Balkan 2022
Fernwanderweg "Peaks of the Balkans":
Gastfreundschaft und grandiose Ausblicke im vergessenen Dreiländereck
Zehn Tage lang folgt Reisebuchautor Thomas Bauer dem Fernwanderweg "Peaks of the Balkans" durch Albanien, Montenegro und das Kosovo. Er erzählt von zerklüfteten Bergen, großer Herzlichkeit und den Freuden eines Aufstiegs am frühen Morgen ...
Schon die Fahrt in das albanische Bergdorf Theth ist ein kleines Abenteuer: Stundenlang quälen wir uns die kurvenreiche Straße hinauf, ehe es endlich hinab in das enge Tal geht. Immer wieder springen Schafe vor das Auto. Langsam verstehe ich, weshalb das Navi für die 70 Kilometer über zwei Stunden veranschlagt ...
Theth ist für die meisten Wanderer der Ausgangspunkt der "Peaks of the Balkans". Der Weg führt zunächst ein steiniges Flussbett entlang; immer wieder muss ich Kleinbussen ausweichen. Erst als ich das überlaufene Dorf nicht mehr sehe, beginnt der Wanderweg zu zeigen, was er kann.
"Peaks of the Balkans": Das bedeutet zehn Tage Wandern im Prokletije, dem höchstgelegenen Teil der Dinarischen Alpen. Die erstrecken sich von der Adria bis hinein nach Serbien. Regen und Erosion haben hier spektakuläre Bergformationen aus dem Karst geschnitten. Den Tälern sieht man bis heute an, dass sie einst von Gletschern bedeckt waren. Vor allem aber bringt der Weg zusammen, was seit je zusammengehört: Auf alten Hirtenpfaden und Handelswegen wandert man durch drei Länder, die allen Streitigkeiten zum Trotz immer schon eng miteinander verbunden waren: Albanien, Montenegro und das Kosovo.
Schon am ersten Tag muss ich unablässig hinauf; eng schmiegt sich der Weg an einen Hang. Zuweilen ist der Pfad kaum erkennbar, dann wiederum zeigt die rot-weiß-rote Markierung unmissverständlich nach oben – bis sich unvermittelt das Tal von Valbona auftut.
An dieser Stelle begehe ich den Fehler, zu meinen, dass der anstrengende Teil des Weges geschafft sei. Ist er nicht: Stundenlang in ein Tal abzusteigen ist anspruchsvoller und belastender für die Gelenke als der Aufstieg. So sollte es von nun an jeden Tag sein: Auf einen Anstieg von über 1.000 Metern folgt ein gigantisches Hochgefühl; anschließend geht es hinab in ein Dorf, das manchmal nur aus drei oder vier Häusern besteht.
Findige Gästehausbetreiber haben auf dem Weg nach Valbona die Abzweigung zu ihren Hütten mit den rot-weiß-roten Markierungen des Wanderwegs markiert. Wenn man schon mal da ist, so spekulieren sie, könne man doch gleich für eine Stärkung bleiben. Zu essen gibt es morgens, mittags und abends Gurken, Tomaten, Weißbrot und einen beinahe geschmacksneutralen Käse. Man gewöhnt sich daran. Wettgemacht wird das überschaubare Angebot durch einen herzlichen Empfang und einen ansteckenden, bodenständigen Humor. Und gar nicht selten führt der selbstgebrannte Raki dazu, dass man am Ende des Tages miteinander singt, während der Gastgeber auf einem einsaitigen Instrument spielt, das in Albanien Lahutra und in Montenegro Gusle genannt wird.
Eine Wette auf die Zukunft
Schon seltsam, wenn Orte, von denen man einen Tag zuvor noch nie gehört hatte, zu einer Verheißung werden. Wann komme ich endlich in Dobërdol an? Dieses kosovarische Dörfchen liegt auf knapp 2.000 Metern am Ende eines langgezogenen Tals.
Im Krieg wurde es vollständig zerstört; mittlerweile weist es als einziges Dorf im Umkreis von Dutzenden Kilometern drei Gästehäuser auf. In einem davon komme ich heute unter. Ob es hier einen WLAN-Empfang gebe, will ich bei meiner Ankunft wissen und bekomme zur Antwort, dass man nicht einmal über Strom verfüge. Es gebe lediglich einen Schlafplatz im Trockenen. Eine Lektion in Genügsamkeit!
