Zaire 1981:
Die Reise zum großen Fluss ...
Vor Gewalt und Krieg: Tagebuch einer Reise durch Zentralafrika vor 30 Jahren
Vorbemerkung der Autorin: "Herz der Finsternis", "Mord am großen Fluss", "Das schwarze Herz Afrikas", "Kongofieber" - seit langem schon überwiegt der düstere Aspekt, wenn sich Journalisten und Schriftsteller dem Kongo widmen.
In den letzten zwanzig Jahren freilich scheint die Realität die Fiktion zu überholen: Seither ist der Kongo Synonym für Mord und Vergewaltigung, für Kindersoldaten und ethnische Säuberungen - und für einen gnadenlosen Kampf um die Ausbeutung kostbarer Rohstoffe. Der Kongo befindet sich in Auflösung. Drei bis vier Millionen Menschen sind dem Krieg zum Opfer gefallen - vor allem im Osten. Diejenigen, die überlebt haben, sind traumatisiert. Wer es sich leisten konnte, hat das Land verlassen. Kein Ende ist abzusehen, da Gewalt immer neue Gewalt sät ...
Verwüstet ist die Kivu-Region, einst fruchtbare "Schweiz Afrikas" voller Naturschönheiten und wilder Tiere. Die ehemals beschaulichen Städtchen Butembo und Goma von Hunderttausenden von Flüchtlingen überschwemmt - oft ohne Wasser und Strom; Rwindi zerstört. Unpassierbar der Ituri-Wald, unerreichbar Kisangani.
All diese Städte und Regionen sind mir gut bekannt. Ich habe in Kinshasa gelebt und bin durch den Kongo gereist, als dieser noch Zaire hieß und es noch keine Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes gab. Damals, 1981, war jedem bewusst, dass der Regierungschef Mobutu ein korrupter Diktator ist, der zahlreiche Feinde hat und vermutlich irgendwann einer Revolte zum Opfer fallen wird. Aber wann …
In meinem Buch "Reise zum großen Fluss" schreibe ich, gestützt auf meine Tagebuchaufzeichnungen, die Geschichte meiner Reise: Sie erzählt von Zentralafrika vor der großen Katastrophe, von einem Kongo ohne Gewalt und ohne Krieg, von Kongolesen, die nicht das Gefühl haben im "Herzen der Finsternis" zu leben, sondern überzeugt davon sind, "Profis im Amüsieren" zu sein. Sie erzählt von den unglaublichen Naturschönheiten des Landes, von der Lebensfreude und Kraft seiner Bewohner und - im Epilog - ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Daneben ist es aber auch die Geschichte einer unternehmungslustigen, jungen Frau aus Deutschland, die sich aufmacht einen Kontinent zu erkunden und dabei immer wieder an ihre Grenzen stößt. Nach einem Jahr kehrt sie zurück, müde und angeschlagen, aber mit einem reichen Schatz an Erfahrungen, der ihr ganzes weiteres Leben prägen wird ...
An der Biegung des großen Flusses
4. September 1981: Grün, soweit das Auge reicht. Seit wir vor etwa zwei Stunden in Kinshasa gestartet sind, sehen wir durch die blinden Fenster der klapprigen Maschine von "Air Zaire" das gleiche Bild: Die unendliche Weite des tropischen Regenwalds. Keine Autobahnen, keine Städte, aus der Höhe auch keine afrikanischen Dörfer. Nur das endlose Grün des Waldes und hin und wieder ein lehmiger Fluss, der sich braun durch die Landschaft schlängelt.
Das Flugzeug verliert an Höhe und wir dürfen im Cockpit an der Seite der beiden belgischen Piloten beim Landeanflug auf Kisangani dabei sein. Auch 20 Jahre nach der Unabhängigkeit steuert in Zaire kein Afrikaner ein Passagierflugzeug. So weit geht die postkoloniale Gleichberechtigung noch nicht. Die grüne Farbe nimmt Strukturen an. Noch können wir keine einzelnen Bäume unterscheiden, aber wir sehen deutlich die Piste des Flughafens von Kisangani vor uns. Routiniert lässt der Buschpilot die alte Maschine aufsetzen, unruhig hoppelnd und schwankend bringt er sie zum Stehen. Trotz vier Stunden Verspätung erwarten uns Sabine und Robert hinter der Absperrung der Landebahn. Die Crew ist vereint, die gemeinsame Reise kann beginnen. Ein Taxi bringt uns ins Zentrum von Kisangani, der drittgrößten Stadt Zaires.
