Sieben Reisen zum Schiffsfriedhof
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, dass ich insgesamt sieben Pilgerfahrten zum Grab des Schiffes unternehmen und am Ende dreimal an Bord des Wracks gelangen würde. Rückblickend eine echte "Ameri-Odyssee"!
Nach einem viereinhalbstündigen Flug landeten wir am 29. November 1994 auf Fuerteventura. Gleich am nächsten Tag holten wir erste Erkundigungen ein über den Teil der Insel, an dem die AMERICAN STAR auf Grund gelaufen war. Schnell kamen wir zu dem Ergebnis, dass wir einen geländegängigen Wagen mit Allradantrieb benötigen würden, da zu dem Schiff nur eine Piste durch extrem raues Gelände führte, zu dem wir darüber hinaus keine genauen Angaben erhalten konnten.
Zusätzlich sagte man uns, dass das Schiff vor einem militärischen Übungsgelände lag; was mir dahingehend große Sorgen bereitete, dass sich unsere Erfahrungen von 1984 in Griechenland wiederholen könnten.
Die Angst war unbegründet. Wir merkten schnell, dass sich das Schiff seit dem Stranden unter den Insulanern großer Beliebtheit erfreute. Nicht Wenigen von ihnen war es bei ruhigem Wetter gelungen, das Schiff zu erreichen und dabei ausgiebig Material und Ausstattung von Bord wegzuschaffen. Man erzählte uns, dass es an ruhigen Tagen bei Ebbe möglich war, zu Fuß über eine Sandbank ganz nah an das Schiff heran zu kommen.
Nichtsdestotrotz, so nah es auch schien, der Versuch, die Überreste des Schiffes über jene Sandbank zu erreichen, waren alles andere als sicher. In den Gesprächen mit den Insulanern konnten wir erfahren, dass in den Strömungen zwischen der Sandbank und dem Schiffsrumpf bereits mindestens ein Todesopfer zu beklagen war.
Mit diesen Informationen im Hinterkopf mieteten wir uns einen Geländewagen und machten uns auf, um das Schiff zu finden.
Weil weder meine Frau Ann, noch ich des Spanischen mächtig waren, fertigten wir eine kleine Skizze von den beiden Schiffshälften an und zeigten sie den Menschen, die wir unterwegs trafen. Einer der Insulaner zeichnete uns eine sehr vage Karte auf ein Stück Karton, der wir folgen sollten.
Meine Frau Ann suchte während dessen nach alternativen Wegen, das Schiff zu entdecken: So richtete sich ihr Blick westwärts auf der Suche nach Lücken in den Bergketten, die den Blick zum Meer freigaben. Und tatsächlich: Dort, in noch großer Entfernung, entdeckten wir plötzlich MEIN Schiff mit seinen eleganten, immer noch wunderschönen Linien ...
Ihr noch übrig gebliebener roter Schornstein war genauso klar zu erkennen wie der blaue Schiffsrumpf mit den weißen Aufbauten und der grell orange gestrichenen Brücke. Trotz allem war es ein wunderbarer Anblick. Nun waren wir nicht mehr zu halten und unternahmen mehrere ungeduldige Versuche, den Strand zu erreichen, an dem sie lag. Doch zunächst gerieten wir in einen abgesperrten Bereich mit Schildern, die uns vor vermintem Gelände warnten!
Endlich entdeckten wir den richtigen Pfad und fanden uns plötzlich auf einem Felsvorsprung mit einer hervorragenden Aussicht über das gesamte Wrack wieder. Der schreckliche Riss in ihrem Rumpf zusammen mit Russspuren und Schäden durch Brände an Bord konnte ihrer ganz eigenen und zeitlosen Schönheit keinen Abbruch tun. Ich war wieder einmal vom Anblick des Schiffes gefangen, und diese Gefühle weckten meine Erinnerungen an glückliche Tage an Bord der AUSTRALIS.
