Tag 4, Montag: Livorno / Pisa
Läppische 270 km beträgt die Entfernung von Civitavecchia bis nach Livorno und für diese kurze Strecke die ganze Nacht bis morgens um 9:00 Uhr, dem angegebenen Liegezeitbeginn? Nun, bei diesen Trips ist wie auch bei den Seetagen ist nicht nur jede Menge Reserve einkalkuliert, sondern natürlich auch das Vorhaben zu erkennen, den Gästen eine möglichst lange Zeit unterwegs bei geringstmöglichen Treibstoffkosten zu bieten.
Dieses Vorhaben scheitert jedoch offenbar heute morgen und die Reserven müssen angegriffen werden: Als wir aufwachen, ist weit und breit noch kein Land zu sehen und auch um 9:00 Uhr sind wir nicht in Livorno. Dafür kommt eine Durchsage von Kapitän Cramer, die diesmal sogar in den Kabinen zu hören ist, was leider bisher nicht immer selbstverständlich war: Ohne Umschweife erklärt er, dass wir aufgrund der herrschenden Wetterlage derzeit nicht in Livorno einlaufen können, da draußen Windstärke 7 bis 8 herrsche mit Böen bis zu Windstärke 9 und eine sichere Einfahrt in Livorno unter diesen Bedingungen nicht möglich wäre.
Das Schiff ist mit Ballasttanks und Stabilisatoren ausgestattet, die derzeit ausgefahren sind, aber Claas Cramer weist darauf hin, dann man die Schiffsnase in den Wind gedreht hätte, um die Schwankungen der AIDAmar möglichst gering zu halten. Wir sind unterwegs mit einer tatsächlichen Schleichfahrt von 5-6 Knoten und der Kapitän erzählt von einer Segelfläche von rund 8.000 qm, die das Schiff aufgrund seiner hohen Aufbauten hätte, wenn es quer zum Wind steht - wir sind damit offenbar so etwas wie ein Großsegler! Bei kommenden Drehmanövern will der Kapitän warnen: Wenn er den Bug aus dem Wind nimmt, gerät die AIDAmar durch den Winddruck in eine leichte Seitenlage, weshalb man schon das überschwappende Wasser aus den Pools abgelassen hätte und man sich in den Treppenhäusern festhalten solle.
Gegen Mittag wolle man versuchen, in den Hafen einzulaufen und sowohl der "Shore Operation Manager" als auch der Clubdirektor wären schon ganz heftig im Stress, um alle geplanten Landausflüge trotz der Verspätung noch durchführen zu können.
Offensichtlich können auch die ausgefahrenen Stabilisatoren, die wir bereits bei der Norröna während heftiger Wetterlagen bei Islandreisen kennengelernt hatten, bei derartigen Situationen keine Wunder vollbringen und reichen nicht aus, derartige Effekte vollständig zu kompensieren.
Das Wetter ist eigentlich noch relativ gut, jedoch reicht der Wind aus der falschen Richtung schon aus: Wir werden erinnert an unsere Diskussionen mit Bill Lee über die Eigenschaften von Kreuzfahrtschiffen, aber in wenigen Wochen wird er uns auch ein Bild der SS United States schicken, auf dem diese mit mehreren Schleppern an ihren Liegeplatz gedrückt wird - ein offensichtlich altes Problem ...
Auch Kapitän Cramer hat zwei Schlepper im Hafen von Livorno herbeigerufen, als wir schließlich die enge Einfahrt passieren. Die lässt erahnen, warum man äußerste Vorsicht walten lassen sollte, wenn man mit Schiffen dieser Größenordnung bei ungünstigem Wind hier einläuft: "Besser haben und nicht brauchen" wird er später erklären, als die AIDAmar dann doch noch mit eigener Kraft manövriert und jeweils ein Schlepper am Bug und einer am Heck nur zur Sicherheit bereit steht. Mehr als die "Leine halten" muss einer der beiden dabei angabegemäß nicht ...
Einige Wochen nach unserer Rückkehr werden wir erfahren, dass derartige Vorfälle naturgemäß selbst im Mittelmeer zu dieser Jahreszeit jederzeit eine Kreuzfahrt in ihrem geplanten Ablauf durcheinander bringen können: Am 01.12.13 wird die AIDAmar nicht wie geplant am Abend in Civitavecchia auslaufen können, sondern muss noch einen ganzen Tag länger hier zubringen, da durch das Mittelmeer Starkwinde mit 9-10 Windstärken peitschen, die in Böen auch höher liegen. Kapitän Cramer wird dann entscheiden, einen Seetag ausfallen zu lassen und dafür mit "Vollgas" von Livorno nach Marseille zu fahren, womit das geplante Programm wieder eingeholt werden kann. Derartige "Zwischenfälle" sind natürlich schlecht für die Kreuzfahrtbranche, da den Gästen dabei nicht nur üble Schaukelei bei Windstärken von 10 und mehr zugemutet werden muss, sondern auch sämtliche Hafenbesuche und geplante Landausflüge durcheinanderkommen können.