Hier befinden wir uns nahezu exakt am Mittelpunkt des schwarzen Kontinents: Der Atlantik und der Indische Ozean sind jeweils etwa 2000 Kilometer entfernt, zum Mittelmeer beziehungsweise dem Kap der Guten Hoffnung ist es jeweils noch einmal doppelt so weit. Hier ändert auch der große Fluss seinen Namen, die Fließrichtung und den Charakter. Als Lualaba, der wegen seiner zahlreichen Stromschnellen gefürchtet ist, kommt er aus dem Süden, als Zaire fließt er manchmal in einer Breite von mehreren Kilometern majestätisch erst nach Westen und dann wieder in den Süden, der Hauptstadt und später dem Meer entgegen.
An dieser Biegung des großen Flusses liegt also das ehemalige Stanleyville, das in der heißen Bürgerkriegsphase der 60er Jahre zu trauriger Berühmtheit gelangt ist: Damals töteten fanatische Simbas mehrere hundert Weiße. Eine aufgewiegelte, ekstatische Menge folgte ihren als unverwundbar geltenden Führern aus dem Urwald in die Stadt. Noch heute werden die grausamen Einzelheiten des Aufruhrs erzählt. Die Weißen hatten zwar Gerüchte von der anrückenden Gefahr gehört, aber es sich letztendlich nicht vorstellen können, dass ihre geduckten und servilen Garcons, Sentinelles und Jardiniers gegen sie den Aufstand wagen würden. Doch sie hatten sich getäuscht: Die Lumumba-treuen Simbas nahmen Stanleyville im Handumdrehen und rechneten im Blutrausch mit ihren Kolonialherren ab. Spätestens da war der Traum vom kolonialen Kongo ausgeträumt und heute erinnert außer den verfallenden Ruinen prunkvoller Villen nicht mehr viel an die Kolonialzeit ...
(...) Von Kisangani aus wollen wir per Mitfahrgelegenheit durch den Ituri-Wald nach Beni.
Durch den Ituri-Wald
Die Informationen über den Zustand unserer Route sind eher deprimierend: Wir erfahren, dass vor "Kilometer 130" eine Woche lang 50 bis 200 Lastwagen blockiert waren und nicht mehr weiter kamen. Noch wissen wir nicht, wie wir uns das konkret vorstellen sollen. Ein Loch in der Fahrbahn? Das muss doch zu reparieren sein. Und Lastautos können sich doch gegenseitig abschleppen oder aus Löchern befreien ...
Endlich eine positive Nachricht! Im Moment sei die Straße zwar schlecht, aber wieder passierbar. Vor uns liegen 750 Kilometer Urwald, 750 Kilometer ungeteerte Lehmpiste, die wir so schnell wie möglich durchqueren wollen. Stanley hat vor rund hundert Jahren knapp drei Jahre gebraucht und einen Großteil seiner Mannschaft verloren. Heutzutage ist die Strecke in der Trockenzeit kein Problem und in zwei bis drei Tagen zu bewältigen. Jedoch sind in der Regenzeit über die Fahrtdauer keine sicheren Aussagen zu machen. Man spricht von drei Tagen bis zwei Wochen - wenn nichts Größeres dazwischenkommt ... (...)
Bei den Pygmäen
10. September 1981: Nach der zweiten Übernachtung auf unserer Fahrt im kleinen Dörfchen Bafwasende geht es weiter. Immer wieder kritische Stellen und Angst vor dem Umkippen.
Doch der Urwald entschädigt uns reichlich für die ausgestandenen Gefahren: Riesengroße Schmetterlinge schweben wie schwerelos durch die heiße Luft, paradiesisch bunte Vögel flattern aufgeschreckt davon. Nur die wilden Säugetiere fehlen. Die heimischen Elefanten haben sich wohl in die Tiefe des Waldes zurückgezogen. Am dritten Tag überqueren wir die braunen Fluten des Ituri-Stroms und kommen damit in das Gebiet der Pygmäen. In Kinshasa hatte ich ein Buch von einem Deutschen namens Scherer gelesen, der 1930 diese kleinwüchsigen Menschen studiert hatte. Er war mit den Jägern und Sammlern durch den Wald gezogen, hatte Elefanten gejagt und sich von Beeren und Raupen ernährt.
