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Ukraine   Ukraine 2005

Rückblick: Eine Reise nach Odessa ...


Die Ferne lockt ...

Abfahrt Riga, schöner alter russischer Zug, eigenes Abteil mit Bett: Reisen wie vor 50 Jahren, langsam aber gemütlich, Mineralwasser im Preis inbegriffen.

Aus dem Zugfenster heraus der erste Eindruck von Weißrussland: Geschwungene Landschaft mit zarten Hügeln, niedliche Ortschaften, kleine Bäche, ein schönes altes Bahnhofsgebäude, keine Industrieruinen am Wegesrand - eine Modellbahnlandschaft.

Zugfahrt nach Odessa (1) Zugfahrt nach Odessa (2)

Zum ersten Mal eine Reise, bei der die Ferne lockt und die Rückkehr nicht schreckt ...

Ein langer Tag in Minsk, die Resonanz schwankt zwischen Unverständnis, Ignoranz und hilfloser Freundlichkeit, teils aber auch konzentriertem Sachinteresse. Auch ohne Sprache alles "Wichtige" gefunden und erledigt. Es geht den Leuten eigentlich nicht schlecht in Minsk. Auch hier die "Globalisierung" trotz Diktatur, denn die Diktatur des Kapitalismus ist stärker als die des Proletariats. So also McDonald´s, Adidas, Boutiquen und Bonaqua an jeder Ecke. Auch hier nicht mehr viel übrig vom sogenannten Kommunismus, eher Kapital-Kannibalismus. Einziges Relikt: Die Lukaschenko Bilder in den Buchhandlungen, schön präsentiert zum Kauf ...

Grenzstopp hinter Gomel: Ein Zug voll Totenstille. Fünfzig Leute im Wagon und kein Geräusch, der Herbstwind weht sanft und kühl durchs Fenster - weiter nichts. Ein Bier und die Zeit bleibt stehen: Wohlan, dass der Kreis seinen Schwung nicht verliert ...

Minsk (1) Minsk (2) Minsk (3)

Nun also die Ukraine: Kiew, schön groß und unübersichtlich, ich brauche eine halbe Stunde um mich zu konzentrieren, dann in die Stadt, alles im Bau. Ein schönes "türkisches" Frühstück, dann die Hügel hinauf und hinunter. Antiquariate mit Phantasiepreisen, ich sollte versuchen, meine Bücher in der Ukraine zu verkaufen, ich wäre der Billigheimer! Zurück zum Bahnhof mittags, um ein Ticket nach Odessa für den Nachtzug zu kaufen, nichts! Kein Ticket für die gesamte Küste mehr zu haben, es ist Freitag, Autobus auch alles ausverkauft, also sitze ich in Kiew fest ...

Ein Tipp: Privatbus nach Odessa, vom Autobusbahnhof auf der anderen Seite der Stadt. Also würde das heißen, mit dem Bus eine knappe Stunde durch Stau und Hitze, das Gepäck bliebe erst einmal am Bahnhof. Und dort wollen sie mir nun ein Ticket für 100 Dollar mit dem Bus nach Odessa verkaufen, nein danke!

Aber schließlich gibt es doch für 100 Griwna ein Ticket, allerdings muss das Gepäck schnell her, also nochmal 100 Griwna für ein Taxi zum Bahnhof und zurück. Später dann ein Fünfstunden-Rodeo in einem Minibus ohne Fenster zum Öffnen in stickigster Hitze nach Odessa ...

Odessa (1) Odessa (2) Odessa (3): Hotelpassage ...
Odessa (4) Odessa (5) Odessa (6)
Odessa Markt (1) Odessa Markt (2) Odessa Markt (3) Odessa Markt (4)

Trotz Tipp von Jemandem und Begleitung durch ihn, die Hotels sind belegt. Nur noch eine teurere Variante ist frei mit Swimmingpool und Frühstück.
Dann: Per Zufall eine alte Passage gefunden, die auch ein nicht renoviertes Hotel zu kleinen Preisen betreibt. Kurios, das Fenster öffnet sich zum Innenhof. Der Weg zum Meer erweist sich als Enttäuschung, Odessa ist nur in meinem Traum interessant ...