Wir dagegen haben wirklich Glück: Zwar werden wir erst gegen Mittag zu unserem gebuchten und hoffentlich gemütlichen Ausflug "Pisa per Boot & Bimmelbahn" starten, aber er soll dennoch planmäßig abgewickelt werden können, da er nur für viereinhalb Stunden angesetzt ist. Somit haben wir noch Zeit genug, von unserem Kabinenbalkon aus das Hafengelände von Livorno zu betrachten. Dessen Begehung ist behördlich nicht gestattet, weshalb ein Transfer vom Schiff ins Stadtzentrum nur kostenpflichtig per Bus möglich ist.
Die Fähre nach Korsika fällt uns natürlich besonders ins Auge, aber auch ein ein Frachter oder Tanker, der gegenüber von uns liegt, den martialischen Namen "Keros Warrior" trägt und den man sich unschwer als echten "Kerosin Krieger" vorstellen könnte. Wenn man den aber so nennt, wie könnte man dann andere erst nennen? Vorschläge wie "Flachbox Warrior" für ein Containerschiff liegen nahe oder auch "Riesensaftschubse" für ein Kreuzfahrtschiff wie unseres. Auch ein Flugzeugträger wäre dann vielleicht schnell ein "Sportflughafen" oder ein Zerstörer gar ein "Knallbonbon" ...
Wir beenden das Schiffsbezeichnungsraten und machen uns auf den Weg zur AIDA Bar auf Deck 10, dem heutigen Treffpunkt für unseren Ausflug. Es ist gut kein Kind dabei zu haben: Laut unserem Bord TV können für diesen Landausflug keine Tickets für Kinder gebucht werden, allerdings kostet es trotzdem 34,50 EUR pro Kind - eine ähnliche Angabe hatte uns schon am Vortag in Civitavecchio verwirrt, wo dasselbe für unseren Rom-Ausflug galt. Wieder die IT, die hier spinnt ..?
Wir besteigen unseren Bus, der diesmal die Nummer 16 hat und sind schon bald am Abfahrtspunkt der "Bimmelbahn" - sowas muss man wohl auch mal erlebt haben!
Nun, es scheint sich hier um ein bewährtes Geschäftsmodell zu handeln, der Fahrer der Bahn warnt uns vor harten Stößen in den ungefederten Wagen und schon geht es los: Es muss wohl ziemlich albern wirken, wie sich unser Bähnle, überholt von normalen Kfz, langsam Richtung Endstation unweit der Piazza dei Miracoli in Pisa bewegt, dem Standort des weltberühmten "Schiefen Turms". "Normale" Fahrzeuge dürfen hier nicht parken, was schon für die Nutzung des Aussichtsbähnchens spricht.
Vom Lokal aus, vor dem das Bähnchen parkt, kann man gemeinsam mit Hunderten anderer Touris vorbei an hartnäckigsten Straßenverkäufern Richtung Piazza spazieren, was allerdings unter den herrschenden Bedingungen nicht den geringsten Spaß macht: Erstens ist es zu voll hier wie vermutlich immer und zweitens hat es mittlerweile angefangen, heftig zu regnen.
Das hält aber unendlich viele Touris natürlich nicht davon ab, in komischsten Posen vor dem Schiefen Turm zu posieren, während man sich so fotografieren lässt, als wolle man den Turm abstützen - von diesen Schnappschüsschen muss es mittlerweile Millionen geben, wenn man die heutige Zahl grob hochrechnet.
Für irgendwelche Besichtigungen sind sowohl Wetter als auch Rückkehrzeit zum Bähnle nicht geeignet, und so sitzen wir bereits schon bald wieder auf unseren harten Bänken, während das Bähnle - diesmal mit vollständig beschlagenen Scheiben - durch Pisa Richtung Bootsanlegestelle rumpelt. Zum Glück erbarmt sich ab und zu einer der am Fenster sitzenden dazu, über die Scheiben zu wischen, ansonsten hätte man wohl von den recht interessanten Gebäuden am Wegesrand schlichtweg überhaupt nichts zu sehen bekommen ...
Wir erreichen die Anlegestelle unseres Bootes in Pisa und ahnen noch nicht, dass wir heute in einen Aufmarsch kommunalpolitischer Größen geraten, die unsere Tour für ein wichtiges Vorhaben des Ortes ausschlachten möchten. Noch sind wir im Glauben, wir würden wie angekündigt eine Bootstour auf dem Arno unternehmen, dem Fluss, der durch Pisa fließt und etliche Kilometer weiter ins Mittelmeer mündet.