Die Plünderer hatten den mit Steinen durchsetzten Sandstrand auf der Suche nach Beute leergefegt, nur ein paar wenige Fragmente waren noch zu finden. Immerhin entdeckte ich zwischen Steinen und Schlick eine Kinder-Rettungsweste, die einer der Strandräuber achtlos weggeworfen haben musste.
Die Weste war fleckig von Seewasser und Salz, aber man konnte noch deutlich die Namen AMERICA auf der einen Seite und den späteren Namen des Schiffes ITALIS auf der anderen Seite entziffern.
Unsere 4-jährige Tochter Sarah probierte die Weste an und präsentierte sich zusammen mit ihrer Mutter vor dem Wrack im Hintergrund für meine Kamera. Anschließend verpackten wir die Weste in einer Plastiktüte, um auch den ganz eigenen Geruch zu konservieren und nahmen sie mit unserem Reisegepäck als ein ganz besonders bemerkenswertes Souvenir mit nach Hause ...
Am nächsten Tag starteten wir bereits, als die aufgehende Sonne den östlichen Himmel rosa färbte. Am Wrack angekommen, blies der Wind in Sturmstärke. Die Wellen brachen sich mit Tosen am Wrack und der Wind flüsterte in den Aufbauten. Mit einigen Schwierigkeiten erreichte ich eine Landzunge, von der aus ich einen guten Überblick über die Szene hatte und machte ein paar Fotos. In der Abgeschiedenheit dort war ich mit meinen Gedanken alleine, nur die Geräusche des Windes und der Wellen erreichten mein Ohr. Es war kein Vogelgezwitscher zu hören, kein gesprochenes Wort, kein Verkehrslärm, kein Rascheln von Blättern. Die Eindrücke dieser einzigartigen Stimmung fesselten mich ganz und gar.
Selbst nach Stunden des Ausharrens im Anblick des Wracks fiel es mir sehr schwer, endlich wieder aufzubrechen. Aber Zeit und Gezeiten ließen mir keine Wahl. Ein letzter, langer Blick herüber zu meinem zerbrochenen australischen Mädchen, und ich gab Gas, wendete den Jeep und verließ die Uferszene.
In einiger Entfernung stoppten wir nochmals einige Sekunden für einen kurzen Blick zurück. Als wir kurz vor Sonnenuntergang wieder die asphaltierte Hauptstraße erreichten, kam es mir bereits vor, als ob alles nur ein Traum gewesen wäre ...
Bereits kurz nach unserer Rückkehr nach England wurde ich unruhig bei dem Gefühl, dass ich in Fuerteventura noch eine unerledigte Aufgabe zurück gelassen hatte. Wäre es möglich, ein Boot zu chartern, um die zur See gewandte Seite des Wracks zu inspizieren, um mit eigenen Augen zu sehen, wie weit Wind und Wellen hier bereits ihre Spuren hinterlassen hatten, seit dem das Schiff auf Grund lief ? Und noch ein viel aufregender Gedanke ließ mich nicht mehr los: Könnte ich den Versuch wagen, an Bord zu gelangen, um noch einmal ihre Decks zu betreten? Diese Gedanken entwickelten sich zu einer unwiderstehlichen Versuchung ..!
Wieder vor Ort: Die erste Wrackbesteigung ...
Sieben Monate später kehrten wir nach Fuerteventura zurück und hielten Ausschau nach einem Fischerhafen, der dem Wrack der AMERICAN STAR am nächsten lag. Schnell merkten wir, dass uns meine Ausrüstung mit Kompass und Kamera, sowie das Wort "American Star" zusammen mit Gesten in Richtung der Boote und des Horizonts weiter brachten: So kamen wir mit einen jungen Mann ins Gespräch, der ein kleines Boot besaß und bereits mehrmals das Wrack bestiegen hatte. Wir einigten uns, dass er mir zusammen mit einem Freund helfen würde, an Board des Schiffes zu gelangen: Plötzlich wurden meine verrücktesten Träume Wirklichkeit, was meine Erwartungen bei Weitem übertraf! Als wir in England starteten, wäre es für mich schon ein voller Erfolg gewesen, ein Boot zu finden, das mich zum Wrack fahren würde, um es einmal zu umrunden, aber nach fast zwanzig Jahren wieder an Bord meines Schiffes zu gelangen, das war vor ein paar Tagen noch ein Unterfangen jenseits meiner Vorstellungen !