Hier in der Ukraine herrscht wirklich nur die Anarchie des Reichtums, offen, blank, ohne Maske. Die sogenannte Orange Revolution war nichts anderes als Kannibal-Kapitalismus ..!

Odessa, der Gipfel der Dekadenz ..?

Die Medaille hat drei Seiten: Reich, Arm, und am Rand tanzen die ewigen Träumer, sie machen den Moment zum Kreis. Kein Vorwärts, kein Zurück, jetzt werden wir angeln, vergessen den Köder und das Netz.

Odessa: Am Strand ...Die alte Frau in Rotkreuzschwester-Uniform mit starrem Blick auf der berühmten Treppe von Odessa zum Meer, der Potemkinschen Treppe. Ein Symbol des Untergangs einer Illusion? Am Zipfel von Odessa, ein alter Park, ausgetretene Spuren neben dem Zaun zum Hafengelände, daneben ein Plastiksitz auf einer Holzpritsche, er schaukelt im Wind. Ein Gitterkorb daneben, leer ...

Wer mag hier den Sommer wie verbracht haben, der kalte Herbstwind nimmt zu, das Lager wird wohl leer bleiben. Die Büsche rauschen und Hafenlichter glitzern, Schiffe wummern dumpf, die Zeit allein birgt keinen Sinn.

Über die flüchtigen Randerscheinungen des Lebens nachdenken, sie dienen nicht dem Verständnis, sie führen zur Verwirrung. Ein Zwang ist jeder Weg, der durch die Zeit begrenzt sein Ende findet. Das Ziel mag man suchen. "Wohin?" fragt man seit Anbeginn des Denkens. Doch eigentlich möchte man keine endgültige Antwort. Man möchte etwas suchen, was als Ansporn nie verlorengeht, eine Illusion. Zufriedenheit sucht den Schein in seiner Dauer, wenn da nicht der Tod wäre. So flieht man von der Dauer zum Moment, wenn der mal nur Vergessen bringt ...


© 2023 Michael Gallmeister, Lett-landweit


Anm. der Red.: Beiträge im Explorer Magazin von Michael finden sich in unserer Autorenübersicht!


BeeGees: Odessa ...Nachtrag, Februar ´24: Erinnerungen ...

Wir erhielten eine Nachricht von Michael, der nicht nur seine Wahlheimat im Baltikum hat, sondern - wie wir spätestens seit seinem Bericht über die Reise nach "Neu"- und "Alt"russland wissen sollten -, auch schon seit vielen Jahren ein besonderes Interesse an Osteuropa zeigt. Und in diesem Zusammenhang ist ihm gerade eine ganz spezielle Erinnerung gekommen, und zwar an einen "historischen" Song von den BeeGees aus dem Jahr 1969, zu dem es auch das folgende YouTube-Video gibt:

Und dazu schrieb er uns, was es mit diesem Song auf sich hat - und diesen Hintergrund dazu bringen wir natürlich sehr gerne:

Jetzt habe ich nach langer Zeit gefunden, was mich als 15- oder 16jähriger beeinflusst hat, einen Blick nach Russland und Osteuropa zu werfen. Es war später Abend in Hillesheim und ich hörte im Bett kurz vor dem Einschlafen im Radio den obigen Song.

Und damit war wieder ein Puzzlestein eingepasst in dem "Warum ich so bin wie ich bin" - Determinismus oder Auswahl durch Ahnung? Psychologisch interessant, dass dieser Song rudimentär immer in meinem Kopf blieb, und was er verursacht hat, mein Interesse an Osteuropa ...

Habe schon Jahre nach dem Song im Internet gesucht - heute gefunden!