Litauen, 30.08.04: Irrfahrt zum Odysseus ...
Nach dem ausgiebigen Frühstück packen wir zusammen: Niemand ist gekommen, um die 8 Litas für die Übernachtung zu kassieren. Wir wollen im Nationalpark Aukstaitija oder dessen Umgebung nun einen anderen Platz suchen.
Zunächst muss getankt und eingekauft werden: Es geht nach Ignalina, das berüchtigt ist für das einzige Kernkraftwerk des Baltikums, an dem übrigens der deutsche Energiekonzern E.ON beteiligt ist. Es wurde erst in den 80er Jahren errichtet und gehört weltweit zu den größten - und zu den gefährlichsten. Der hier betriebene Reaktor ist vom Hochrisikotyp "Tschernobyl". Der Bau erfolgte unter enormem Zeitdruck, was dazu führte, dass viele Sicherheitseinrichtungen nicht installiert wurden. Es ist geplant, bis zum Jahre 2009 den Betrieb einzustellen. Von der EU werden hohe Entschädigungszahlungen bereit gestellt, denn das Kernkraftwerk deckt 80% des litauischen Strombedarfs.
Wie im Baltikum üblich, befinden sich hier der Markt und auch der Supermarkt am Busbahnhof. Diese Busbahnhöfe sind wichtige Einrichtungen, an denen stets viel Trubel herrscht. Überlandbusse stellen hier die Verbindung zu den Ortschaften sicher. Bei den PKWs fällt auf, wie offensichtlich deren Herkunft ist: Aufschriften auf alten, teilweise recht rostigen Golfs, Polos, Fiestas u.ä. wie "Baby an Bord", "I ♥ Wuppertal" oder "FC Bayern" machen deutlich, wo die deutschen Gebrauchtwagen ihr Gnadenbrot bekommen ...
Auch hier sind am Morgen eine Reihe von Betrunkenen zu beobachten. Die Bekämpfung des Alkoholismus ist im Baltikum eine wichtige Aufgabe. Das wird nicht leicht, sieht man sich das Warenangebot einmal genauer an: In einem Regal sind die berühmten "schto gramm" Wodka (100g Wodka) zu finden, abgefüllt in kleine Becher für den schnellen extra Schluck zwischendurch. Für die Abwechslung sorgt der Zusatz von Zitrone oder schwarzer Johannisbeere.
Man hatte schon viel gehört vom litauischen Bier und wenn auch das lettische Bier recht gut war, so sind wir doch neugierig und decken uns mit Svyturis (normaler Alkoholgehalt) ein. Das erweist sich als Volltreffer: ein gar köstliches Bier!
Auch Brot können die Litauer backen: Das dunkle Brot ist saftig und würzig. Allerdings lieben sie Kümmel so sehr, dass es nicht möglich war, zur Abwechslung kümmelfreies Brot zu bekommen.
Auch an der Tankstelle in Ignalina gibt es keine Straßenkarte. Das Benzin ist wie in Estland und Lettland billig: Mit ca. 78 Cent pro Liter ist es zwar teurer als in Lettland, wo es nur 75 Cent gekostet hatte, aber wenn man an unsere Preise denkt, fühlt man sich hier im Spritparadies ...
Es ist schwül, rund 24°C und immer wieder gibt es einen kurzen Guss. Weiter geht die Fahrt nach Ginuciai: Dort liegt im Wald auch ein sehr schöner Platz, nicht weit von einem Landgasthof.
Aber wir wollen erst noch mehr vom Nationalpark sehen und Pilze für das Abendessen sammeln. Pfifferlinge und Steinpilze gibt es in Mengen. Aber nicht nur Pilze und Preiselbeeren gedeihen in den Wäldern, nein es gibt auch Unmengen von dicken, fetten Kreuzspinnen und die Dichte der Netze in den Wäldern können einen Spinnenphobiker fast in einen Horrorfilm versetzen: Als sich beim Pflücken von Pfifferlingen eine große Kreuzspinne von meiner Brille abseilt und eine zweite auf meiner Weste offensichtlich ein neues Netz verankern will, ist es mit meiner Fassung vorbei und ich beschließe, nun genug Pilze zu haben. Aber vielleicht sind die vielen Kreuzspinnen der Grund dafür, dass es so wenige Mücken gibt? Nun, da wünsche ich den Spinnen weiterhin guten Appetit und ein langes Leben. Eine Spinnenphobie kann ich besser aushalten als die Mücken ...
Das Straßennetz im Nationalpark weicht stark von der mitgebrachten Karte ab. Aber wir fahren munter weiter durch die Wälder, schließlich soll es hier ja 18 Campingplätze geben. Immer wieder sind Schilder zu sehen, aber oft führen sie ins Leere. Wir finden zwar Biwakplätze, aber diese sind oft klein und ungünstig gelegen, da die Bäume so dicht stehen, dass für unser Fahrzeug kein Platz ist.
Wir folgen einer Teerstraße: Mit wahnsinnigen Manövern werden wir hin und wieder überholt. Es empfiehlt sich, vor jeder Kuppe auf den Randstreifen auszuweichen, denn man muss in seiner Spur mit Gegenverkehr rechnen. Und tatsächlich, bald ist es soweit, dank unserer Präventivmaßnahme bleibt uns der Litauer am Bullenfänger erspart, der über eine Kuppe angerast kommt und verdeutlicht, warum hierzulande vielleicht so viel Wert auf eine ausreichende Versicherung von Einreisenden gelegt wird ...
Es wird Abend und wir irren immer noch herum auf der Suche nach einem geeigneten Stellplatz. Wir fragen Bauern, bei denen zwei alte Wohnwagen auf dem Hof stehen, nach "Kemping", so heißt es im Litauischen, aber das Wort scheint unbekannt zu sein und auch Russisch ist diesmal nicht hilfreich.
Infotafeln leiten uns weiter, an Friedhöfen vorbei, in die Irre. Zwar ist der Nationalpark mit seinem Umland wunderschön, aber allmählich wäre ein Stellplatz doch recht angenehm.
In Labanoras schließlich der Wegweiser zu einem Lokal mit Campingmöglichkeit, angeblich nur 1.800 Meter entfernt: Wir folgen dem Schild, die heute gewohnte Rüttelpiste gabelt sich wieder einmal, eine alte Frau, die vorbei kommt, wird gefragt. Nein, sie weiß nicht, ob es hier in der Gegend ein Restaurant, eine Bar oder ähnliches gibt. Das ist nicht sehr ermutigend! Der Fahrer will aber nicht aufgeben und wählt den rechten Weg im wahrsten Sinne des Wortes: Tatsächlich, ca. 500 Meter weiter liegt er da, der Landgasthof "Ulycia" (= Odysseus). Wie eine Fata Morgana ist er aufgetaucht und der Name ist so passend zu unserer Irrfahrt. Das Schicksal hat wirklich Humor!
Vor dem neu erbauten Gasthof (N55.2499° E025.7731°) sitzen Frau und Herr Zitikis auf einer Bank, begrüßen uns freundlich: Selbstverständlich können wir hier übernachten und Essen machen sie auch für uns und ein frisch gezapftes Bier wird gleich kredenzt. Wir fühlen uns wie im Paradies! Das Essen ist köstlich und sehr preiswert. Hier gibt es zum ersten Mal die leckere kalte litauische Gemüsesuppe Saltibarsciai, die mit heißen Kartoffeln serviert wird. Den Abschluss bildet noch hervorragender selbstgebrannter Wodka, der für die nötige Bettschwere sorgt ...
© 2004-2005 Text/Bilder Sixta Zerlauth