Nach einer kurzen Verabschiedung von Frau und Tochter starteten wir in die Glut der Nachmittagssonne. Als wir zu dem Boot meiner neuen Freunde kamen, traf mich zunächst ein Schock: Es hatte nur die Größe eines einfachen Ruderbootes, gerade ausreichend, drei Männer zu transportieren und ausgestattet mit nur einem einfachen Außenbordmotor.
Wäre es nicht die einzige Möglichkeit gewesen, die ich sah, an Bord des Wracks zu gelangen, ich hätte sofort umgedreht. Stattdessen half ich, das Boot vom Strand ins Wasser zu schieben und kletterte wider meinen gesunden Menschenverstand hinein ...
Wir brauchten fast zwei Stunden, bis wir die AMERICAN STAR erreichten. Wir machten uns vorsichtig auf den Weg zum Ende der Leiter, die steuerbord am vorderen Teil des Wracks befestigt war. Diese einfache Metallkonstruktion war für die Schleppfahrt angeschweißt worden, damit die Crew das Schiff besteigen konnte. Wir vertäuten unser kleines Boot an der untersten Sprosse, und zu meinem Schreck schickten mich meine neuen Freunde als Ersten los, die Leiter hinauf zu steigen.
Die Kletterpartie betrug mehr als 20 Meter. Glücklicherweise war die Leiter eine robuste und ordentlich verschweißte Konstruktion, allerdings war es für eine untrainierte Person eine beängstigende und ungewöhnliche Herausforderung. Stur nach oben schauend vermied ich den Blick in andere Richtungen und konzentrierte mich darauf, durch einen der leeren Fensterrahmen das Promenadendeck zu erreichen.
Das Bild das ich machte, als wir sicher an Bord waren, lässt einen erahnen, wie schwierig und gefährlich der Aufstieg über die Leiter war. Gleichzeitig dokumentiert es die dramatischen Auswirkungen des Bruchs auf die zerstörte Schiffskonstruktion und demonstriert die Verschiebung der zwei Hälften gegeneinander.
Als ich dort an der Bruchstelle stand, fühlte ich förmlich, wie schnell mich der heulende Wind durch diese Lücke nach unten würde fegen können: Schnell verließ ich den gefährlichen Aussichtspunkt ...
Mit meinem ersten Schritt, nachdem ich von der Leiter gestiegen war, schritt ich in Gedanken auch zurück in vergangene Zeiten: Das Promenadendeck war ein heller, luftiger Bereich gewesen, der sich über die ganze Länge des Schiffes erstreckte. Dieser Eindruck wurde durch die auf Hochglanz polierten und in Messing gefassten Fenster sowie durch die Reling aus Teak noch unterstrichen. Spätestens an diesem Ort holte mich die Realität aus meinem Tagtraum jäh zurück: Die wunderschöne und endlos anmutende Promenade war durch den Bruch des Schiffsrumpfes komplett zerstört, weder eine Reling noch ein Fenster erinnerten daran. Der Wind heulte unablässig durch die leeren Fensterrahmen, das Deck selbst war übersät mit Resten aus Holz, Glas und verbogenem Metall.