Es ist nur schwer vorstellbar, wie man in diesem scheinbar undurchdringlichen Dickicht leben kann. Die feucht-heiße Luft lastet unbeweglich und schwer. Ihre Stille wird nur durch das unentwegte Zirpen der Zikaden und ein gelegentliches Schnattern der Affen gestört. Der Urwald, der den Pygmäen vertraute Heimat ist, bleibt für uns Eindringlinge fremd und gefährlich. Hier lauern Giftschlangen, vor denen auch die Afrikaner Respekt haben. Die grüne Mamba zum Beispiel, die den Menschen auch dann angreift, wenn sie sich nicht bedroht fühlt, und das Opfer mit ihrem Biss in wenigen Minuten tötet. Noch halten wir uns fern und bleiben meist bei unserem Lkw.
Die Mbuti-Pygmäen sind die Urbevölkerung dieses Dschungels: In dem Maße wie er dem menschlichen Zivilisationsstreben zum Opfer fällt, durch Straßen und durch die Kultivierung seiner Randgebiete, ziehen sie sich zurück. Mittlerweile sind sie vom Aussterben bedroht. Ursprünglich sehr widerstandsfähig, werden sie zunehmend von Seuchen und Krankheiten heimgesucht und verlieren mit dem Lebensraum auch ihren natürlichen Lebensrhythmus. Wir erfahren dies besonders deutlich in Epulu. Hier kann man neben der Okapi-Station als touristische Attraktion auch Pygmäen "besichtigen". Von den vier in Zentralafrika existierenden Hauptgruppen sind die Mbuti-Pygmäen die mit dem kleinsten Körperwuchs: Die Frauen werden durchschnittlich nur 135 cm groß, die Männer 143 cm. Ihre Behausungen sehen aus wie zusammengerechte Laubhaufen in herbstlichen Gärten, ohne Stuhl und Bett.
Der, wenn auch spärliche Tourismus der vorbeiziehenden Lastwagen hat die Pygmäen von Epulu schon so weit von ihrer ursprünglichen Lebensweise entfremdet, dass sie - abhängig von den Donationen der Vorbeifahrenden - eigentlich ein trostloses Dasein fristen. Das Haschischpfeifchen, mit dem sie ihren Alltag versüßen, wird nur noch aus der Hand gelegt, wenn man Touristen um eine Gabe bittet oder für ein Foto Geld verlangt. Hier merkt man nichts davon, dass ihre Stammesgenossen sagenhafte Jäger sind, die Schlangen mit Pfeil und Bogen erlegen, in Gruppen meisterhaft Wald-Elefanten jagen und sich im dichtesten Dschungel ohne Licht und Sonne orientieren können ...
Da unser Lastwagen wieder einmal repariert werden muss, haben wir längere Zeit uns umzusehen: Ein schmaler Pfad führt zu einer etwas abseits gelegenen Pygmäen-Siedlung. Etwa fünf bis sechs "Blätterhütten" beherbergen 15 bis 20 Personen. Die Frauen sind fast alle nackt bis auf einen schmalen Lendenschurz. Die Männer tragen Überbleibsel europäischer Klamotten, was in seltsamem Widerspruch zu ihrer primitiven Behausung steht. Sie sprechen auch etwas Französisch. Auch hier bittet man uns sofort um Geld und Bonbons für die Kinder. Zwei Frauen begleiten uns ein Stück, bis sich plötzlich vor uns der Wald lichtet und der Epulu-Fluss auftaucht. Die Schönheit der Natur und das außergewöhnliche Leben der Pygmäen erregen widersprüchliche Gefühle. Auf der einen Seite sind wir fasziniert von der Ursprünglichkeit dieses Daseins in völliger materieller Anspruchslosigkeit und im Einklang mit der Natur. (...)