Unsere lokale Reisebetreuerin informiert uns jedoch schon bald, dass zwar die letzte AIDA-Tour vor einer Woche dort noch unterwegs gewesen wäre, wir aber nun nicht mehr: Die Fahrt auf dem Arno wäre wegen der Hochwassersituation und der Strömung nur bis Oktober erlaubt, nun im November müssten wir mit dem Arno Kanal vorlieb nehmen ...
Und damit sind wir mitten im politischen Geschehen: Bei dem besagten Kanal handelt es sich tatsächlich um den Navicelli Kanal, der bereits im 16. Jahrhundert erbaut wurde, um Pisa mit dem Hafen von Livorno zu verbinden. Wie unser Bild links zeigt, fehlt in Pisa derzeit eine letzte Anbindung des Kanals an den Fluss Arno. Und um die Schließung dieser Lücke durch die Wiedereröffnung des Kanals Incile geht es hier und heute.
Wenn der wieder schiffbar wäre, könnte man quasi eine Rundfahrt machen: Von Pisa nach Livorno über die Kanäle Incile und Navicelli, von dort aus ins Meer und über die Flussmündung des Arno wieder bis Pisa. Für alle möglichen kommerziellen Interessen wie z.B. die der Werften für Luxusjachten und auch für die privaten Jachtbesitzer, die es trotz Krise offenbar in Italien noch immer zuhauf gibt, also eine hochinteressante Angelegenheit, die Wiedereröffnung des Kanals Incile. Doch die muss natürlich finanziert werden und das ist wohl auch ein wichtiges Thema derzeit ...
Da kommt so eine AIDA-Tour gerade recht: Wie unsere lokale Reiseführerin meint, würde hier wohl alles bestens zusammenspielen. Die Verschiebung der AIDA-Route von Ägypten hier in die Toskana und nun auch noch die Bootsfahrt unserer Gruppe auf dem Kanal, die die Bedeutung des ganzen Vorhabens unterstreicht.
Wundert man sich dann noch, dass heute trotz des miesen Wetters kommunalpolitische Größen hier sind samt Presse, Kamerateam und sonstigen netten Begleitern mit dunklen Sonnenbrillen, die unsere wichtige Fahrt begleiten möchten? Selbstverständlich soll deshalb auch bei Il Tirreno ein Bericht über unsere Fahrt erscheinen ... (Anm. der Red., Dez. ´13: Diesen Bericht finden wir derzeit nicht, dafür aber aktuelle Artikel über den Skandal, dass seit kurz nach unserem Besuch aus dem abgeschalteten Forschungsreaktor CISAM kontaminiertes Kühlwasser in den Kanal Navicelli geleitet wird).
Kein Regen kann also die große Bedeutung unseres heutigen Ausflugs nur im geringsten mindern und so werden wir an Bord auch bestens versorgt: Wir tunken in den gereichten klassischen toskanischen Dessertwein Vin Santo, den "Heiligen Wein", die ebenfalls gereichten Cantuccini ein, das traditionelle Mandelgebäck. Dazu genießen wir die Regenschwaden, die über die einzigen noch verfügbaren Sitzplätze auf dem offenen Achterdeck hinweg ziehen - gut, dass man heute (ausnahmsweise) mal die schwere Explorer Regenausrüstung mitgenommen hat!
Wir erreichen schließlich unsere Anlegestelle, wo der Bus schon wartet und auch die Kommunalpolitiker ziehen wieder von dannen. Nach kurzer Fahrt bis zum Hafen von Livorno stehen wir wieder vor unserem lächelnden Zuhause - die AIDAmar auch heute wie immer ein trockener, gemütlicher Platz, der Schutz bietet vor den Widrigkeiten der Umwelt ...
Den abendlichen Vortrag von Lektor Georg Hahn über unser nächstes Ziel Marseille werden wir ebenso wieder verpassen wie die Ausflugspräsentationen zu diesem Reiseziel, offenbar ist das Abendessen doch attraktiver. Auch die Whiskyverkostung in der Schiffsvinothek lassen wir aus, dafür gibt es heute Abend schon mal den ersten Teil des Reisefilms "Unvergessliche Momente" im Theatrium zu sehen, der insoweit individualisiert ist, als dass sich manche Gäste an Bord bei dieser Tour speziell filmen lassen bei diversen Ereignissen und Bordveranstaltungen. Deshalb wird jeder Gast an Bord recht unverblümt und wiederholt an diesen Film erinnert, den man unbedingt auch am Ende der Reise erwerben soll - es wundert nicht weiter, dass bei ebay heutzutage Unmengen dieser Filme angeboten werden ...
"Alle an Bord" ist für 19:30 Uhr angesetzt, nach 20:00 Uhr wird wieder das "Sail Away" über alle Decks der AIDAmar schallen, wenn wir unsere nächste Reisetappe starten - die rund 470 Kilometer nach Marseille, die erneut während eines geruhsamen Seetags zurückgelegt werden sollen ...
© 2014 J. de Haas