Nahe der Bruchstelle machte einer meiner Begleiter ein Bild von mir, wie ich mich unsicher aus einer der fensterlosen Öffnungen des Promenadendecks lehnte. Wir ließen keinen Raum aus, liefen von Deck zu Deck und machten Fotos von dem Zustand, der sehr wenig an die frühere Schönheit dieses stolzen Schiffes erinnerte. Wir drangen nach unten in das Innere des Schiffsbauches bis zum Swimmingpool des C Decks vor und nach oben bis zur Brücke. Es gelang uns sogar, in den hinteren, abgebrochenen Teil des Schiffes zu kommen - ein echtes Abenteuer, über den zerklüfteten Riss im Schiffskörper zu springen ...
Wir fanden einstmals elegante Säle, vollkommen zerstört durch die Kräfte der Natur und die Gier des Menschen. Auf dem Bild unten links ist die elegante Main Lounge zu sehen, mein Lieblingsort auf dem Schiff, als ich es 1974 das erste Mal betrat.
Im Bild daneben sieht man den selben Raum, so wie ich ihn jetzt vorfand: Seiner edlen Ausstattung beraubt, erinnerte nichts an seine Schönheit, außer dem Gerippe der Stahlkonstruktion, eingehüllt in dunkle Schatten.
Andere Räume, in die wir kamen, machten einen ähnlich traurigen Eindruck. Wenn es wirklich so etwas gäbe wie ein Geisterschiff, dann war es dieses. Dunkelheit dominierte die Szene, und seltsame Strukturen ragten aus den Schatten hervor. Gespenstische Geräusche kamen aus allen Ecken. Auch wenn ich wusste, dass dies nur die Ergebnisse des fortlaufenden Verfalls des Wracks waren, lief es mir kalt den Rücken hinunter ...
Viel zu schnell war es Zeit, wieder aufzubrechen. Es war ein einmaliges
Erlebnis, an das ich mich mein ganzes Leben erinnern werde.
Zurück am Ausgangspunkt unseres Unternehmens traf ich auf meine besorgte Frau mit meiner kleinen Tochter. Zusammen inspizierten wir die Fundstücke, die ich während des Aufenthalts auf dem Wrack eingesammelt hatte. Die Einheimischen waren fasziniert von unseren Aktivitäten und den Gründen, warum ich unbedingt die AMERICAN STAR besuchen wollte. Sie waren sehr gespannt, was ich an Bord eingesammelt hatte und reichten die Fundstücke von Hand zu Hand zur fachmännischen Inspektion weiter.
So hatte ich ein paar Schlüssel aus dem Büro des Chefstuarts, einen kleinen Tresor zusammen mit einer Nachricht des letzten Benutzers, ein Stück Messing, das meine Begleiter aus einem der Pfeiler in der Lounge herausgehebelt hatten. Das schönste Souvenir von allem war aber ein Stück der hölzernen Reling mit einem Messingbeschlag am Ende, damals montiert, um Zugang zu den Rettungsbooten zu gewähren. Das Holz war bereits stark verwittert, ausgeblichen mit abgeblättertem Lack, der Messingbeschlag durch das Salzwasser grün oxidiert.
Als ich auf der AUSTRALIS unterwegs war, konnte ich beobachten, wie die Crew großen Wert darauf legte, die vielen Hunderte von Metern der Reling täglich von Staub zu befreien und auf Hochglanz zu polieren. Oft lehnte ich damals an der Reling, versunken in Tagträume mit Blick aufs weite Meer; es war für mich unglaublich, dass ich nun ein Stück davon besaß. Da Holzbearbeitung eines meiner Hobbys ist, war es mir möglich, aus diesem Fundstück ein einzigartiges Erinnerungsstück zu fertigen, das mich immer an die Existenz MEINES Schiffes erinnern wird.
Heute, nachdem ich das Stück aus der Reling wieder aufgearbeitet und zur Erinnerung mit ihrem Namen dekoriert habe, hat dieses Souvenir einen Ehrenplatz in meinem Haus erhalten, wo es mir eine lebendige Erinnerung an meinen ersten Trip an Bord des gestrandeten Schiffes geblieben ist ...
© 2008 Steve Tacey; Deutsche Übersetzung: Dr. Georg Draude