Riesenwuchs auf dem Ruwenzori
Wir trampen die 40 Kilometer von Beni nach Mutwanga. Auch dieser Streckenabschnitt befindet sich in abenteuerlich schlechtem Zustand. Der Jeep, der uns zunächst mitnimmt, bricht nach kurzer Zeit zusammen, und der anschließende Lastwagen bleibt immer wieder im tiefen Schlamm stecken. Sieben Kilometer vor Mutwanga geht dann gar nichts mehr und wir müssen mit unserem Gepäck zu Fuß weiter. Ein erster Vorgeschmack auf die zu erwartenden Strapazen.
In Mutwanga erschöpft angekommen müssen wir feststellen, dass sich das einzige Hotel am Eingang des Virunga-Nationalparks in vier Kilometer Entfernung befindet und dass uns der letzte Pickup gerade vor der Nase davongefahren ist. Aber den Weg dorthin weiter zu Fuß genießen wir dennoch: strohbedeckte Hütten, Palmen, Bananen- und Kaffeeplantagen, immer wieder freundliche und neugierige Menschen, die uns mit "Jambo" und "Jambo sana" begrüßen und ihrerseits schwer bepackt sind mit Maniok, Holz oder Bananen.
In Mutsora, das bereits auf 1.200 Meter Höhe liegt, verbringen wir die Nacht. Am nächsten Morgen werden uns von der Nationalparkleitung ein Führer, der zu unserer Sicherheit ein Gewehr mitnehmen wird, und vier Träger zugeteilt. Es sind alles junge Burschen in löchriger Kleidung und barfuß, die für je sieben Zaire pro Tag und insgesamt 90 Zaire für die Verpflegung unser Gepäck tragen werden. Erst einmal müssen wir zurück nach Mutwanga, um auf dem dortigen Markt den Proviant einzukaufen. Wir haben uns darauf geeinigt, das gleiche zu essen wie die Träger, im Wesentlichen geräucherten Fisch und Fleisch. Fasziniert beobachten wir, wie der Verkäufer mit seiner Machete aus dem Fleischberg einer geschlachteten Kuh ein paar Stücke heraushaut, sie in ein Stück Papier wickelt und einem unserer Träger gibt.
Dann bricht die Expedition auf, die mittlerweile auf neun Personen - den Führer, vier Träger und uns vier Weiße - angewachsen ist. Zunächst geht es durch besiedeltes Gebiet, vorbei an Bananenhainen und kleinen Lehmhütten. Diese werden hier, ganz anders als im Ituri-Wald, dicht aneinander gebaut. Bis zu einer Höhe von etwa 1.700 Metern reicht die Besiedlung. Dann führt unser Pfad endlich in die Wildnis, den faszinierenden, undurchdringlichen und immergrünen Regenwald.
Das Ruwenzori-Gebiet ist berühmt für seinen einzigartigen Riesenwuchs: Nirgends auf der Welt wachsen Farne, Erika und Zierbananen in so gigantischen Dimensionen wie hier. Verantwortlich dafür ist die besonders wachstumsfördernde Mischung aus permanenter Feuchtigkeitszufuhr - auch in der Trockenzeit - und warmen Temperaturen durch die Äquatornähe. Staunend wandern wir, zu Zwergen geschrumpft, im Schatten der meterhohen Farn-Wedel und Bananenblätter.
Die erste Nacht verbringen wir auf der Kalonga-Hütte in 2.140 Meter Höhe. Am nächsten Tag wird der Berg steiler und der Weg deutlich mühsamer. Es geht immer wieder kerzengerade auf- und auch abwärts, man vermisst die bequemen, serpentinenförmigen Wanderwege der mitteleuropäischen Bergwelt. Erschwerend kommt die schlechte Qualität der Pfade hinzu. Die tropischen Regengüsse haben die lehmige Erde weggespült und das Wurzelgeflecht freigelegt, so dass riesige Wurzeln verschlungen und verknotet auf dem glitschigen Untergrund liegen und durch den ständigen Nieselregen immer rutschiger werden. Wir beobachten bewundernd, wie behände und flink die Träger mit all unserem Gepäck und den Lebensmittel-Vorräten auf dem Rücken sich barfuß den günstigsten Weg durch das Gewirr suchen.
