Busfahrt zur "heimlichen Sommerhauptstadt Estlands": Nach Pärnu ...
Am Busbahnhof können wir uns später die Fahrkarten nach Pärnu besorgen: Die Fahrt kostet 156 EEK pro Person. Wir verbringen den restlichen Tag in der Anlage um die Bischofsburg. Viel mehr Möglichkeiten hat man hier ohne Auto nicht. Auf der Burganlage darf man überall herumklettern, abgesehen von ein paar Brückengeländern gibt es keine Sicherheitsvorrichtungen, die vor einem Sturz von der Burgmauer schützen. Hier ist das überhaupt kein Problem, man muss eben aufpassen. In Deutschland wäre alles mit Geländern und Verbotstafeln zugestellt, so dass selbst der größte Trottel vor sich selbst geschützt wäre ...
Am 18. Tag haben wir noch viel Zeit, bis unser Bus um 15:30 Uhr abfährt. Ein letztes Mal genießen wir die frischen Pfannkuchen beim Frühstück, räumen unser Zimmer, deponieren unser Gepäck im Hotel und schlagen die Zeit tot. Ohne Auto sieht man nicht viel von Estland und das nächste Mal werde ich sicher mit dem Auto hierher fahren. Sohn Lennox darf wieder ausgiebig in der Parkanlage spielen. Mittagsschlaf darf er heute nicht machen, damit er die meiste Zeit der 3,5 stündigen Busfahrt schläft.
Gegen 15:00 Uhr holen wir unser Gepäck im Hotel ab und fahren mit einem Taxi zum Busbahnhof: Das Taxi ist ein alter 200er Mercedes, mit 580.000 Kilometern auch dem Tacho. Trotzdem ist der Wagen noch gut in Schuss. Übrigens sind hierzulande nicht nur deutsche Autos beliebt, auch an anderen Stellen trifft man ständig auf deutsche Produkte.
Der Bus bringt uns erstmal etwa 80 Kilometer bis nach Kuivastu. Lennox schläft wie erwartet nach kurzer Zeit ein, wacht aber auf, als der Bus in Kuivastu auf die Fähre fährt. Auf der Fähre gibt es zum Glück eine Spielecke für unser Kind und einen Kaffee für die Eltern.
Etwa eine halbe Stunde später legen wir in Virtsu an und fahren die restliche Strecke bis Pärnu. Vom Busbahnhof haben wir nur wenige Meter bis zum "Best Western Hotel Pärnu" zu laufen, wo wir uns ein Zimmer nehmen.
In der Hotelinformation steht, man möge sich doch bitte dezent kleiden, wenn man das hoteleigene Restaurant besucht. Da wir uns etwas unsicher sind, was damit gemeint ist, gehen wir lieber ein paar Straßen weiter in ein ungarisches Restaurant.
Beim Frühstück am 19. Tag treffen wir zahlreiche dezent in Jogginganzüge gekleidete Herrschaften. Anschließend laufen wir zum Busbahnhof und kaufen die Tickets für die Busfahrt nach Riga: 120 EEK kostet es pro Person. Wir besuchen noch einen Supermarkt und gehen schon bald zurück ins Hotel, damit Lennox seinen Mittagsschlaf machen kann.
Am Nachmittag machen wir uns auf den Weg zum Strand, halten zwischendurch an einem Spielplatz, verlaufen uns und besichtigen so unfreiwillig eine Plattenbausiedlung. Auch hier stehen wieder viele teure Autos vor völlig versifften Plattenbauten. Zumindest bei der Wohnkultur hat sich der sozialistische way of life offenbar noch nicht geändert, direkt nebenan entstehen gerade neue, etwas modernere Plattenbauten.
Der Strand ist ganz schön, aber nicht außergewöhnlich. Im Sommer sieht es hier bestimmt aus wie an der deutschen Nordseeküste, jetzt im September bekommt man hier noch nicht einmal etwas zu trinken. Alle Restaurants haben zu, obwohl der Strand gut besucht ist und man sicher gute Geschäfte machen könnte. Unser Junge darf sich noch auf einem Spielplatz austoben, bevor wir mit knurrendem Magen zurück ins Hotel laufen. Diesmal führt uns der Weg nicht durch Plattenbausiedlungen, sondern an schönen und teils frisch restaurierten Holzhäusern vorbei.
An diesem Abend gehen wir im Hotelrestaurant essen und werden auch ohne dezenten Jogginganzug hereingelassen.
