Auf den Spuren der Wodka-Touristen nach Estland: Tallinn und Umgebung ...
Auch am 7. Tag haben wir wieder viel Zeit: Unsere Fähre nach Tallinn geht erst um 12:30 Uhr. Erst schlafen wir richtig aus, dann packen wir in aller Ruhe zusammen und gehen ins Viking-Terminal frühstücken. Leider haben wir nicht viel von Helsinki gesehen, aber was wir gesehen haben, war schön ...
In der Jugendherberge hatte ich den sehr empfehlenswerten Reiseführer "Tallin in your Pocket" gekauft, der stets aktuell die wichtigsten Informationen über die estnische Hauptstadt enthält. Dort erfährt man zum Beispiel, dass fast alle Taxifahrer ihre Kunden bescheißen und dabei so geschickt vorgehen, dass selbst Einheimische darauf reinfallen. Oder dass gelegentlich Touristen nach einem Kneipenbesuch verprügelt und überfallen werden. "Pass auf, mit wem du trinkst!" lautet die Empfehlung. Neben solch praktischen Tipps enthält der Führer auch Beschreibungen zu allen Hotels, Restaurants, Clubs und andere für Touristen interessante Informationen. Die 3 Euro, die man für ihn berappen muss, ist er jedenfalls wert!
Zu spät erfahre ich aus diesem Führer auch, dass man Tallinn möglichst nicht am Wochenende besuchen soll, weil dann die Wodka-Touristen aus Finnland über die Stadt herfallen und alle günstigen Hotelzimmer belegen. Nun ist es Wochenende, und wir fahren gemeinsam mit zahlreichen Wodka-Touristen nach Tallinn.
Trotzdem bekomme ich ein Zimmer im von uns bevorzugten Hotel "Reval Express", direkt am Hafen, allerdings nur für eine Nacht. Ich nehme das Zimmer trotzdem. Anschließend heißt es die Hotels der Stadt anzurufen, wobei wir für die restlichen Tage noch ein Zimmer im "Reval Park Hotel" bekommen, das allerdings etwas teurer ist ...
Um sicher zu sein, dass nicht doch noch ein Wodka-Tourist unser Zimmer wegschnappt, gehen wir gleich darauf zum Hotel und leisten eine Anzahlung für zwei Übernachtungen. Der Angestellte an der Rezeption ist jedoch zunächst etwas irritiert, als ich einen kleinen Berg Bargeld vor ihm auftürme und erkläre, dies wäre für das Zimmer, dass wir morgen zu beziehen gedenken. Was wir denn heute schon hier wollten, wenn wir doch erst morgen hier übernachten möchten, will er wissen. Ich erzähle ihm etwas von finnischen Wodka-Touristen und dass ich sicher gehen möchte, dass das Zimmer nicht an jemand anderen vergeben wird, aber das steigert seine Verwirrung nur noch. Irgendwann kümmert sich eine Kollegin um uns: Sie versteht uns sofort, quittiert die Anzahlung und druckt uns schließlich eine Reservierungsbestätigung ...
Auf dem Weg zurück ins Hotel suchen wir ein estnisches Fast-Food Restaurant auf, bevor wieder einmal der Gang zum Supermarkt ansteht. Im Gegensatz zu den meisten Supermärkten in Skandinavien ist dieser gut sortiert und großzügig angelegt: Wir laufen durch die Gänge wie Ossis nach dem Mauerfall, bestaunen das Sortiment und kaufen schließlich ein paar estnische Biere, einige Softdrinks und sonstigen Kleinkram.
Beim Frühstück am 8. Tag treffen wir auf zahlreiche Gestalten, denen man die durchzechte Nacht teilweise deutlich ansieht. Aber sie stören uns nicht, wir bestellen über die Hotelrezeption ein Taxi, das uns in das "Reval Park Hotel" bringen soll. Der Fahrer versteht kein Englisch und Deutsch auch nicht. Erstmals muss ich auf meine nagelneuen geringen Estnisch-Kenntnisse zurückgreifen. Ich zeige ihm unsere Reservierung: "Ah, Reval Pork Hotel" sagt der Fahrer. Seither ist es für uns das Schweine-Hotel ...