Spektakuläre Wolken versammeln sich am Himmel, als ich am nächsten Morgen einen Bergrücken erklimme. Anschließend geht es den Grat entlang. Die Temperatur stürzt dem Gefrierpunkt entgegen. Ein eisiger Wind umtost mich; er kriecht in alle Kleideröffnungen. Ich schlüpfe in zwei Pullover und wickele mir einen dritten um den Kopf.
Unten im Tal scheint unbeirrt die Sonne; hier aber stoßen die Wolken an die Hänge, anschließend gleiten sie darüber hinweg. Schroff ist der Bergrücken, steinig, kompromisslos und wunderschön. Ein alpines Gefühl breitet sich in mir aus! Doch ebenso abrupt geht es wieder hinunter in die nächste Senke. Büsche und dann Bäume halten den Wind von mir fern; die Temperatur steigt mit jedem Schritt. Ich ziehe die Pullover aus. Die Zivilisation mit ihren kuscheligen Annehmlichkeiten hat mich wieder ...
Dabei ist Guri I Kuq, der "rote Fels", ein Ort, an dem ich eigentlich gar nicht sein will. Ein drohendes Gewitter, beim Frühstück aufgezogen, setzt mich hier fest und zwingt mir einen Pausentag auf. Nachmittags fahren Dutzende Autos die Serpentinen zum abgelegenen Gästehaus hinauf. Eine Hochzeit, bedeutet man mir. Bis halb drei Uhr nachts spielt die Kapelle fetzigen Balkan-Swing, unterbrochen von Coverversionen von Bon Jovi, vorgetragen mit starkem albanischem Akzent. Keine acht Meter Luftlinie davon entfernt suche ich umsonst nach Schlaf.
Kein Wunder, dass ich mich tags darauf mehrfach verlaufe. Oder liegt es an den zahlreichen Wegvarianten und Abstechern, die die Orientierung erschweren? Zuweilen verwechsle ich die rot-weiß-roten Markierungen auch mit jenen des Fernwanderwegs "Via Dinarica", die aus unerfindlichen Gründen weiß-rot-weiß sind. Es gibt auch runde Markierungen, in Rot-Weiß. Wer hat das eigentlich festgelegt? Wollte man das Geld für weitere Farben sparen, oder war auf der Sitzung des örtlichen Wandervereins noch Farbe übrig ..?
Dessen ungeachtet erreiche ich bald darauf das Tal von Babino Polje: Hier komme ich bei einer Bauernfamilie unter. Stolz erzählt mir der Vater, dass er sechs Kühe und einen Stier habe. Im Sommer grase sein Vieh auf den Almen; im Winter treibe er es in die Täler. Seine Mutter spricht derweil unbeirrt montenegrinisch mit mir, obwohl ich erkennbar kaum etwas von ihren Erklärungen verstehe. Hier gefällt es mir.
Hätten sie mehr Geld, würden sie einen Skilift bauen, bedeutet mir der Familienvater, um auch im Winter Einnahmen erzielen zu können. Die Wandersaison ist allzu kurz; sie reicht von Juni bis September. Ich stelle mir das Tal in zehn Jahren vor. Eine Asphaltstraße würde Touristenbusse nach Babino Polje bringen. Strommasten zögen sich das Tal entlang, am Anfang und Ende des Skilifts stünde ein Kiosk. Wenn es ganz schlimm kommt, vielleicht sogar eine Bar, mit Jagertee und entsetzlichem Après-Ski-Gedröhne, und an Weihnachten gibt "Anton aus Tirol" ein Konzert ... Brrr!
Ich schaue auf die unbebaute Wiese: Ganz hinten streicht eine Katze durchs Gras. Natürlich will ich, dass alles so bleibt wie bisher, authentisch und unaufgeregt. Und natürlich ist das selbstsüchtig: Immerhin werde ich schon in wenigen Tagen wieder die hohen Standards in Deutschland genießen.
Die Menschen hier wollen den Fortschritt; sie wollen die Wanderer, die Snowboarder und auch die Reisebusse. Und sie sind sich sicher, dass sie kommen werden. Darum bauen sie, was das Zeug hält. Es ist eine Wette auf die Zukunft; sie vertrauen der Anziehungskraft des Fernwanderwegs. Es bleiben ihnen wenig andere Optionen. Etwas in mir wünscht ihnen den ersehnten Erfolg. Zugleich aber bin ich froh, dass ich jetzt hier bin und nicht in zehn Jahren: Die "Peaks of the Balkans" können noch immer entdeckt werden ...