Ein paar Worte zu unserem Hotel: Es ist mit 1.200 EEK pro Nacht recht teuer, was wohl vor allem an der zentralen Lage liegt. Der Bau stammt noch aus der Sowjetzeit und wurde zumindest in den oberen Stockwerken eher notdürftig renoviert. Unser Zimmer ist ein wenig heruntergekommen: der Teppich voller Flecke, die Fenster dreckig, Fenster- und Türgriffe locker, am Balkon bröckelt der Putz und im Bad sind Sprünge in den Fliesen. Beim Blick aus dem Fenster fällt der Blick auf einen Fabrikschornstein, der schwarzen Rauch in die Luft bläst. Ich bin in solchen Dingen wirklich nicht pingelig, aber für das Geld ist man in Estland schon Besseres gewohnt. Alle anderen Hotels auf dieser Reise waren einwandfrei, aber hier sind wir etwas enttäuscht (Anm. der Red.: Offenbar der Tribut für die Übernachtung in der "heimlichen Sommerhauptstadt Estlands"!).
Am 20. Tag haben wir wieder viel Zeit: Unser Bus nach Riga geht erst um 12:15 Uhr. Das Frühstücksbuffet ist einwandfrei und einem Hotel in dieser Preisklasse angemessen.
Anschließend packen wir unsere Sachen und verlassen das Hotel gegen halb zwölf. W-LAN gibt es im "Best Western" leider auch nicht, aber am Busbahnhof befindet sich ein kostenloser Accesspoint, über den wir Emails schreiben und im Web surfen, bis unser Bus kommt.
Es fällt mir etwas schwer, Estland schon zu verlassen. Bereits in der kurzen Zeit habe ich das Land in mein Herz geschlossen. Sicher, auch hier ist nicht alles perfekt - ganz im Gegenteil. Aber hier scheint es eben etwas mehr Freiheit als in Deutschland zu geben: Es ist nicht alles bis ins kleinste Detail reguliert und man setzt mehr auf Eigeninitiative und Eigenverantwortung. In Estland hat man offensichtlich vorläufig genug vom Sozialismus: Ganz sicher ist dieses Land mit über 20 Prozent Einkommensteuer und ebenso hoher Mehrwertsteuer kein liberaler Musterstaat, aber wenigstens ist das Steuersystem dank Flat-Tax recht einfach und in vielen anderen Bereichen hat man tatsächlich Ruhe vor staatlichen Institutionen.
Ich weiß, dass ich mir nach so kurzer Zeit kein klares Urteil über dieses Land erlauben kann, aber ein Urlaub in Estland ist einfach ein erfrischender Kontrast zum erlahmten staatsgläubigen Deutschland. Heute ist nicht alle Tage, ich komme wieder, keine Frage!
Von Estland nach Lettland: Busfahrt nach Riga
Unser Bus kommt pünktlich. Wir passieren ohne Probleme die Grenze nach Lettland und fahren anschließend bis Riga fast nur noch durch Baustellen. Seit dem EU-Beitritt fließt viel Geld aus Brüssel und wird zum Beispiel für den Fernstraßenbau verwendet. Ich sinniere über börsennotierte Baufirmen, stelle bei der späteren Internetrecherche aber schnell fest, dass der Markt an den Börsen von Tallinn, Riga und Vilnius ein wenig überhitzt ist. Auch wenn die Wachstumsraten in der Tat beeindruckend sind, mag ich bei einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von größtenteils mehr als 20 nicht mehr zuschlagen.
In Riga kommen wir pünktlich und ohne Probleme an: Wir nehmen uns vom Busbahnhof ein Taxi zum Hotel Tomo, in dem es Familienzimmer geben soll. Schon bei der Taxifahrt wird klar, dass dieses Hotel nicht besonders zentral liegt. Familienzimmer gibt es auch nicht, aber eine Juniorsuite zum gleichen Preis. Abgesehen von der eher schlechten Lage macht das Hotel einen guten Eindruck und da auch der Preis stimmt, bleiben wir erstmal hier. Sohn Lennox bekommt noch ein Kinderbett ins Schlafzimmer gebracht, danach gehen wir in den nahen Supermarkt einkaufen und anschließend im Hotelrestaurant zum Abendessen.