"Tallin in your Pocket" empfiehlt, bei einem Taxi-Fahrer vor der Fahrt den ungefähren Preis zu erfragen oder einen Festpreis auszuhandeln. Ich gehe mit 100 EEK in die Verhandlung, der Fahrer akzeptiert sofort. Den Zähler schaltet er trotzdem nicht aus und schon bald ist mir klar, dass ich die Fahrt vermutlich auch für 70 EEK ohne meine Verhandlungen bekommen hätte. Dafür spricht der Fahrer nun doch ein paar Worte Englisch und verabschiedet uns am Hotel äußerst freundlich ...
Im Hotel ist unser Zimmer noch nicht frei: Wir lassen unser Gepäck im Hotel und laufen in die Altstadt. Sobald man die betritt, ist man in einer anderen Welt. Alles, aber auch wirklich alles ist hier auf Tourismus ausgerichtet. Es gibt praktisch keinen Autoverkehr, die Häuser sind renoviert und ungefähr jedes zweite Geschäft ist ein Souvenirladen, der Bernstein, Pullover mit Rentiermustern, Holzsachen und "I love Estonia" T-Shirts verkauft. Dazwischen gibt es Cafés, Restaurants, Tabak- und Alkoholgeschäfte.
Vor unserer Reise hatten wir uns immer gewundert, warum die Passanten auf den Fotos der Altstadt alle so westlich aussehen, jetzt wissen wir warum: Wenn man hier einen Esten trifft, dann ist er Verkäufer, bedient in einem Restaurant oder ist anderweitig in der Tourismusbranche tätig. Ansonsten treffen wir hier nur Touristen; viele Deutsche, ein paar Japaner und viele, die wir keiner Nation zuordnen können.
Wir trinken etwas in einem Straßencafé und werden sofort von einer alten Frau angesprochen, die uns selbstgestrickte Kleider verkaufen will. Es reicht ein kurzes "nein, danke" auf estnisch und sie lässt uns in Ruhe.
Als wir schließlich die Altstadt verlassen, betreten wir wieder das echte Tallinn: Die Straßen sind mit Autos verstopft, darunter kaum weniger Wagen der Oberklasse als in deutschen Großstädten. Zwischen sozialistischen Zweckbauten befinden sich sehr moderne Hochhäuser und gut besuchte Einkaufszentren und alle paar hundert Meter eine Baustelle. Schön ist Tallinn außerhalb der Altstadt fast nirgendwo, aber die Stadt hat trotzdem einen gewissen Reiz.
Sie ist ständig in Bewegung und eindeutig auf dem Weg zu einer kleinen Wirtschaftsmetropole: Viele internationale Konzerne gründen in Tallinn Niederlassungen, vor allem aus Skandinavien, aber auch aus Westeuropa. Der estnische Staat sorgt mit einer relativ liberalen Politik für gute Standortbedingungen. Nach jahrzehntelanger Sowjet-Besatzung und Mangelwirtschaft gibt es in diesem Land einen riesigen Nachholbedarf bei Infrastruktur und Wünschen der Verbraucher: Die Leute sparen kaum und kaufen viel - Männer gern teure Autos, Frauen schöne Kleider und Kosmetika ...
In einigen Jahren wird sicher auch der restliche Sowjetschrott verschwunden und Tallinn eine sehr moderne Stadt mit ausgezeichneter wirtschaftlicher Infrastruktur sein. Die Stadt ist eher ein Platz für gute Geschäfte und nicht so sehr für einen schönen Urlaub. Wir möchten trotzdem noch ein paar Tage hier bleiben.
Im Hotel wird unser Gepäck - zwei Reisetaschen und eine Plastiktüte mit Softdrinks und Dosenbier - in einem mit Goldimitat verzierten Wagen aufs Zimmer gebracht. Das Zimmer ist recht groß und gut ausgestattet: Ein großes Bett, ein Schreibtisch, eine Sitzecke, ein Fernseher und sogar eine Klimaanlage. Im Erdgeschoß befindet sich ein großes Spielcasino. Nicht das wir auf solchen Luxus besonderen Wert legen, aber wenn alle günstigen Hotels der Stadt von finnischen Wodka-Touris belagert werden, hat man eben keine andere Wahl. Wir ruhen uns den restlichen Tag in unserem Zimmer aus, lassen Lennox am nahen Spielplatz im Park spielen und gehen am Abend im Hotelrestaurant essen.