Unser Leben ist ein schöner Kampf
Der Tag, der so symptomatisch für diesen Wanderweg werden sollte, beginnt mit einer Enttäuschung. Erst nachmittags erlebe ich ihn: den schönsten Moment meiner Tour! Zwischen Blumen und Kräutern wandere ich einen Höhenrücken entlang. Vor mir erhebt sich das Bergmassiv des Prokletije so gewaltig und formvollendet wie niemals zuvor. Schroff ragen die 2.500 Meter hohen Felsformationen in den Himmel. Sie strömen eine Kraft aus, die augenblicklich in mich eindringt. Noch während ich dieses Bild in mich hineinlasse, wird mir klar, dass es von nun an zu einer abrufbaren Erinnerung werden wird. Eine Form, ein Geräusch, ein Geruch wird sie emporholen können und mir einen wertvollen Moment lang Mut machen.
Ich musste mir diesen Augenblick erarbeiten: Kurz hinter dem Städtchen Plav quälte ich mich zweieinhalb Stunden lang im strömenden Regen bergauf. Der Blick verändert sich bei Nässe; man sucht nicht länger nach einer schönen Aussicht, sondern nach Unterschlupfmöglichkeiten: Ein Gebüsch, eine dicht bewachsene Stelle im Wald könnte Schutz bieten. Schon nach kurzer Zeit waren meine Schuhe und Socken durchweicht, die Füße wurden kalt. Zu allem Überfluss hörte ich mehrfach, wie in den Tälern geschossen wurde. Damit vertreiben wir Raubtiere, wenn sie sich unserer Herde nähern, hatte mir der Familienvater in Babino Polje erklärt.
In Wahrheit ist der "Peaks of the Balkans" das perfekte Abbild unseres Lebenswegs. Auch der führt schließlich, statt geradeaus zu einem Etappenziel, steiler bergauf und bergab, als uns lieb ist. Zuweilen müssen wir uns gegen Windböen und Unwetter stemmen, mitunter setzt uns ein Regenschauer fest. Manchmal aber erleben wir ihn: den Moment, der uns unmittelbar klarmacht, dass es sich lohnt, diesen Weg zu gehen. Einen Augenblick lang dürfen wir der Erde ins Antlitz sehen und erkennen ihre Schönheit. Nur kurz, ehe es hinab ins nächste Tal geht. Einen längeren Blick würden wir nicht aushalten. Stattdessen müssen wir uns einfach bewegen, gegen die eigene Angst und Faulheit weitergehen, immer weiter, um bald wieder einen solchen Moment erleben zu dürfen. Einen, der uns klarmacht: Unser Leben ist ein Kampf. Aber ein schöner ...
Steckbrief "PEAKS OF THE BALKANS"
- Dimension: knapp 200 km, insgesamt ca. 10.000 Höhenmeter hinauf und ebenso viele wieder hinunter, Dauer ca. 10 Tage
- Anreise: mit dem Bus nach Plav oder per Flugzeug nach Tirana, Podgorica oder Prishtina; Einstiegsmöglichkeiten insb. Theth und Plav
- Wanderzeit: Juni bis September, Hauptsaison Juli/August
- Verpflegung: Einkaufsmöglichkeiten in Theth & Plav, Gästehäuser bieten Essen & Lunchpakete, Wasser holt man aus Quellen und Flüssen
- Übernachtung: in rustikalen Gästehäusern, wild campen außerhalb ausgewiesener Schutzgebiete problemlos möglich
- Ausrüstung: Bergstiefel oder wasserfeste Turnschuhe, Rucksack mit Regenschutz, atmungsaktive T-Shirts, Stirnlampe, Taschenmesser
- Gefahren: unbeständiges Wetter, insb. nachmittags Gewitterneigung, keine organisierte Bergrettung o.Ä., Kosovo: Restrisiko durch Landminen
- Warum das Ganze: herausfordernde, aber technisch einfache Wanderung in einem der schönsten Gebirge Europas ohne Massentourismus, dafür mit echter Gastfreundschaft und unvergesslichen Ausblicken
Weitere Informationen: Abenteurer Thomas Bauer hat 14 Bücher über seine Touren veröffentlicht. Unser Beitrag zu seinem im Berliner Periplaneta Verlag zuletzt erschienen Werk:
© 2023 Thomas Bauer
Anm. der Red.: Weitere Beiträge von Thomas Bauer finden sich in unserer Autorenübersicht!