Kurz vor der Mahangu-Hütte (3.320 m), in der wir die zweite Nacht verbringen, zünden die Träger ein Feuer an und opfern dem Gott des Ruwenzori etwas Maniokmehl. An die Urwaldzone schließt sich eine Landschaft an, die fremdartig und märchenhaft ist: Baum-Senezien und Baum-Lobelien mit dicken Moospolstern prägen hier die vom Nebel eingehüllte Gegend. Auch am Boden haben sich weiche, saftige Moose gebildet in gelb, hellgrün, orange. Das Laub an den Bäumen verschwindet und stattdessen hängen an den knorrigen Ästen moosgrüne Flechten wie Bärte herab.
(...) Vom Ruwenzori aus fahren wir zum Rwindi-Nationalpark und an den Kivusee. Anschließend nehmen wir in Goma das Flugzeug zurück nach Kisangani. Da das Passagierschiff wegen Motorschaden in Kinshasa im Hafen liegt, heuern wir auf einem Schubverband an.
Die Reise auf dem großen Fluss
Ende und Höhepunkt der Reise ins Hinterland soll unsere Fluss-Fahrt von Kisangani nach Kinshasa werden. 1735 Kilometer liegen vor uns, 1735 Kilometer auf dem mit 4374 Kilometern zweitlängsten Strom Afrikas. Damit nicht genug der Superlative: Der Kongo ist außerdem der zweitgrößte Fluss der Erde überhaupt, wenn man die Wasserführung betrachtet, er besitzt weltweit die wasserreichsten Stromschnellen und ist im Unterlauf mit einer Wassertiefe von 220 Metern auch noch der tiefste Fluss. Der gewaltige Strom entspringt ganz bescheiden als Lualaba 100 Kilometer westlich von Lubumbashi in der Provinz Shaba/Katanga. Er fließt dann durch das großflächige Kongo-Becken Richtung Norden, bis er bei Kisangani Richtung und Namen ändert und als Zaire zunächst nach Westen und später nach Südwesten strömt, um bei Matadi in einem 40 Kilometer breiten Mündungsdelta in den Atlantik zu fließen. Der Zaire ist Verkehrsweg, Lebensader, Naturschauspiel - alles in einem. 4000 Inseln, von denen 50 länger als 16 Kilometer sind, machen die Navigation zusammen mit einem unübersichtlichen Gewirr von Flussarmen, Nebenflüssen und Sandbänken zu einem Glücksspiel. (...)
Bevor es losgeht, stellen wir erst einmal fest, welche gigantischen Ausmaße unser Schubverband besitzt: Sieben ca. 70 Meter lange, sogenannte Schubleichter (Schiffe ohne eigenen Antrieb) sind neben- und hintereinander zu einem Verband von mehreren hundert Quadratmetern zusammengestellt. Während der Fahrt kommen noch weitere Leichter hinzu. Auf den Frachtschiffbooten hat man die Stämme von Tropenhölzern aufeinandergeschichtet, das meiste sind allerdings Tankschiffboote, die hauptsächlich Palmöl geladen haben. Die Schiffe haben allesamt ein langes Leben hinter sich, sind sehr stark verrostet und verbeult. Uns ist das egal: Wir empfinden ein unbeschreibliches Glücksgefühl, als die Taue losgemacht werden und sich das Monstrum auf den Weg begibt. Ein letztes Mal lassen wir Kisangani an uns vorbeiziehen, zunächst die moderneren Bau-Ruinen der 50er Jahre und dann die heruntergekommenen neobarocken Kolonial-Villen früherer Zeiten.
Auch wenn unser Schubverband in erster Linie Transportgüter befördert, so wird er doch auch für den Passagierverkehr genützt. In den unteren Decks des Schubschiffes haben sich die Familien der Beschäftigten und Kleinhändler eingerichtet und so entfaltet sich auf der Kingabwa bald ein munteres Marktleben. Wenn wir an Dörfern vorbeifahren, lösen sich Pirogen vom Ufer und paddeln um die Wette auf das langsam vorbeiziehende Schubschiff zu. Muskulöse Männer und Frauen versuchen mit ihren Booten anzulegen und bieten gleichzeitig ihre Waren feil. Sie haben an Bord, was die Region so hergibt: schwarz geräucherte Affen, kunstvoll in Holzgestellen verpackt, lebendige Kaimane, deren Maul und Beine man fest verschnürt hat, Schildkröten, geräucherte oder frische Fische, manche davon zwei Meter lang. In Gegenden mit Landwirtschaft kann man auch Mangos, Bananen, Zuckerrohr und Ananas erwerben. Im Naturaltausch handeln sich die Dorfbewohner von den Passagieren, die teilweise mit dem Handel als Flussreisende ihr Dasein finanzieren, Zivilisationsgüter ein. Begehrte Waren wie Seife, Salz, Zigaretten und auch Kleider bekommen sie nur auf den vorbeifahrenden Schiffen.