Das Frühstücksbuffet am 21. Tag ist das schlechteste auf der gesamten Reise: Es gibt nur ungetoastetes Toastbrot und auch die Auswahl an Marmelade und anderen Dingen ist eher bescheiden. Ist das etwa lettische Frühstückskultur?
Nach dem Frühstück bringt uns ein Taxi zur Freiheitsstatue und von dort laufen wir in die Altstadt. Natürlich treffen wir auch hier zahlreiche Touristen, aber sie verteilen sich in Riga viel besser als in Tallinn. Es folgt eine Bustour durch die Stadt, damit Lennox seinen Mittagsschlaf halten kann - was tut man nicht alles für so etwas!
Riga hat tatsächlich viel alte Bausubstanz zu bieten und ist teilweise sehr schön renoviert. Außerdem gibt es in der Stadt viele Parks und auch der Autoverkehr wirkt auch nicht so schlimm wie in Tallinn ...
Nach der Busfahrt essen wir in einem trendigen Lokal sehr lecker zu Mittag und machen anschließend noch eine Flussrundfahrt auf der Daugva: Vom Boot haben wir einen schönen Blick auf Riga, wir fahren vorbei am außergewöhnlichen Fernsehturm und dem supermodernen Neubau der Hansabank, eine der größten Banken im Baltikum.
Als unser Boot wieder anlegt, laufen wir noch etwas am Fluss entlang. Am Ufer sitzen viele Paare knutschend und meist mit einer Flasche Hochprozentigem in der Hand. Eine alte Frau möchte uns einen Blumenstrauß verkaufen. Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich um Blumen aus den nahen Parkanlagen handelt.
Erneut nehmen wir uns ein Taxi und fahren zurück ins Hotel: Es herrscht Berufsverkehr, wir stehen viel im Stau. Mein Blick fällt auf Busse, in denen Menschen eingezwängt stehen. Unser Taxi ist ein neuer Renault. Um den Gurtpiepser auszuschalten, hat unser Taxifahrer den Gurt kunstvoll hinter dem Sitz entlang geführt und eingesteckt. Anschnallen ist hier eher unpopulär, auch in Estland ist es nicht anders.
Auch am 22. Tag ist das Frühstücksbuffet nicht besser. Überhaupt ist das Hotel Tomo sicher nicht die erste Wahl in Riga, weil es sehr weit vom Stadtzentrum entfernt liegt und sich die Kosten fürs Taxifahren, immerhin etwa 12 Lts am Tag, summieren. Heute geht es damit zum Zoo, der glücklicherweise recht nahe liegt. Es ist ein schöner Zoo: Highlight sind die Bären, die man als Besucher auch füttern darf. Sie machen Männchen und bitten mit den Pfoten, um etwas von den Besuchern zu bekommen.
Wir essen noch etwas in der Cafeteria und fahren dann mit der Straßenbahn zurück ins Zentrum. Ich mache einem alten Mütterlein Platz, das sich kaum noch auf den Beinen halten kann, sie bedankt sich überschwänglich bei mir.
Es ist nicht zu übersehen, die alten Menschen sind die Verlierer des Systemwechsels. Diejenigen, die nach dem Ende der Sowjetbesatzung zu alt waren, um etwas Neues aufzubauen, haben es heute nicht leicht. Die Ansprüche bei den staatlichen Vorsorgesystemen sind nach dem Systemwechsel nicht mehr viel wert und privat konnte man damals kaum fürs Alter vorsorgen. Diese Menschen arbeiten heute bis ins hohe Alter, betteln oder versuchen mit selbst gepflückten Blumen und Strickwaren aus Eigenproduktion mit Touristen ins Geschäft zu kommen. Sie sind ein erschreckendes Beispiel für die Risiken der staatlichen Altersvorsorge.
Lennox schläft in der Straßenbahn ein. Im Zentrum setze ich mich bei einem Straßencafé auf eine Bank, während meine Freundin einen neuen Rucksack kaufen geht. Beim alten Rucksack, ein Billigteil für 10 Euro, ist der Reißverschluss kaputt gegangen - hätte man gleich einen ordentlichen beschafft, wäre das mit Sicherheit nicht passiert ...
Wir haben diesmal aber bewusst billige Reisetaschen für diesen Trip gekauft und uns auch sonst Mühe gegeben, nicht allzu wohlhabend zu wirken und möglichst auch nicht wie Touristen auszusehen. Das sind so "Vorsichtsmaßnahmen" über die man nur noch lacht, wenn man erst im Baltikum ist. In Tallinn und Riga wirken wir neben den teils ziemlich aufgebrezelten Einheimischen, die viel Wert auf teure Kleidung und westliche Marken legen, oft ziemlich blass.