Der 9. Tag sieht uns erst spät aufstehen und wir kosten anschließend das reichhaltige Frühstücksbuffet voll aus. Danach gehe ich allein zum Busbahnhof: Der Weg führt mitten durch eine Baustelle, über die ich mit zahlreichen anderen Fußgängern spaziere. Wer hier nicht aufpasst, kann an jeder Ecke stolpern oder sogar in einen tiefen Schacht fallen. In Deutschland wäre das unvorstellbar, hier ist das überhaupt kein Problem und ganz normal: Eigenverantwortung wird in Estland groß geschrieben ..!
Wenn man in diesem Land unterwegs ist, gibt es neben dem eigenen Auto eigentlich nur den Bus: Es gibt zahlreiche Anbieter und ein gut ausgebautes Netz. Die Fahrt nach Haapsalu kostet für uns alle umgerechnet nur 4,79 Euro. Dank intensiver Vorbereitung gelingt mir die Bestellung vollständig in estnischer Sprache und nicht ohne Stolz präsentiere ich die Tickets im Hotel. Den restlichen Tag wollen wir kindgerecht im Zoo verbringen. Um weitere Taxi-Abenteuer zu vermeiden, fahren wir diesmal direkt mit dem Bus ...
Der Besuch im Zoo lohnt sich: Wie bei anderen Bauwerken der Stadt gibt es auch hier nagelneue und toll angelegte Gehege direkt neben uralten Zwingern im Sowjet-Stil. Viele Tiere vor allem aus den ehemaligen Sowjetländern können bestaunt werden, die man in westeuropäischen Zoos nicht sieht.
Am 10. Tag unserer Reise ist Sightseeing angesagt: Nach dem Frühstück besorgen wir uns eine Tallinn Card, mit der man alle Touren fahren und ohne weitere Kosten die meisten Attraktionen der Stadt besichtigen darf. Wir lassen uns zunächst über verschiedene Routen durch die Stadt fahren. Sohn Lennox macht irgendwann seinen Mittagsschlaf, während wir über Kopfhörer die Sehenswürdigkeiten erklärt bekommen. Als unser Bus den Fernsehturm erreicht, steigen wir das erste Mal aus.
Der Fernsehturm liegt etwas außerhalb der Stadt und ist im Sowjetstil erbaut. Bevor man ihn betritt, muss man an einer etwas vergammelten Springbrunnenanlage vorbei. Von der Aussichtsplattform hat man einen schönen Blick auf Tallinn und die sonstige Umgebung. Wir essen im Restaurant zu Mittag, während wir den Blick über die Landschaft genießen.
Nach dem Essen steht ein kurzer Abstecher nach Pirita auf dem Programm: Zur Sowjetzeit war das ein populärer Urlaubsort, heute ist hier vieles sehr heruntergekommen und lässt nur noch wenig Urlaubsstimmung aufkommen. Die Strandpromenade ist voller tiefer Löcher und auch Grünflächen wirken wenig gepflegt ...
Von Pirita laufen wir am Meer entlang weiter Richtung Tallinn, bis wir irgendwann müde werden und wieder auf einen Bus aufspringen.
Ich erwähnte es ja bereits, Tallinn ist abgesehen von der für den Tourismus herausgeputzten Altstadt nicht besonders schön. Mir gefällt Tallinn aber trotzdem: Es sind die vielen Gegensätze, die diese Stadt interessant machen. Kaputte Sowjetbauten direkt neben gläsernen Hochhäusern, das alte Mütterlein, das Strickwaren an Touristen verkaufen will, ein paar Schritte entfernt vom Yuppie mit BMW und Mobiltelefon am Ohr.
Man gewöhnt sich sehr schnell daran, dass es hier wirklich an jeder Ecke kostenlosen Internetzugang über Wireless LAN gibt: Mit meinem Nokia Communicator können wir so die Busfahrpläne abfragen und auch Emails in die Heimat schreiben. Besitzt man ein estnisches Bankkonto, kann man mit dem Mobiltelefon auch Bus- und Parktickets bezahlen. Man merkt deutlich, dass man in Estland so schnell wie möglich den Entwicklungsstand der westlichen Industrieländer erreichen will, wobei man in einigen Bereichen den Vorbildern schon weit voraus ist ...
© 2008 Text/Bilder Karsten Franke