Nach Abschluss der Geschäfte verschwinden die Pirogen so schnell wie sie gekommen sind. Vor den Paddlern liegt jetzt der mühevolle Weg flussaufwärts zurück ins Dorf, von dem sie sich unter Umständen kilometerweit entfernt haben. Unsere zairischen Mitreisenden bereiten manchmal aus den erworbenen Produkten exotische Mahlzeiten zu, die wir unbedingt probieren sollen. So kommen wir in den Genuss von Krokodil- und Schildkrötenfleisch, von gerösteten Maden und seltenen Fischen - nur den Verzehr von Affen lehnen wir so entschieden wie höflich ab.
Viel Zeit verbringen wir oben in unserer Kabine, von der aus wir einen herrlichen Blick über die Schubleichter-Landschaft auf den großen Zaire-Fluss haben. Der belgische Fracht-Kontrolleur und Hausherr Louis ist Barbara-Streisand-Fan und so bilden ihre Liebes-Duette mit Barry Gibb in Kombination mit dem Rattern der Schiffsmotoren die einprägsame Klangkulisse unserer Flussfahrt. Wenn die Streisand dann auch noch bekennt, dass sie eine "Woman in love" ist, und im Osten die Sonne rotglühend über dem grün-braunen Fluss untergeht, dann kann es passieren, dass mir vor lauter Glücksgefühl die Tränen in die Augen steigen.
Endlich habe ich auch ausreichend Zeit, um meine Tagebuchaufzeichnungen nachzuholen und so schreibe ich mir auf dem kleinen Tischchen unserer Kabine die Finger wund. Meistens aber sitzen wir stundenlang einfach nur da und schauen hinaus - auf den Fluss, den Urwald, die kleinen Besiedlungen, strohgedeckte Pfahlbauten, gegen Überschwemmungen geschützt und von Menschen bewohnt, deren Fortbewegungsmittel der Einbaum ist: durchtrainierte Ruderer mit muskulösen Oberkörpern.
Während Joseph Conrads Protagonist auf seiner Kongo-Fahrt ins Herz der Finsternis das Grauen kennenlernte, machen wir in umgekehrter Richtung auf unserer unbeschwerten und heiteren Fluss-Reise die gegenteilige Erfahrung: Wir führen viele interessante Gespräche mit unseren afrikanischen Mitreisenden, haben Teil an ihrem Leben, an ihrer Fröhlichkeit und ihrer Kraft.
Wir genießen die Unberührtheit der Uferlandschaft, die uns nicht bedroht, sondern unseren Träumen einen malerischen Rahmen bietet. Irgendwann, noch lange bevor wir Kinshasa erreicht haben, bin ich mir ganz sicher: Nie werde ich diese Flussfahrt vergessen, nie die gesunden, kräftigen Fischer mit ihren machtvollen Paddelschlägen, nie die Pfahlbauten auf den schmalen Landzungen, ohne Weg und Steg, nie den Blick von unserer Kabine aus über die Wipfel des Urwalds hinweg. Und mein ganzes Leben lang wird mich der Wunsch begleiten, eines Tages hierher zurückzukommen ...
Anm. der Red.: Das Buch "Reise zum großen Fluss" von Silvia Eckert-Wagner, Pöttmes 2013, 226 S., 100 Fotos, ISBN 9783944175010 ist zum Preis von 19,90 Euro erhältlich (Stand Februar 2013, für einen Kauf bei Amazon rechts klicken).
Von der Autorin ist außerdem erschienen: "Zu Fuß durch Siebenbürgen" (2010), von dem wir ebenfalls bereits einen Auszug vorgestellt haben.
© Silvia Eckert-Wagner 2013