Nachdem der neue Rucksack gekauft ist, spazieren wir noch ein wenig durch die Stadt, besuchen das große Einkaufscenter am Bahnhof, das seinen Artgenossen in Westeuropa in Nichts nachsteht und sehr gut besucht ist, und laufen dann weiter in die Altstadt. Am heutigen Samstag ist hier viel los und auch Touristen sind vermehrt auszumachen. Überall sind Marktstände aufgebaut, aber wir sehen nichts, was wir kaufen möchten.
Wir essen sehr lecker in einem japanischen Restaurant. Anschließend laufen wir noch ein wenig durch die Stadt und treffen auf eine Gruppe wild herumbrüllender Briten: Wie Tallinn ist auch Riga ein beliebtes Wochenendziel für Sauf- und Partytouristen, die gerne mal eine Nacht so richtig die Sau herauslassen möchten. Riga gilt in diesen Kreisen als billig, was wir nicht so ganz nachvollziehen können. Es sind vor allem Briten, die in Riga einen schlechten Ruf haben. In der Baltic Times findet man Berichte über randalierende Briten, die z.B. an die Freiheitsstatue gepinkelt oder die lettische Nationalflagge verbrannt haben ...
Bahnfahrt zum Ferienort Jurmala
Auch am letzten Tag der Reise ist das Frühstücksbuffet nicht besser, aber das macht den Abschied leichter. Unser letztes Ziel auf dieser Reise ist Jurmala, ein populärer Ferienort, etwas außerhalb von Riga gelegen und vom Hauptbahnhof aus mit einem Zug erreichbar.
Als wir das Ticket kaufen, haben wir ein junges deutsches Pärchen vor uns. "Sprechen Sie deutsch?" ist seine erste Frage am Fahrkartenschalter. Die junge Frau am Schalter schüttelt genervt den Kopf, wahrscheinlich hört sie die Frage heute nicht zum ersten Mal. Daraufhin stammelt er sein Anliegen in gebrochenem Englisch.
Als wir den Zug betreten, fühlen wir uns 15 Jahre zurückversetzt: Offenbar stammt der Zug noch aus Sowjetzeiten und zuckelt ganz gemütlich nach Jurmala; Lennox macht seinen Mittagsschlaf. Nach unserer Ankunft gehen wir vorzüglich Mittagessen und anschließend weiter zum Strand. Hier ist alles sehr schön hergerichtet: Schöne, frisch renovierte Holzhäuser, saubere Straßen, gepflegte Grünanlagen.
Sieht man von den typischen Holzhäusern ab, könnte Jurmala auch ein deutscher Nordseekurort sein. Allerdings kassiert man hier von den Gästen keine Kurtaxe und hat den Strand auch nicht komplett zugeteert. In der Fußgängerzone musiziert eine alte Frau mit einem Xylophon, etwa auf dem Niveau von unserem Kind.
Die Badesaison ist längst vorbei, aber der Strand ist trotzdem gut besucht. Meine Begeisterung für Strände mit vielen Menschen war noch nie sonderlich groß und deshalb machen wir nur einen kurzen Spaziergang. Lennox darf sich auf einem Spielplatz austoben und probiert sehr zur Freude der Eltern wie Sand schmeckt und nervt auch sonst, weil der Mittagsschlaf etwas kurz war.
Rückreise-Blues ...
Mich hat bereits der Rückreise-Blues erfasst, der sich verschlimmert, als wir auf der Rückfahrt den Wagon mit einer deutschen Reisegruppe teilen ...
Wir fahren zurück ins Hotel, packen unsere Sachen und schlagen die restliche Zeit vor dem Fernseher tot. Später bringt uns ein Taxi zum Flughafen. Während der Fahrt können wir Riga noch einmal bei Nacht bestaunen. Es ist eine schöne Stadt und auch hierher möchte ich irgendwann zurückkehren.
Der Check-In am Flughafen verläuft problemlos, der Flug ist unspektakulär. "Willkommen in Deutschland" sagt der Beamte bei der Passkontrolle in Hahn. Ich runzle nur die Stirn und fühle mich beschissen ...
© 2008 Text/Bilder Karsten Franke