unter den Füßen habe.

Ein letztes steiles Stück, und ich blicke durch das Fenster, fast wie in eine andere Welt. Der riesige, uralte Trient-Gletscher breitet sich auf der linken Seite aus, unzählige Wasserfälle strömen talwärts.

Genauso steil, wie es bergauf ging, geht es nun bergab. Um mir den Umweg nach Trient zu ersparen, überwinde ich noch einen Anstieg auf der anderen Seite. Ausgetrocknet komme ich am Refugio Les Grandes an, stille energisch meinen Durst und fülle meine 3-Liter-Camelbag auf.

Zelthälfte in der Schweiz, andere Hälfte Frankreich, Mont Blanc Hintergrund Mont Blanc Abenddämmerung, Col de la Balme

Eine Stunde Höhenweg, und die Hütte am Balme-Pass erscheint am Horizont - geschlossen, wie ich gleich feststelle. Gut für mich, so kann ich mein Zelt direkt daneben aufstellen. Direkt am Grenzstein, die Hälfte in der Schweiz, die andere in Frankreich ...

Zwei Schweizer Tageswanderer steuern meinem Abendessen etwas Käse und Hobelfleisch bei. Dankbar genieße ich die Mahlzeit mit freiem Blick auf den Mont Blanc, der rötlich in der Abendsonne glitzert.

Einen Haken gibt es - es ist windig hier oben. Kurz vor dem Einschlafen bläst es beinahe meinen Rucksack weg … Nein, das kann nicht sein, was ist hier los? Ich stürme nach draußen, und werde von einem erschrockenen Fuchs angestarrt. Der Rucksack liegt einen Meter entfernt. Also muss heute alles ins Zelt. Der Fuchs schaut noch einmal neugierig unter der Außenplane hindurch, wohl um Gute-Nacht zu sagen.

Tag 6: Zurück in Frankreich

Der letzte Tag beginnt mit einem Abstieg nach Le Tour entlang der Seilbahn. Hier verliert sich die Beschilderung der Tour du Mont Blanc. Einige Wanderer gehen hier bereits direkt zurück nach Chamonix, eine 3 Stunden Wanderung. Ich biege ab in Richtung Tre le Champs, einem kleinen Bergdorf, das für seine Schnitzereien bekannt ist. Baumstämme wurden zu übergroßen Gesichtern umgewandelt.

Danach folgt der letzte Anstieg der Tour: Zuerst geht es nach La Flegere, einer Skistation. Ein paar Gleitschirmflieger schweben lautlos vor dem gigantischen Berg. Viel los heute: Es ist Sonntag, die Sonne scheint. Mountainbiker, Kletterer, Tageswanderer und Vorbereiter für den Mont Blanc Marathon teilen sich heute die Wege.

Schnitzereien Tre le Champs Paraglider vor Mont Blanc ... Bergziege am Col Brevent

Zur nächsten Station Planpraz ist der Weg noch einfach, nach zwei Stunden ist diese erreicht. Eine Horde Gleitschirmflieger nutzt gerade die hier installierte Absprungschanze. Danach die letzten steilen Serpentinen bis zum Col Brevent. Einige Bergziegen suchen essbare Hinterlassenschaften der Touristenmassen.

Eine letzte Kletterei, und die Spitze des Brevent ist erreicht, 2.525 Meter. Allerdings ist das auch der Endpunkt einer Gondel, so teile ich mir den Berg mit Menschen aller Nationen - merkwürdiges Gefühl nach so viel Einsamkeit!

Les Houches liegt auf 1.008 Metern - also über 1.500 Meter Abstieg. Meine Knie bedanken sich. Um 18:30 Uhr marschiere ich im Dorf ein - perfektes Timing, der letzte Bus zum meinem Zeltplatz fährt heute um 18:33 Uhr. Jipiiiie!??

Und das Fazit: Die Abschnitte in Frankreich sind wohl am schwierigsten und steilsten. Die Franzosen lieben ihre Sprache - wer sich die Mühe macht, ein paar Grundbegriffe zu lernen, wird mit einem Lächeln belohnt werden. Und auch kulinarisch sticht das Land mit seinen Käsesorten hervor.

In Italien liegt der kürzeste Abschnitt, auf alle Fälle lohnt sich der Weg in ein "Restaurante" für eine original italienische Pizza. Der Weg liegt hier überwiegend oberhalb der Waldgrenze und bietet einmalige Ausblicke auf die zerklüfteten Berge.

Die Schweiz hat schöne Waldabschnitte und ebene Strecken zu bieten, sowie den Charme der kleinen Dörfchen. Die Umrechnung von Franken in Euro erfolgt meistens 1:1, was die hohen Preise noch weiter verteuert. Die Alternative über das Fenetre d’Arpette ist eine lohnenswerte Abwechslung. 6 Tage sind zu wenig - unbedingt mehr einplanen und länger genießen!


© 2017 Jan Kozlowski, TrekkingSpiritProject


Anm. der Redaktion: Wer den obigen Bericht in anderer Form direkt auf Jan´s Webseite lesen will, kann dies auch hier wieder tun. Noch mehr von Autor Jan Kozlowski gibt es ebenfalls in unserem Magazin. Seine weiteren Wanderungen führen uns nach Skandinavien und Schottland: